
Bin ich als Mann privilegiert, weil ich keine Kinder bekomme?
«Privileg» ist zum moralischen Kampfbegriff geworden. Dabei geht vergessen, dass Erfolg nicht per se ungerecht, sondern oft das Resultat von Entbehrungen und Mut ist.
Kürzlich war ich an einer Podiumsdiskussion zur Frage, ob junge Frauen zunehmend nach links und junge Männer eher nach rechts tendierten. Unter den Teilnehmern waren zwei junge, feministische Frauen.
Der Austausch war fair. Doch fiel ein Wort immer wieder: Privileg. Immer wieder hiess es: «Männer sind privilegiert.» «Ihr habt es leichter.» Irgendwann fragte ich die jungen linken Feministinnen – ehrlich interessiert: «Wo genau bin ich als 55-jähriger Mann in der Schweiz privilegierter als Sie?» Nach längerem Zögern kam die Antwort: «Sie müssen keine Kinder kriegen.»
Diese Antwort hat mich beschäftigt. Nicht weil sie falsch war, sondern weil sie tief blicken liess. Denn was sagt das über unser heutiges Denken aus, wenn man Mutterschaft – das Wunder des Lebens – als Nachteil empfindet? Seit wann ist es ein Privileg, nicht Leben zu schenken? Ich glaube, hier offenbart sich ein Denkfehler – genährt von einem Zeitgeist, der den Begriff «Privileg» moralisch aufgeladen und ideologisch vereinnahmt hat.
Der Begriff «Privileg» stammt vom lateinischen privilegium – ein «Gesetz für den Einzelnen». Ein Ausnahmevorteil. Im Mittelalter etwa war es ein rechtlicher Sonderstatus, der wenigen vorbehalten war. Heute jedoch wird das Wort in der linken Rhetorik zum Kampfbegriff. Wer erfolgreich, reich, zufrieden ist (oder nur schon zufrieden wirkt), wird pauschal als «privilegiert» abgestempelt. Erfolg gleich Privileg. Privileg gleich ungerecht. Damit wird im Subtext gesagt: Erfolg ist unverdient – oder zumindest moralisch fragwürdig.
Hart erarbeiteter Glanz
Was dabei übersehen wird: Viele vermeintliche Privilegien sind nicht geschenkt. Sie sind das Resultat von Disziplin, von Verzicht, von Mut. Ich habe es in meiner eigenen Familie erlebt: bei meinem Sohn als jungem Sportler, bei meiner Frau als Unternehmerin. Zwei Lebenswege, die nach aussen privilegiert erscheinen mögen – aber geprägt sind von Entbehrung, Disziplin und schlaflosen Nächten.
«Wer erfolgreich, reich, zufrieden ist (oder nur schon zufrieden wirkt), wird pauschal als ‹privilegiert› abgestempelt.»
Wer mit Anfang 20 mehr verdient als der Altersdurchschnitt und dafür auch noch Sport betreiben darf, wird schnell als privilegiert angesehen. Aber wer sieht die unzähligen Trainingsstunden der letzten 15 Jahre? Die anstrengenden Wochenenden, an denen andere feiern gingen? Die Verletzungen, den Leistungsdruck, die Angst vor dem Scheitern?
Wer ein Unternehmen gründet, trägt Verantwortung. Oft zahlt er oder sie sich selbst monatelang keinen Lohn aus. Muss Mitarbeitende entlassen, wenn es eng wird. Trägt Sorgen, die niemand sieht. Was nach aussen glänzt, ist oft hart erarbeitet – und nicht selten mit Einsamkeit, Entbehrungen und Investitionen verbunden.
Das grösste Privileg
Das heisst nicht, dass es keine echten strukturellen Ungleichheiten gibt. Natürlich gibt es sie, und man muss sie benennen. Aber nicht jeder Vorteil ist ungerecht. Nicht jede Ungleichheit ist Diskriminierung. Und nicht jede Stärke ist ein unverdienter Bonus.
Der Philosoph Epiktet schrieb einst: «Nicht die Dinge selbst beunruhigen den Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge.» Vielleicht sollten wir das Wort «Privileg» wieder etwas genauer betrachten – und aufhören, es als moralische Keule zu benutzen.
Denn das grösste Privileg, das wir alle teilen, ist nicht Besitz, Macht oder Schönheit. Es ist die Freiheit, etwas aus unserem Leben zu machen. Wer dieses Privileg erkennt – und nutzt –, ist nicht zu beneiden, sondern zu bewundern.