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Was die Linken besser machen

Die Polarisierung fordert die Schweizer Politik mit ihrer traditionellen Konsenskultur heraus. Und fördert Wasser auf die Mühlen neuer Online-Bewegungen und geschickter Parteipräsidenten.

 

Wer beeinflusst den Fluss des Wassers? In der Politik ist die Antwort auf diese Frage nicht einfach. Die Schweiz kennt wie die USA «Checks and Balances»: Alle können alle kontrollieren. Die Macht ist so feingliedrig verteilt, dass kaum ein Akteur allein etwas entscheiden kann. Wer etwas bewegen will, benötigt daher ein hohes Mass an politischer Virtuosität.

Seit zehn Jahren ist die Schweiz zunehmend von einer Entwicklung herausgefordert, die viele Demokratien mit verteilter Macht erfasst: dem «polarisierten Pluralismus». Wenn sich die politischen Pole in entgegengesetzte Richtungen entwickeln, werden in strategischen Themen Kompromisse erschwert. Grosse Würfe sind in dieser Konstellation erst recht nicht mehr möglich. Die Suche nach Lösungen muss der Losung folgen: «Je kleiner, desto feiner.» Unser Land bewegt sich weg von der klassischen Konkordanz und hin zu einer relativen Konkordanz – begleitet von viel Konfliktgeheul.

Doch bei aller auch medial inszenierten Zerstrittenheit ist erstaunlich, wie robust der Schweizer Parlamentsbetrieb immer noch ist, sofern die mediale Aufmerksamkeit nicht riesig ist. Dieser Aspekt geht leicht vergessen. Einige wenige Zahlen belegen diese Stabilität. Während den letzten drei Legislaturen, also in den vergangenen zwölf Jahren, verabschiedete das Parlament 455 neue Bundesgesetze. Im gleichen Zeitraum führten 66 von 80 Einigungskonferenzen tatsächlich zu einer Einigung zwischen den beiden Räten. In einer Zeitspanne von 12 Jahren nur 14 gescheiterte Einigungskonferenzen, und das bei gleichzeitig 455 verabschiedeten Bundesgesetzen. Mehr und mehr gelang es aus dem Ständerat heraus, die entscheidenden Weichen zu stellen.

Verbände verlieren an Einfluss

Klar: Das sind wie das Beispiel der vielgerügten STAF-Lösung im Bereich der Unternehmenssteuern und der AHV meist nicht die grossen Würfe, aber sie sichern die Stabilität des Systems, das sich auch in der Krise oft als sehr anpassungsfähig erweist.

Wer kann in dieser Situation noch am besten etwas bewegen? Wer ist fähig, im Bergbach die richtigen Ritzen aufzubrechen und das Wasser auf die richtigen Mühlen zu leiten?

Eine Antwort sind die digitalen Plattformen, die zu einer Erstarkung der Zivilgesellschaft geführt haben. Da steht dem schweizerischen Politikbetrieb noch einiges ins Haus. Die Bündelung von Interessen, die personalisierte Debatte, der direkte Draht zwischen Menschen, die Sammlung von Unterschriften für Petitionen, Initiativen oder Referenden, die Mobilisierung für grosse Demonstrationen, nicht zuletzt auch die schnelle Kreation von Ikonen wie Greta Thunberg: All dies ist im digitalen Zeitalter schneller und günstiger zu erreichen. In die Defensive geraten damit die Mediatoren, die bisher Interessen bündelten und zwischen verschiedenen Stufen vermittelten. Insbesondere verloren in den letzten Jahren mindestens bis zur Coronakrise die Verbände an Einfluss, welche vielfach entscheidende Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren. Verbände sind fundamental herausgefordert. Mit dem Bild des Wassers ­gesprochen: Die Digitalisierung sorgt für Wetterkapriolen und damit auch für Wildwasser. Die eher zähflüssigen Strukturen der Verbände haben mit der geforderten Anpassungsfähigkeit – im digitalen Slang der «Agilität» – nicht mithalten können.

Vom reduzierten Einfluss von Verbänden profitiert haben die Parteizentralen. Sie waren nie schwerfällig, blieben aber wegen der fehlenden finanziellen Mittel meist im Hintergrund. Sie profitieren heute von der ansehnlichen staatlichen Unterstützung der Fraktionen und verfügen mit Crowdfunding oder finanzstarken privaten Netzwerken auch über ansehnliche Mittel aus privater Hand. Und sie lernen als kleine Strukturen schnell: beispielsweise den Umgang mit den digitalen Möglichkeiten. Die SP und die FDP entwickeln sich zurzeit zu Plattformen für digitale Politik und haben die letzten Wahlkämpfe dafür genutzt. Die CVP und die SVP wollen aufholen.

Die Parteizentralen sind heute der Schlüssel für erfolgreiche Leadership. Sie bilden die eigentlichen Schaltzentralen zwischen ihren Bundesräten, der Fraktion, den Medien und der Partei. Sie wirken auch erfolgreich als «Server» sämtlicher digitaler Errungenschaften, von vernetzten Basiskampagnen bis hin zu elektronischen Unterschriftensammlungen und Abstimmungskämpfen. Auch wenn gleich drei Parteien – SVP, SP und Grüne – momentan noch im präsidialen Wechselmodus sind: Dieser Trend wird ­anhalten. Wegen der Personalisierung der Medien und den Möglichkeiten der Rolle selbst sind Parteipräsidenten innerhalb der erstarkten Parteisekretariate im Zentrum der Macht.

«Die SVP nimmt mehr denn je in Kauf,

dass das Wasser im Parlament an ihr vorbeifliesst.»

Die «chambre de réflexion» wird zur «chambre de coalition»

Aus den Parteizentralen ragt ein Präsident heraus: Christian Levrat. Mit Überzeugungskraft, geschickten Kooperationen und einer gehörigen Portion Unverfrorenheit errang der SP-Präsident immer wieder politische Erfolge. Der sichtbarste Erfolg war das Referendum gegen die Steuerreform: Hier zeigte die SP, dass mit ihr nach den rechten Wahlerfolgen 2015 jederzeit zu rechnen ist. Die nachfolgende unelegante Kompromisslösung bei der Steuer- und AHV-Reform verteidigte er intern vehement und unterstrich damit seine Konkordanzfähigkeit. Allerdings schreckt er vor gezielter politischer Unkorrektheit nie zurück. Wer wagt es schon, einen amtierenden Bundesrat als «Praktikanten» abzukanzeln? Es ging bei Levrat immer um Taktik, um verschlungene Wege über den Ständerat, um kühles Rechnen und nicht zuletzt um die In­strumentalisierung der Medien. Macht lebt auch von der zugeschriebenen Macht und deshalb passt sein Wirken im diskreten Ständerat besonders. Die «chambre de réflexion» ist mit der erstarkten Linken im Ständerat in den letzten zwanzig Jahren immer mehr zu einer «chambre de coalition» geworden. Viele Erfolge sind deshalb gar nicht so sichtbar, aber tragen deutlich die Handschrift der SP-Schwergewichte im Ständerat.

Eines schaffte aber selbst Levrat nicht: dass die Linke in der Schweiz die Mehrheit erlangt. Auch seine Amtszeit überdauert die Regel: «Linke sind erfolglos geschlossen.» Sie sind zur Geschlossenheit verdammt, weil alles andere ihre Chancen auf Erfolge massiv reduzieren würde.

Allerdings war die Geschlossenheit bei den jüngsten Wahlen nicht förderlich, denn da machte die SP unter Führung von Levrat einen groben Schnitzer: Bei der Klimabewegung rief man, im Seitenwagen der Grünen, den Wahlsieg vor dem Resultat aus und verschlief die eigene Profilierung im Wahlkampf. Die Rechnung erhielt Levrat am 20. Oktober 2019: Die SP verlor Stimmen an die Grünen. Mehr und mehr wird in der laufenden Legislatur nun sichtbar, was Insidern lange klar war: Hinter der Fassade der Geschlossenheit der Linken gibt es ebenfalls viel Konfliktpotenzial.

Die SVP in «Splendid Isolation»

Umgekehrt bleibt die Regel gültig: «Rechte sind erfolgreich gespalten.» Die SVP will die Geschlossenheit rechts gar nicht. Sie hat sich mit ihrem selbstgewählten Oppositionskurs weitgehend aus der überparteilichen Konsensfindung verabschiedet. Daten zur Parlamentswirkung, die wir im Auftrag der Bank Julius Bär er­hoben haben, zeigen: Der aggressiv-oppositionelle Kurs der SVP im Parlament begann nicht etwa nach der Abwahl von Christoph Blocher 2007, sondern Anfang 2015 – just bevor im Herbst die ­Partei ihren zweiten Sitz zurückerhielt.

Die SVP nimmt mehr denn je in Kauf, dass das Wasser im Parlament an ihr vorbeifliesst: Hauptsache, alle gegen die SVP. Das war in der vergangenen Legislatur die am drittmeisten beobachtete Koalition im Parlament. Sinnbildlich dafür steht der Wahlvertrag der SVP und der Zwang, nur offizielle SVP-Kandidaturen bei der Bundesratswahl zu unterstützen. Diese Märtyrersituation brachte ihr lange Zeit Stimmen. Der Oppositionskurs wurde allerdings nicht mehr goutiert: Laut dem Credit-Suisse-Sorgenbarometer, das im Sommer vor den Wahlen erhoben wurde, wünscht sich die Bevölkerung wieder mehr Lösungen vom Parlament. Die SVP fuhr im Oktober dann auch die grösste Wahlniederlage aller Zeiten ein. Der Frust der Stimmberechtigten erfasste aber alle Regierungsparteien. Die Wähler setzten ein Zeichen für den Wandel.

Trotzdem hatte die Rechte in der 50. Legislatur Erfolge zu verzeichnen, vor allem als gleichzeitig die bürgerliche Allianz im Bundesrat spielte. Das war aber nur während eines Jahres der Fall – 2018, als die Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis die freisinnige Vertretung bildeten. Mit Didier Burkhalter und Schneider-Ammann funktionierte sie nicht, mit Karin Keller-Sutter und Cassis ist der Weg noch unklar. Nach der Wahlniederlage ist die FDP noch stark mit sich selber beschäftigt.

Die eidgenössischen Wahlen 2019 brachten sensationelle Gewinne für die Grünen und die Grünliberalen. Aber für eine Mehrheit zusammen mit der SP reichte es nicht. Das wird über kurz oder lang zu grossem Frust in der Wählerschaft führen. Was grün ist und was noch grüner werden soll, bestimmen trotz grosser Geschlossenheit nicht die Grünen und die SP, sondern die CVP sowie ihre kleinen Mitte-Satelliten BDP und EVP. Und wiederum stellt sich die Frage: Wo fliesst das Wasser hin? Bei der SP und der SVP wird das Präsidium neu bestimmt. Das wird den Lauf des Wassers entscheidend beeinflussen, mehr als die Verarbeitung der Corona- und der Wirtschaftskrise. Ein Ende der Polarisierung und damit der Blockade in strategischen Fragen wünscht sich vielleicht die Bevölkerung; die neuen Präsidenten wohl eher nicht. Sie wollen das Spiel um Macht wie Christian Levrat beherrschen.

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