Unschuldige Opfer
«Schon wieder werden unschuldige Menschen Opfer von Terror und Gewalt.»
Kardinal Reinhard Marx
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, am 18. August 2017 in einem Kondolenzschreiben an den Erzbischof von Barcelona nach den Terroranschlägen in Katalonien
Die Wendung ist geläufig und ihr Zweck eindeutig. Wer «unschuldige Opfer» beklagt, will seine tiefe Erschütterung und sein Mitgefühl zum Ausdruck bringen. Trotzdem macht der Ausdruck stutzig. Ist es von Belang, ob die Menschen «unschuldig» waren, die beispielsweise einem Terroranschlag zum Opfer fielen wie jüngst in Barcelona? Unschuldig – wer ist das schon? Zählt hier, ob jemand strafrechtlich unbelastet ist, ob ein reines Herz in seiner Brust schlägt oder ob er ein Leben frei von Sünde führt? Man drehe den Satz von Kardinal Marx nur einmal um: Wäre es also in Ordnung, dass jemand zum Opfer von Terror und Gewalt wird, sofern er irgendeine Schuld auf sich geladen hat? Gewiss nicht.
Völlig unsinnig ist die Wendung «unschuldige Opfer» allerdings auch wieder nicht. Sie findet in der Viktimologie Gebrauch, einer Abteilung der Verbrechensforschung. Dort geht es unter anderem darum, welche Typen von Menschen mehr Gefahr laufen als andere, zum Opfer eines Verbrechens zu werden. In einer rein technischen Definition unterscheidet man nicht nur zwischen prädisponierten (beispielsweise leichtgläubigen) und provozierenden (leichtsinnigen) Opfern, sondern tatsächlich auch zwischen unschuldigen, weil unbeteiligten, und beteiligten Opfern. Ein klassisches beteiligtes Opfer ist der betrogene Betrüger oder der getötete Mörder. Die Kategorie der Schuld oder Unschuld bezieht sich auf ein Vergehen der jeweils selben Qualität. Folglich ist im Zusammenhang mit einem Attentat niemand nur schon deshalb ein «schuldiges Opfer», weil er unehrlich ist, ein Dieb oderein Ehebrecher. Er muss dafür selber ein Terrorist und Mörder sein. Darin steckt keinerlei Wertung: Betrug wird nicht dadurch weniger schlecht, dass der Betrogene betrügt; Mord wird – zumal unter (rechts-)staatlichem Gewaltmonopol – kein geringeres Unrecht, wenn der Ermordete Mörder war.
Nur wenn sich unter den Flaneuren, die auf den Ramblas dahingemäht wurden, der eine oder andere Terrorist befunden hätte, erfüllte die Abgrenzung der unschuldigen von den schuldigen Opfern einen nachvollziehbaren Zweck. Dann ergäbe die Kategorie der Schuld oder Unschuld viktimologisch einen Sinn, wäre Opfer insofern tatsächlich nicht gleich Opfer. Zur Beurteilung der Tat indes sind sämtliche Opfer als solche gleich zu denken. Alles andere relativierte das Verbrechen. Mord bleibt Mord.
Karen Horn
ist Dozentin für ökonomische Ideengeschichte, freie Autorin sowie Chefredaktorin und Mitherausgeberin der Zeitschrift «Perspektiven der Wirtschaftspolitik».