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(4) Natürlich unnatürlich

Häufig unterstellt, doch selten definiert. Eine Frage des Gefühls, der Gewohnheit, der Mode oder der Ideologie. Manche leben es, von den meisten wird es hingegen nur empfunden. Was ist das Natürliche?

Reisende, die am Gate E in Zürich-Kloten ankommen, sehen sich angenehm genötigt, in die – man vermutet – Elektromagnetschnellbahn, auch Shuttle genannt, einzusteigen, um in den Hauptbereich des Flughafens zu gelangen. Bevor man zu diesem stets pünktlichen Hochgeschwindigkeitswunderwerk kommt, begrüsst einen bereits ein verheissungsvolles, mit alpenländischen Emblemen versehenes Plakat von «(my) switzerland.com», ergänzt durch den mindestens ebenso wesentlichen Zusatz «get natural». Im Shuttle vollzieht sich dann diese Natürlichkeit, genauer gesagt: sie intoniert und verbildlicht sich. Der sich verwundert umblickende Reisende hört nämlich schon bald auf dem rasanten Weg zum Flughafenmittelpunkt Kuhglocken, leises Gemuhe, ein Alphornensemble, und dazu flimmern gespenster-, um nicht zu sagen: menetekelhaft auf der einen Seite des Tunnels Alpenszenen auf. Auf so viel Natürlichkeit, diesem erstrebenswertesten Gut in der postindustriellen Gesellschaft, war der Reisende selbstverständlich, um nicht zu sagen natürlich, nicht eingestellt. Am Ende dieses beschleunigten Transfers kann er von sich sagen: Gosh, I really got natural.

So ist das mit dem Natürlichen heutzutage, es lauert an den unwahrscheinlichsten Ecken, überfällt einen werbewirksam, verbündet sich vor aller Augen mit einem ganzen Land. Natürlicher nie als im Klotener Shuttle.

Von Ilse Aichinger stammt der Satz: «Dass die Natur das Natürliche sei, ist grausam.» Verstörend ist inzwischen auch, was alles zum Natürlichen erklärt und wie es vermarktet wird. Der Natur zunehmend entfremdet, postulieren wir das Natürliche wie es uns die Werbeträger der Medien vormachen. Das Natürliche versteht sich nicht selten als Extrem; Freikörperkulturisten halten sich für radikal natürlich, Vegetarier ohnehin, Leistungsverweigerer, Aussteiger auch, die inzwischen verblühten Blumenkinder aus der Hippiezeit nicht minder. Dergleichen Phänomene treten geradezu zyklisch in Erscheinung: der Naturalismus in der Literatur sowie der von Nietzsche inspirierte Vitalismus als soziokulturelle Befindlichkeit, mit dem Monte Verità als Gipfelpunkt, dominierte die Natürlichkeitsszene um 1900. Auch die literarische Entdeckung der Alpen durch Albrecht von Haller und ihm folgende ganze Dichtergenerationen bis tief in die Romantik hatte das Natürliche bereits auf ihrer Seite, von den geistigen Kindern Rousseaus zu schweigen. Dass der Blut-und-Boden-Wahn sich letztlich auch einer antizivilisatorisch gemeinten Natürlichkeitsideologie verdankte, steht leider gleichfalls ausser Frage. Zuviel Natürlichkeit ist mithin ungesund.

In Diskussionen sieht sich das Natürliche dogmatisch behauptet, wenngleich kaum noch definiert. Allenfalls auf diese minimalistische Begriffsbestimmung scheint man sich einigen zu können: das Natürliche ist das Nicht-Virtuelle. Und es ist ein Sprachfall; unterscheiden doch die Sprachphilosophie und -wissenschaft traditionell zwischen natürlichen, also natürlich gewachsenen Sprachen und künstlichen Fachsprachen. Zudem stellt das Natürliche auch die Glaubensfrage; unter «natürlicher Religion» versteht man ein anthropologisch begründbares, von allen Ritualisierungen freies religiöses Grundgefühl, einen Sinn für das Heilige, aber auch die Bereitschaft, Natur zu sakralisieren. Gegenaufklärer wie Johann Georg Hamann verwiesen am Ende des 18. Jahrhunderts darauf, dass mit dieser Art Religiosität weder das Seelenheil noch die Erlösung erlangt werden könne.

Dass wir uns dem Natürlichen mehr denn je entfremdet haben, wer wollte dies bestreiten. Und dass wir uns verkünsteln, um natürlich zu wirken, steht gleichfalls seit langem ausser Frage. Wir essen, sofern wir es uns leisten können, mit Vorliebe biologisch-organisch und kultivieren, wo immer möglich, ein Biotop. Wir setzen auf die Heilkräfte der Natur und verabscheuen pharmazeutische Produkte, da sie «nach Chemie riechen». In einem grundlegenden Aufsatz über die «Natürlichkeit der Chemie» hat Hubert Markl den Widersinn dieser Terminologien und Verhaltensmuster aufgezeigt (1991) und berechtigterweise gefragt, ob es nicht vielmehr darauf ankomme, ein informierteres Verständnis über die «chemischen Grundlagen unseres Daseins» zu entwickeln, wobei er erachtete: «Es lässt sich keine Grenzlinie zwischen rein chemischer und rein biologischer Forschung und Produktion ziehen», wobei er darauf hinwies, dass auch die Unterscheidung von organisch und anorganisch so längs nicht mehr greife. Leben ohne chemische Reaktionen, daran erinnerte er nachdrücklich, sei schlicht nicht möglich, was übrigens auch für die Kunst gelte: «Was wären Kunst und Schönheit, gäbe es nicht die Chemie der Farben?»

An unserem Verhältnis zur Kunst hat sich seit alters auch unsere Beziehung zur Natur und zum Begriff des Natürlichen entschieden. «Die Alten waren so gross im Natürlichen», befand Goethe in seiner «Italienischen Reise» und Schiller, der das «Naive» im wesentlichen mit dem Natürlichen gleichsetzte, hatte in seinem grossen Versuch «Über naive und sentimentalische Dichtung» bereits festgestellt: «Sie [die Alten] empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche.» Was besagt das? Dass die Modernen laut Schiller durchaus noch ein Empfinden für das Natürliche haben, wenngleich sie nicht mehr wie «die Alten» inmitten des Ursprünglichen sind. Durch die Empfindung kann das aufgehoben werden, was man nach Schiller die Entfremdung nennen wird.

Goethe illustrierte dieses Phänomen, indem er seine Beziehung zu den Dichtungen Homers, namentlich seine erneute Lektüre der «Odyssee» in Sizilien, wie folgt charakterisierte: «Selbst die sonderbarsten erlogenen Begebenheiten haben eine Natürlichkeit, die ich nie so gefühlt habe als in der Nähe der beschriebenen Gegenstände.» Auch er kann, mittels der Empfindung, zum Natürlichen durchdringen, wobei er sich aber über die Natur dieses vermeintlich Natürlichen keiner Illusion hingibt.

Das Natürliche, Unverstellte, Authentische schien in der Sturm-und-Drang-Phase des späten 18. Jahrhunderts noch greifbar; zwischen klassischem Kunstanspruch und romantischem Sehnen begann es sich aufzureiben, um im Naturalismus zur kunstideologischen Forderung zu werden und in der Moderne vollends zur Utopie. Sich natürlich geben, das meint in der (darstellenden) Kunst wie im Leben: nicht nur ungezwungen wirken sondern sein. Aber eben das scheint schwieriger denn je. Das Natürliche erscheint mehr und mehr als Ergebnis einer Anstrengung, die auf die Überwindung der Entfremdung von der Natur abzielt. Das Ja zu Empfindungen, Affekten, Instinkten kann Teil eines solchen Überwindungsversuches sein.

Die Definition des Natürlichen hängt von den Zeitumständen und kulturellen Kontexten ab. In der britischen Tradition etwa ist seit der schottischen Aufklärung der common sense weitgehend identisch mit dem, was man für das Natürliche hält. Der Gemeinsinn versteht sich dabei gewissermassen als das vergesellschaftete Natürliche. Wie verhält es sich aber mit diesem natürlichen Gemeinsinn angesichts eines Versuchs in einem Pflanzenlabor in Südlondon, in dem eine Tabakpflanze mit einem in sie gentechnisch eingefügten Algen-Gen gedeiht, dessen DNA die Tabakpflanze dazu bringt, ein für sie selbst nutzloses Protein zu produzieren, welches seinerseits ein gegen HIV einsetzbarer Stoff ist? Wann werden wir dergleichen für «natürlich» halten? Und welches Bewusstsein sähe sich in dieser Akzeptanz von Natürlichkeit gespiegelt?

Die Natur dachte sich der böhmische Jugendstilist Alfons Mucha um 1900 als eine unendlich Schöne, scheinbar schlafend, umwunden von den Strähnen ihres Haares, gekrönt, halb sinnlich, halb übersinnlich wirkend – kurz, seine Darstellung der Natur in Bronze betonte das Unnatürliche an ihr. Damit erwies sich diese metallne Allegorie als wegweisend.

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