
Wo Gerechtigkeit draufsteht, ist Machtpolitik drin
Die OECD-Mindeststeuer schwächt die Position kleinerer Staaten. Die Schweiz kann sich den neuen Regeln kaum entziehen – und muss deshalb doppelt so hart arbeiten, um für Firmen attraktiv zu bleiben.
Unter der Leitung von OECD und G20 haben sich letztes Jahr über 130 Staaten auf eine weltweit geltende Minimalsteuer geeinigt – ein historisch einmaliger Schulterschluss. Auch die Schweiz hat zugestimmt, wenngleich zähneknirschend. Der Fahrplan ist eng. Die Schweiz will schon per 1. Januar 2024 umsetzen, womit sie mit einem Grossteil der Staaten mitziehen dürfte. Auch in der EU wird inzwischen nicht mehr mit einer früheren Umsetzung gerechnet.
Gemäss offizieller Erklärung setzen sich OECD und G20 für eine gerechte Verteilung des globalen Steuerkuchens ein. Die Mindeststeuer ist Teil des 2-Säulen-Projekts, mit dem das Base-Erosion-and-Profit-Shifting- (kurz: BEPS-) Gedankengut fortgeführt wird. Doch während das BEPS-Projekt mit der Bekämpfung von künstlichen Gewinnverkürzungen und Gewinnverlagerungen von Unternehmen ein durchaus legitimes Ziel zum Inhalt hatte, schiesst die Mindeststeuer darüber hinaus.
Vorgeschobenes Gerechtigkeitsargument
Begründet wird die jüngste Steuerreform primär mit dem angeblich ruinösen Steuerwettbewerb («race to the bottom»), einer Abwärtsspirale im Bereich der Unternehmensbesteuerung, der Einhalt zu gebieten sei. Zwar trifft es zu, dass sich die Steuertarife auf Firmengewinnen in den OECD-Staaten in den letzten vier Jahrzehnten praktisch halbiert haben. Trotzdem haben sich die Steuereinnahmen in diesen Staaten, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), im gleichen Zeitraum leicht erhöht – und zwar ohne dass der Gewinnsteueranteil gesunken wäre. Wie lässt sich das erklären? Damit, dass es inzwischen mehr und profitablere Firmen als früher gibt und viele Staaten die Steuerbasis verbreitert haben.
Das alles deutet darauf hin, dass das Argument der Steuergerechtigkeit eher vorgeschoben ist. Im Vordergrund dürften handfeste machtpolitische Interessen stehen. In der OECD haben die grossen Staaten das Sagen. Die Mindeststeuer schwächt die Position kleinerer Staaten, die mit tiefen Steuern, aber nicht mit einem grossen Binnenmarkt auftrumpfen können. Für die Schweiz bedeutet dies, dass ein bisher zentraler Standortvorteil nahezu bedeutungslos wird. Da das OECD/G20-Projekt nicht nur die Steuersätze auf 15 Prozent anhebt, sondern auch die Bemessungsgrundlage vorgibt, gibt es kein Entrinnen.
Abseitsstehen ist sinnlos
Man mag sich fragen, weshalb die Schweiz das Unterfangen von OECD und G20 mitträgt und sich nicht einfach widersetzt. Theoretisch wäre dies möglich, denn die Projekte der OECD beruhen auf dem Einstimmigkeitsprinzip. Faktisch ist es aber so, dass die Staaten mittels politischen Drucks und der Androhung von Sanktionen (beispielsweise durch graue und schwarze Listen) zum Mitmachen bewegt werden.
Bei der Mindeststeuer kommt noch etwas anderes hinzu, das es für die Schweiz sinnlos macht, nicht mitzuziehen: die ausgeklügelte Funktionsweise der neuen Regulierung. Die OECD hält die Staaten dazu an, das sogenannte GloBe-Regelwerk einzuführen, das – grob gesagt – sicherstellt, dass in einem Staat unterbesteuertes Substrat eines Konzerns in einem anderen Staat nachbesteuert wird. Wenn also etwa ein deutscher Konzern eine Tochtergesellschaft in der Schweiz unterhält, welche hier auf Basis der OECD-Bemessungsgrundlage nur zu 10 Prozent statt 15 Prozent besteuert wird, dann kann Deutschland die Differenz von 5 Prozent einfordern. Erhöht die Schweiz die Steuern also nicht auf das OECD-Mindestmass, überlässt sie die Differenz mithin anderen Staaten. Hinzu kommt, dass die Schweiz, wenn sie das GloBe-Regelwerk umsetzt, sich selbst den Zugriff auf in anderen Staaten unterbesteuertes Substrat sichert.
Die Umsetzung der Mindeststeuer dürfte für die Schweiz kurzfristig zu Steuermehreinnahmen führen. Das beruht im wesentlichen darauf, dass rund 200 Schweizer Konzerne und 2000 Tochterfirmen ausländischer Konzerne höher als bislang – eben zu den 15 Prozent gemäss OECD-Vorgabe – besteuert werden. Der Bund rechnet kurzfristig mit jährlichen Mehreinnahmen von 1,5 bis 2 Milliarden Franken, wenn auch die Schätzungen als sehr unsicher ausgewiesen werden. Mittel- und langfristig betrachtet sehen die Prognosen aber düsterer aus. Da der Steuervorteil wegfällt und Unternehmen an anderen Standorten oft billiger produzieren können (tiefere Löhne und Sozialkosten), wird mit Unternehmenswegzügen und als Folge davon Mindereinnahmen gerechnet. Dies jedenfalls dann, wenn es nicht gelingt,…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1099 - September 2022 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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