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Träume, Gott und Männer – Lou Andreas-Salomé

Der Psychoanalytikerin Freudscher Schule kann kein Vaterkomplex untergeschoben werden. Nicht alle Männer waren fünfzehn Jahre älter. Die Entwicklung der «Freundin berühmter Männer» wird hier Mann um Mann nachgezeichnet.

«Es ist weder Schwäche noch Minderwertigkeit des Erotischen, wenn es seiner Art nach auf gespanntem Fuss mit der Treue steht…» In den geistesgeschichtlichen Dramen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts über die europäische Kulturbühne gingen, war Lou Andreas-Salomé eine ausser-gewöhnliche Akteurin. Das Paar Salomé und Nietzsche hat die Phantasie späterer Generationen beflügelt, und gleichzeitig wurde die Erinnerung an beide in deren Zuendedenken und -leben damals sonst nicht erfüllter Wünsche überzeichnet. Die Erlebnisfähigkeit dieser Frau, ihr Verstand, gleichzeitig blendend und originell, dazu ihre ganze Erscheinung, mit den klaren grossen Augen und dem in der Mitte gescheitelten Lockenhaar – dies alles machte den Zauber aus, der die Schriftstellerin und praktizierende Analytikerin im Verlauf ihres Lebens zur «Freundin berühmter Männer» werden liess. Poul Bjerre, ein Psychotherapeut, der sie in Schweden kennengelernt hatte, verliebte sich sogleich in die fünfzehn Jahre ältere Frau: «Sie hatte einen ungewöhnlich starken Willen und Freude daran, über Männer zu triumphieren. Zwar konnte sie entflammen, aber nur für Augenblicke und in einer seltsam kalten Leidenschaft. Sie hat mir weh getan, aber sie hat mir auch viel gegeben.» «Sie haben Schaden getan, Sie haben wehe getan…», schreibt ihr auch Nietzsche. Und Paul Rée, der brüderliche Gefährte, hinterlässt ihr nach der Trennung nur ein kleines Kinderbild, umwickelt mit einem Stück Papier, auf das er die Worte geschrieben hat: «Barmherzig sein, nicht suchen.» Sigmund Freud hebt die Harmonie ihres Wesens hervor, Nietzsche erkennt in ihr eine «Mit- und Fortdenkerin». Vielleicht stand Freud ihr am Ende am nächsten. Ihm schreibt sie wenige Jahre vor ihrem Tod, wie gern sie noch einmal in sein Gesicht, «in das Vatergesicht über meinem Leben» schauen würde.

«Meine früheste Kindheitserinnerung ist mein Umgang mit Gott.» Lou Andreas-Salomé blickt auf ihre Kindheit und Jugend in St. Petersburg zurück, wo sie am 12. Februar 1861 zur Welt gekommen ist. Sie ist das einzige Mädchen und das Nesthäkchen der Familie. Die Salomés waren Hugenotten südfranzösischer Herkunft. Der Vater, Gustav Salomé, brachte es beim Militär bis zum General. Er wird als tapfer und ritterlich, als willensstark, aber auch als heissblütig beschrieben: «Er war breitschultrig, von grosser Gestalt, mit straffer Haltung, ein warmherziger Aristokrat, der nach dem Motto lebte: noblesse oblige.» Die Mutter, Louise Wilm, war fast zwanzig Jahre jünger als ihr Mann. Zu ihr war Salomés Beziehung nie ganz konfliktfrei, jedenfalls häufig gespannt, was auch daran lag, dass der Vater seine Jüngste vorzog und sie gegenüber der Mutter in Schutz nahm. Hat sich die Tochter von der Mutter abgewiesen gefühlt? Nie sei die Mutter ein weicher Mensch gewesen. Erst im Alter hätte sie sie warm und sanft erlebt. Der Vater aber ist immer für sie da, er beschützt sie, gibt ihr Geborgenheit. Die Männer, denen sie später begegnet, wird sie an dieser Vatergestalt messen.

Salomés gefühlsmässiger Bindung an den Vater entspricht ihre intensive, kindliche Gottesbindung. In der Pubertät verschweigt sie dem schwer erkrankten Vater ihre Glaubenskrise und hält pro forma fest am frommen Regelwerk, das in dem streng protestantischen Elternhaus beachtet wird. Mit dem eintönig dogmatischen Konfirmationsunterricht kann sie nichts anfangen. Schliesslich wechselt sie den Pfarrer und gerät an den niederländischen Geistlichen Hendrik Gillot. Er ist zweiundvierzig, verheiratet, hat zwei Kinder, sieht gut aus und gilt als brillanter, mitreissender Redner. Sie hört ihn predigen und weiss sogleich: «Das ist es ja, was ich gesucht – nun hat alle Einsamkeit ein Ende… ein leibhafter Mensch…» Die Hand aufs Herz gedrückt, steht sie wartend vor der Tür zu seinem Arbeitszimmer. «Kommst du zu mir?»

Hendrik Gillot segnet Salomé, die sich nicht konfirmieren lassen wollte, ein. Hat sie jetzt endlich den Menschen gefunden, der ihr den Vater ersetzt, sie bei der Hand nimmt und durchs Leben führt? Oder soll ihr der Prediger den verlorengegangenen Gott zurückbringen? Gillot macht diesen Backfischträumen einen Strich durch die Rechnung. Er fühlt sich nicht nur zu ihr hingezogen, er ist verliebt in sie, will mit ihr auf und davon. «Mit einem Schlage fiel das von mir Angebetete mir aus dem Herz und Sinnen ins Fremde (…) Ein Bruch geschieht zwischen Erwartetem und Vorgefundenem (…) Unrechtes tun war unmöglich.» Für das junge Mädchen bricht erneut eine Welt zusammen, es erfährt, wie weit Ideal und Realität auseinanderklaffen und macht diese Enttäuschung indirekt für ihre Distanz gegenüber der Möglichkeit sexueller Erfahrung verantwortlich.

Ihre Beziehung zu Friedrich Nietzsche scheint die These zu stützen, dass sie auf sexuelle Befriedigung verzichten muss, um ihre schöpferischen Kräfte freisetzen zu können. Oben in der einsamen Höhe des Monte Sacro, oberhalb von Orta am Lago Maggiore sind beide zum ersten Mal ungestört. Ob Nietzsche sie auf dem Berg geküsst habe? «Ich weiss es nicht mehr.» Er: «Den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen.» Zwei Heiratsanträge Nietzsches weist sie ab. Sie fühlt sich stärker zu Nietzsches Freund und Begleiter Paul Rée hingezogen. Sie träumt von einem «Dreierbund», einer «Dreieinigkeit», von «brüderlichem Zusammensein». Sie scheut die Enge und Nähe der Zweisamkeit. Der Geist zügelt den körperlichen Affekt – der Asket sorgt sich um die Ausbildung seiner Vernunft – drei Wochen leben Nietzsche und Salomé in Tautenburg zusammen. Endlose Gespräche, bei denen Nietzsche sie als – wie er schreibt – «Schwester im Geiste» erlebt, eine Situation, von der seine leibliche Schwester Elisabeth ebenso unabsichtlich wie folgenreich herausgefordert wird und die sie zur erbitterten Feindin Salomés werden lässt. Salomé hat sich dieser Begegnung in Tautenburg mit grosser Offenheit und Intensität gewidmet. Aber Nietzsche warb vergeblich um sie. Jedenfalls endet das Zusammensein mit der Abreise Salomés aus Tautenburg am 26. August 1882.

Als 26jährige heiratet Lou Salomé 1886 den Orientalisten Friedrich Carl Andreas, den sie – fünfzehn Jahre jünger als er – «Alterchen» nennt – und er sie entsprechend «Döchting», also Tochter oder Töchterchen. Die Heirat kostet Salomé die jahrelange innige Freundschaft ihres Gefährten Paul Rée, der vom Geheimnis dieser Ehe bis zu seinem Tod 1920 nie etwas erfahren sollte. Lou Salomé hat sich ihrem Ehemann ein Leben lang verweigert. Zwei Bedingungen hatte sie gestellt: Die Freundschaft mit Paul Rée darf nicht gestört werden; ausserdem wird sie niemals bereit sein, mit Andreas die Ehe sexuell zu vollziehen. Er willigt ein, vielleicht kann er sich nicht vorstellen, wie ernst es ihr ist mit diesen Bedingungen. Es kam vor allem in den ersten Jahren ihrer Ehe immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen, deren Anlass oft genug ihre Beziehung zu anderen Männern war.

Lou Andreas-Salomé ist 36 Jahre alt, als sie auf den 22jährigen Rainer Maria Rilke trifft. Zunächst zögert sie, irritiert auch wegen des Altersunterschieds, dann angesichts seines ungestümen Werbens. «Aus allem Schönen gehst Du mir entgegen/mein Frühlingswind Du/Du mein Sommerregen/Du meine Juninacht mit tausend Wegen/auf denen kein Geweihter schritt vor mir/ich bin in Dir!» Die Harmonie zwischen beiden scheint vollkommen. Salomé, die zunächst eher mütterliche Gefühle für den jungen Dichter hegt, entdeckt für sich die sexuelle Leidenschaft. Vierzig Jahre später – Rilke ist längst tot – erinnert sie sich: «War ich jahrelang Deine Frau, so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist, Leib und Mensch ununterscheidbar eins, unbezweifelbarer Tatbestand des Lebens selbst.» Die Gemeinsamkeit mit Rilke ist eng, aber wiederum doch nicht so fest, dass sie sich aus ihr nicht lösen könnte. Innerlich hat sie sich längst von ihm, dessen neurotische Anfälle sie fürchten gelernt hat, getrennt. «Allmählich wurde ich selber verzerrt, zerquält, überanstrengt… gab die eigene Nervenkraft aus. Immer öfter stiess ich Dich endlich fort, – aber dass ich immer wieder mich von Dir an Deine Seite zurückziehen liess, das geschah jener Worte Zemeks halber…»

Zemek – so wurde der Wiener Arzt Friedrich Pineles genannt. Schon kurz nach der Trennung von Rilke hatte sie den Kontakt zu Pineles wieder aufgenommen, eine «eheähnliche» Verbindung, die vorwiegend sexueller Natur war. Nach der ersten Euphorie – so behaupten jedenfalls Ursula Welsch und Michaela Wiesner in ihrer Salomé-Biographie – sei ihr der Charakter dieses Verhältnisses klar geworden. «Ihr wurde bewusst, dass sie kein Kind von ihm wollte, sie erkannte – da es für sie offensichtlich unmöglich war, sexuelle und seelische Übereinstimmung in einer Beziehung miteinander in Einklang zu bringen –, dass sie überhaupt kein Kind wollte.»

Den endgültigen Schritt zur Psychoanalyse vollzieht sie nach ihrer Begegnung mit Freud im Jahr 1911. «In der Schule bei Freud» sieht sie sich wie in einem Spiegel, erkennt ihre Selbstliebe. Jetzt will sie beweisen, dass es sich beim Narzissmus immer sowohl um Selbstliebe als auch um Selbstaufgabe handelt. Das Haus, ihr «Loufried» am Göttinger Hainberg, wird schließlich ihr Lebensmittelpunkt. Immer noch betreibt sie ihre Praxis, steht für Analysen zur Verfügung. Erst als 74jährige hört sie mit der Analyse auf.

Sind sich Lou und ihr Mann im Alter näher gekommen? Mehr als vierzig Jahre waren sie verheiratet. Freud im fernen Wien freut sich an der Art, wie die beiden jetzt miteinander umgehen: «…so dauerhaft beweist sich doch nur das Echte». In ihrem «Lebensrückblick» befasst sie sich ein letztes Mal mit der Problematik ihrer Ehe. Schlüssige Erklärungen gibt sie hier freilich nicht, sie belässt es bei Fragen. Vielleicht fehlte es ihr – wie Freud meinte – an dem notwendigen «neurotischen Schuldgefühl».

Lou Andreas-Salomé stirbt am Abend des 5. Februar 1937. Sie wird verbrannt, die Asche im Grab ihres Mannes auf dem Göttinger Stadtfriedhof beigesetzt. Die Biblio-thek in ihrem Haus wird später von einem SA-Trupp verwüstet. Für die «finnische Jüdin», wie die Nazis sie nannten – und überdies eine Schülerin des verhassten Sigmund Freud –, war in diesem Deutschland kein Platz.

Wolf Scheller, geboren 1944, ist seit 1968 als Rundfunkjournalist in Köln tätig.

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