(5) Wir waren reich
Schön wär’s, wenn die Renditen ins Unermessliche stiegen. Tun sie aber nicht. Und der Mensch bleibt ein eigenartiges Wesen: so gross sein Vertrauen war, so gross ist nun sein Misstrauen. Er ändert sich nicht. Und die Geschichte wiederholt sich.
«Quando tutto va male» – «Wenn alles schiefläuft» dies ist der Titel eines Romans des verstorbenen Tessiner Schriftstellers Guido Calgari, der von den Nöten und Mühen der Menschen in seinem Heimattal, der Leventina, handelt. Die Wendung kam mir bei der Zeitungslektüre in den letzten Monaten immer wieder in den Sinn: eine Kaskade von schlechten Neuigkeiten, die zunehmend Schlimmeres verkünden. Was geschieht genau?
Dazu eine kurze Vorbemerkung. Hätte man die Finanzkrise vorausgesehen, so hätte sie nicht stattgefunden. Und könnte man sie jetzt schon abschliessend erklären, wäre sie möglicherweise auch schon überwunden. Aber so einfach geht das nicht. Wir stehen erst am Anfang einer intellektuellen Aufarbeitung der Krise, die im Sommer 2007 begann. Ökonomen und Wirtschaftshistoriker werden sich wohl noch während Jahrzehnten damit beschäftigen müssen.
Der Kern der heutigen Krise besteht – auf einen einfachen Nenner gebracht – in einem allseitigen Vertrauensverlust. Alain Peyrefitte («La société de confiance», 1995), aber auch Francis Fukuyama («Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity», 1995) haben in jüngerer Zeit darauf hingewiesen, welch zentrale Rolle das Vertrauen in der Gesellschaft und in der Wirtschaft spielt. Wenn man die Wirtschaft mit einem menschlichen Körper vergleicht, dann gewährleisten die Finanzinstitute den Blutkreislauf, mit dem das Vertrauen als lebenswichtiger Sauer-stoff zu den Zellen transportiert wird. Anders gesagt: ohne Vertrauen droht unserem System der Erstickungstod.
Wir leben in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften. Der Mechaniker, der mein Auto repariert, versteht mehr davon als ich. Wenn ich ihm mein Auto überlasse, muss ich ihm vertrauen. Täglich finden Hunderte Millionen von Transaktionen statt, weil die Leute darauf vertrauen, dass die Versprechen (auch die Zahlungsversprechen) gehalten werden. Es gibt keine Kreditverleihung ohne das gegenseitige Vertrauen zwischen Kreditinstitut und Kunden. Wäre dem nicht so und horteten alle Menschen ihr Geld unter der Matratze, so würde dies nicht nur die Finanzkreisläufe, sondern die Wirtschaft als Ganzes lahmlegen.
In einer zivilisierten Gesellschaft ist man geneigt, den andern zu vertrauen. Dies gilt freilich nicht immer und auch nicht für immer, sondern stets bis auf weiteres. Vertrauen muss immer wieder neu verdient werden, und Vertrauen muss auch stets gegenseitig kündbar sein. Fehlt dieser Rest an Misstrauen, wird Vertrauen also blind, wächst die Gefahr, dass die Situation ausser Kontrolle gerät. Denn wenn alle allen vertrauen, wird jemand (und noch jemand und noch jemand) irgendwann dieses blinde Vertrauen ausnützen, und noch schlimmer: wo blindes Vertrauen herrscht, stellt niemand mehr kritische Fragen. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis auf eine Phase blinden Vertrauens eine Vertrauenskrise folgt – das ausgeblendete Misstrauen schlägt mit um so grösserer Kraft zurück. Genau das spielt sich gegenwärtig ab.
Wie konnte es dazu kommen? Die Finanzbranche hat in den letzten Jahren versucht, das Kreditvolumen in der Wirtschaft kontinuierlich zu erhöhen. Sie mobilisierte die Ersparnisse der Privaten, indem sie ihnen versprach, sie durch immer neue Strukturen und Instrumente (Derivate) an den Finanzgeschäften teilhaben zu lassen. Auch die öffentliche Hand liess sich nicht zweimal bitten, ihre Gelder in Anlagen zu investieren, die hohe Gewinne verhiessen. Ein weiteres wurde von der Tiefzinspolitik der Zentralbanken (vor allem der amerikanischen Notenbank) bewirkt, die auf der Überzeugung beruhte, man hätte das Gespenst der Inflation für alle Zeiten unter Kontrolle. Wenn man sich ferner vergegenwärtigt, dass auf den internationalen Märkten neue Akteure auftraten, die die kumulierten Ersparnisse der aufstrebenden Länder gewinnbringend anlegen wollten (zum Beispiel China mit 2000 Milliarden Dollar Reserven, oder die Golfstaaten), lässt sich leicht ermessen, dass es auf dem Markt in den letzten Jahren mehr flüssige Mittel und Kredite gab als interessante Investitionsmöglichkeiten. Überbordende Liquidität führt erfahrungsgemäss zu Investitionen, die sich letztlich als blosse Wetten auf steigende Preise entpuppen. Wir alle waren reich – reich bloss auf dem Papier. Dieser Mechanismus wiederholt sich leider wider alle Vernunft und Erfahrung in der Geschichte immer wieder.
Dazu kommt, dass die moderne Informations-technologie zu einer exponentiellen Beschleunigung der Finanztransaktionen beigetragen hat. Computergestützte mathematische Modelle haben die Illusion geschaffen, dieses ganze komplexe Szenario liesse sich berechnen und beherrschen. Man glaubte (oder wollte glauben), es gehe generell um kalkulierbare Risiken. Eigentlich hätten alle Beteiligten und Betroffenen auch diesbezüglich gewarnt sein müssen. Der Long-Term-Capital-Hedgefonds der beiden Ökonomen Myron Samuel Scholes und Robert Merton, die für ihre finanzmathematischen Arbeiten zur Bewertung von Finanzoptionen 1997 den Nobelpreis erhielten, ist ja bekanntlich glorios gescheitert. 1998 wurde er in einer damals unglaublichen Staatsaktion in der Höhe mehrerer Milliarden Dollar gerettet.
Die aktuelle Krise entstand im Umfeld des US-amerikanischen Hypothekargeschäfts, doch hätte sie auch in einem andern Bereich ausbrechen können. Als sich im Zuge der überbordenden Liquidität herausstellte, dass einige Investitionen bloss eine Wette auf steigende Preise waren, begann das Misstrauen um sich zu greifen. Und zwar so lange, bis es zuletzt alle Arten von Geschäften und Investitionen kontaminiert hatte. Die Preise fielen. Wer seine Investitionen zu einem Grossteil über Kredite getätigt hatte, geriet in Zahlungsschwierigkeiten, allen voran die Banken. Die Liquidität wurde plötzlich knapp, es kam zu Notverkäufen von Unternehmern, Investoren, Aktionären und Schuldern. Die Preise purzelten weiter. Die Finanz- und Wirtschaftswelt spielte verrückt. Den Rest der Geschichte kennen wir: der Staat spielte sich als Retter in der Not auf, der versprach, das Vertrauen wiederherzustellen. Die Politiker erkannten die Gelegenheit, sich durch grosszügige Versprechen zu profilieren. Viele Menschen, die viel Geld verloren hatten und wie aus einem bösen Traum erwachten, glaubten ihnen und vergassen darob, dass sich das Vertrauen nicht per Dekret herstellen lässt.
Was ist zu tun? Zunächst müssen wir uns alle auf gewisse Prinzipien zurückbesinnen, die letztlich auf dem gesunden Menschenverstand beruhen.
Erstens: wer einen Kredit beansprucht, steht in einer finanziellen Schuld. Ein zu leichter Kreditzugang nährt die Illusion, bestehende Schulden liessen sich durch immer neue Schulden refinanzieren, da letztere ja durch Güter gedeckt seien, deren Wert ständig steige. In Wahrheit sollte man keine Schulden machen, wenn man nicht gewillt ist, sie innert nützlicher Frist zurückzuzahlen. Woraus umgekehrt folgt: am besten investiert man bloss jenes Geld, das man gespart hat.
Zweitens: Banker sind keine Alchimisten. Es gibt keine Methode, und sei sie mathematisch noch so ausgeklügelt, die es erlaubt, aus Dreck Gold zu machen. Es gibt bloss Instrumente, die so komplex sind, dass sie die menschliche Vernunft überfordern – wobei es ein Gebot ebendieser Vernunft wäre, die Finger von Geschäften zu lassen, die sie nicht versteht.
Drittens: Risiko und Rendite verhalten sich proportional zueinander. Je höher die mögliche Rendite, desto höher ist das faktische Risiko. Diese Relation funktioniert wie ein Naturgesetz und lässt sich durch keine Verstandesakrobatik ausser Kraft setzen.
Viertens: nehmen wir den Menschen, wie er nun einmal ist. Er profitiert, wenn er kann, und er denkt zweimal nach, bevor er handelt, wenn er sich nicht um die Konsequenzen seines Tuns drücken kann. Der Glaube an einen Menschen, der sich durch zusätzliche Gesetzesnormen und Regulierungen zähmen lässt, blendet die Tatsache aus, dass alle wirtschaftlichen Akteure – und das gilt nicht nur im Finanzbereich – sehr findig sind, wenn es um das Aufspüren von Gesetzeslücken und Ausweichmöglichkeiten geht.
Die Bankenbranche ist der wohl am meisten regulierte Sektor unserer Wirtschaft. Weitere Regeln fördern nur ebenjene Kultur des Lavierens und des Delegierens von Verantwortung, die massgeblich zur Krise beigetragen hat. Es braucht nicht noch mehr Regulierung, sondern einen institutionellen Rahmen, der dafür Gewähr bietet, dass die Menschen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu tragen und damit die Chance haben, immer wieder ihre eigenen Lehren zu ziehen.
Aus der aktuellen Krise sollten folgende konkreten Lehren gezogen werden. Zunächst in der Wirtschaft. Um die Aufblähung des Marktes durch zuviel liquide Mittel künftig zu verhindern, muss vor allem das Verhältnis zwischen Eigenmitteln und Bilanzsumme (Verpflichtungen) der grossen Banken angepasst werden. Das bedeutet mehr Eigenkapital der Banken, also weniger Gewinn für die Aktionäre. Es bedeutet weniger Kreditvergabe, also weniger Mittel für Hedge-Fonds und Private-Equity-Gesellschaften, die in nächster Zeit zweifellos einen radikalen Bereinigungsprozess durchzustehen haben. Das bedeutet aber auch weniger Mittel für die Industrie- und Geschäftstätigkeiten und weniger Mittel für die privaten Haushalte. Dies wiederum heisst, dass die Firmen weniger investieren und dass insgesamt weniger konsumiert wird. All dies mündet in eine Rezession, die wohl länger dauern wird, als vielen lieb ist. Sie lässt sich jedoch nicht vermeiden, auch nicht durch staatliche Interventionen. Was verlorengegangen ist, muss neu erwirtschaftet werden – anders geht es nicht.
Für den Staat führt dies zu folgenden politischen Konsequenzen. Die Illusionen des Staatsinterventionismus feiern ein grosses Comeback. Der Glaube an die staatliche Allmacht ersetzt zur Zeit den in der Finanzbranche bis vor kurzem vorherrschenden Glauben an eine vollständige Kontrolle durch mathematische Modelle. Zunächst griffen die Staaten den Banken unter die Arme, um einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern. Mittlerweile haben sie begonnen, sich in die Geschäfte der Banken einzumischen oder die Banken zu verstaatlichen. Damit einher geht die Versuchung, durch Kreditvergabe einzelne Industrien zu stützen. Umgekehrt versuchen einzelne Industrien um jeden Preis, in den Genuss staatlicher Unterstützung zu kommen. Der Wettbewerb um Staatsbeihilfen ist voll im Gange, ein neues korporatistisches Wirtschaftssystem zeichnet sich ab.
Die freie Marktwirtschaft hingegen gerät weiter unter Beschuss; es gehört heute selbst unter bürgerlichen Politikern zum guten Ton, den Markt zu verteufeln. Darüber hinaus haben sich die Staaten mit Beträgen in unglaublichen, für die menschliche Vernunft kaum mehr fassbaren Höhen verschuldet. Die Politiker, die gegenwärtig das Sagen haben, nehmen es gelassen. Die Folgen der Verschuldung wie auch des Korporatismus werden von künftigen Generationen zu tragen sein.
Besonders interessant sind die geopolitischen Konsequenzen. Der Schwerpunkt einer multipolaren Welt, die auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht ist, verschiebt sich in Richtung Asien; aber auch Investoren aus dem Mittleren Osten engagieren sich vermehrt im Westen. Wir werden mit Gesellschaften konfrontiert, die sich durch hohe Geburtenraten und eine durchschnittlich jüngere, fleissigere, bildungs- und sparwilligere Bevölkerung auszeichnen. Der Westen, der in den letzten Jahrhunderten den Ton angegeben hat, kann seine beherrschende Posi-tion nur behaupten, wenn er auf die eigene Kompetenz und Innovationskraft setzt. Leider hat jedoch die Krise unsere Grundlagen erschüttert und unsere Glaubwürdigkeit vermindert. Sie hat uns gezwungen, in Asien und im Mittleren Osten aus einer Position der Unterlegenheit heraus um Geld zu bitten. Dazu nur ein Beispiel: die Vereinigten Arabischen Emirate und Singapur verfolgen zwar keine Expansionsziele, doch verfügen sie durch ihr finanzielles Engagement im Westen über eine Autorität, die immer offensichtlicher wird. Es wird sich zeigen, wie konstruktiv wir damit umgehen können.
Wir tun gut daran, jene Machtverschiebung zu beobachten, die der britische Historiker Arnold J. Toynbee (1889–1975) schon vor mehr als einem halben Jahrhundert meisterhaft analysiert hat. Toynbee versuchte zu erklären, warum sich im Lauf der Geschichte einzelne Kulturen gegenüber andern durchsetzen. Sein Schluss: das Unterscheidungsmerkmal liegt nicht in irgendwelchen abstrakten Ideen oder Gesetzmässigkeiten, sondern im Willen zum Sieg (und der Bereitschaft der Menschen, für den Sieg alles zu geben). Toynbees These wird heute von vielen Sozialwissenschaftern verworfen: sie sei unseres hohen Entwicklungsstands und unseres überlegenen Wohlstandsniveaus nicht würdig. Ich sehe dies anders. Wer so vom hohen Ross herab argumentiert, trägt dazu bei, dass unser Vorsprung noch schneller schwindet.