(6) Produktionssystem Kulturwirtschaft
Die Kultur ist ein wichtiger Standortfaktor geworden, und die Kulturwirtschaft gilt in vielen Regionen als Hoffnungsträgerin für die Beschäftigungsentwicklung. Ein Bericht über die Situation in Zürich.
Die Bedeutung der Kultur im Gesellschaftsleben wird sehr unterschiedlich eingeschätzt. Während für die einen die Kultur ein nice-to-have ist, stellt sie für andere die Grundlage von Entwicklung und Zusammenhalt der Gesellschaft dar. Mit zunehmendem Anteil von in der Kulturökonomie Beschäftigten erhält die Kultur nochmals eine neue Bedeutung, deren Potential nicht mehr unterschätzt werden darf. In der Stadt Zürich sind im Jahre 2001 8,4 Prozent aller Beschäftigten im Kultursektor tätig.* Zudem weist dieser für die Periode von 1995 bis 2001 ein Wachstum von 10,2 Prozent auf, was nur wenigen anderen Branchen gelungen ist. Erklärungen für diese Entwicklungen gehen auf Prozesse der Kulturalisierung der Ökonomie und der Ökonomisierung der Kultur zurück. Die Nachfrage nach kulturellen Produkten und Dienstleistungen ist dadurch stark gestiegen. Ebenso hatte die urbane soziale Bewegung von 1980 einen gewichtigen Einfluss, indem sie als Katalysator für die Öffnung gegenüber den Entwicklungen in den Weltstädten wirkte. Seit den 1980er Jahren hat Zürich an Attraktivität gewonnen. Die Möglichkeiten für Freizeit und Kultur haben sich vervielfacht. Zürich ist eine Trend- und Lifestylestadt geworden und zeichnet sich durch ein eigenes urbanes Profil aus, das von Subkultur und Avantgarde genährt wird.
Den grössten absoluten Beschäftigungszuwachs hatten in der Stadt Zürich die Graphikateliers, die Werbeberater, Film- und Videohersteller, Diskotheken und Architekturbüros. Beschäftigungsverluste sind im Detailhandel von Buch, Musik und Kunst, starke Abnahmen im Druckgewerbe mit rund 30 Prozent festzustellen. Die Printmedien machten im Jahre 2001 einen Anteil von 40 Prozent der Beschäftigung aus, während die Film- und TV-Wirtschaft nur auf 10,5 Prozent Beschäftigungsanteil kam, was im internationalen Städtevergleich wenig ist. Die Schaffung eines Filmfonds, dem die Zürcher 2004 zugestimmt haben, wird hier in absehbarer Zeit eine wichtige Gegenbewegung bewirken. Denn TV- und Filmwirtschaft nehmen in der Kulturökonomie eine Schlüsselrolle ein, mit starken Einflüssen auf Musik-, Design- und Theaterbranchen.
Die attraktiven kulturellen Angebote und die positive Beschäftigungsentwicklung in der Kulturwirtschaft werden in einem komplexen Produktionssystem generiert, das von einer Vielzahl von Kleinstunternehmen geprägt ist. 38 Prozent aller Beschäftigten im Kultursektor sind in Arbeitsstätten mit neun und weniger Beschäftigten tätig. In der Gesamtbeschäftigung sind es rund 20 Prozent. Freelancertum und informelle Zusammenarbeit sind weit verbreitet. Die Kulturwirtschaft ist von Innovationen geprägt. Die Produkte und Dienstleistungen müssen permanent neuen Entwicklungen, Geschmackspräferenzen und Moden angepasst werden. Spezifische Rahmenbedingungen für Produktion und Innovation in der Kulturwirtschaft können in sozialräumlichen Zusammenhängen nachgezeichnet werden. Im Vordergrund stehen Clusterbildungen in bestimmten Quartieren, insbesondere in den ehemaligen Arbeitervierteln, wo günstige Mieten, ein internationales Umfeld und ein Hauch von Avantgarde produktive Standortbedingungen bieten. Es hat sich ein sozialräumliches Kapital entwickelt, das sich durch intensiven Informations- und Knowhow-Transfer auszeichnet. Im Kreis 5 wuchs die Beschäftigung um 56 Prozent, die Zahl der Kleinstunternehmen um 68 Prozent. Andererseits verlor der traditionell von freien Berufen wie Architektur, Graphik und Werbung geprägte Kreis 7 zehn Prozent der Beschäftigung im Kultursektor. Der Absatzmarkt für kreative innovative Kleinstunternehmen hat sich in Zürich gegenüber früher verbessert. Die Kundschaft ist an Design interessiert, international orientiert, offen gegenüber avantgardistischen Entwicklungen, bereit spleenige Dinge auszuprobieren – und zahlungskräftig. Ein weiterer zentraler Faktor für die kulturwirtschaftlichen Entwicklungen sind die brachgefallenen Industrieareale. In den frühen 1990er Jahren begannen die Besitzer zunehmend Zwischennutzungen zuzulassen. Dadurch gab es nunmehr viel Raum für attraktive und günstige Ateliers, Werkstätten, Proberäume, Schreibstuben, Partysites, Theater und Konzertlokale. In vielen Liegenschaften und Arealen entwickelte sich ein buntes Gemisch von Künstlerinnen und Künstlern, Kulturunternehmertum und Partyszene, mit fliessenden Grenzen und regem Austausch in Richtung Subkulturen und Szenen. So wurden die Forderungen der Bewegung von 1980 – nach Räumen für eine andere Kultur – dank Strukturwandel und anhaltender Rezession doch noch erfüllt.
Mit den neu gewonnenen Freiräumen in den ehemaligen Fabrikanlagen konnte sich ein neues Zürcher Unternehmertum im weiten Feld der Kulturwirtschaft entfalten. Es zeichnet sich durch grossen Gestaltungswillen, Eigeninitiative, Selbstvertrauen und Unternehmungslust aus. Diese resultieren nicht zuletzt aus der Bewegung von 1980, als von keiner Seite Hilfe für kulturelle Unternehmungen erwartet werden konnte. Trendige und innovative Produkte wurden aus Szenen heraus auf den Markt gebracht, ob es nun Taschen, Männerröcke oder Wintersportbekleidung waren. Die Nachfrage nach dem Design von Jahresberichten, Internetauftritten und ähnlichem hat bei Banken, Versicherungen und anderen globalen Akteuren im Kreis 5 zugenommen. Neben der positiven Tatsache, dass auf diese Weise viele Personen im Kultursektor beschäftigt werden, sind auch die negativen Aspekte zu erwähnen.
So sind die Löhne in den Kleinstunternehmen im Durchschnitt sehr niedrig und mit jenen unqualifizierter Tätigkeiten wie Kassiererin oder Handlanger zu vergleichen. Viele kreative innovative Kleinstunternehmen haben es trotz gewissen Erfolgen schwer, sich zu konsolidieren. Selbst bekannte Labels stehen unter Konkurrenz-, Kosten- und Innovationsdruck. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind verbreitet. Eine öffentliche Förderung dieser Unternehmen gibt es nicht. Für die Mittel für kulturelle Veranstaltungen und Produktionen werden öffentliche und private Fonds oder Stiftungen in Anspruch genommen. Das heisst, dass die traditionellen Institutionen der Kulturförderung für die Kulturwirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Für Unternehmen, die nicht als Kulturproduzenten betrachtet werden, etwa in der angewandten Kunst, ist es schwieriger, Finanzierungen zu finden. Die Banken sind extrem zurückhaltend mit der Vergabe von Krediten. Wer keinen Namen hat, hat keine Chance, an Risikokapital heranzukommen. Für die kreativen innovativen Kleinstunternehmen ist das soziale Kapital essentiell. Ohne gegenseitige Hilfe, Vernetzung und Freundeskreis sind Start-ups fast unmöglich.
Zürichs Kulturwirtschaft entwickelte sich aus einem neuen Selbstverständnis und einem grossen Bedürfnis verschiedenster Akteure heraus, kulturelle Entwicklungen voranzutreiben, seien dies die Veranstalter von Raves, Off-spaces für Ausstellungen und Performances, Openair-Kinos oder neuen Theatern. Es ist eine unternehmerische Kultur entstanden, die vor 1980 kaum vorhanden war. So ist in Zürich ein Gemisch von Trend- und Lifestylekultur, etablierter oder fast etablierter Kultur und Subkultur entstanden, die alle ihre Rolle im kulturwirtschaftlichen Produktionssystem spielen.
Zürich hat ein grosses kreatives Potential und eine starke symbolische Ökonomie, die sich als komparativer Vorteil erweisen könnten und deren Pflege eine Gratwanderung von Veränderung und Bewahrung ist. Die Entwicklung der Kulturwirtschaft wird wesentlich vom Umgang mit den Räumen abhängen. Nicht nur im High-Tech Bereich braucht es immer wieder Innovationen, sondern auch in der Kultur. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen Brutstätten der kulturellen Innovation. Freiräume und Zwischennutzungen sind elementar zur Entfaltung von Potentialen und kultureller Innovation. Diese können jedoch nur beschränkt einer direkten Verwertungslogik unterworfen werden und müssen sich auch eigenständig entwickeln können. Das heisst, dass – unabhängig von der Frage, mit welcher Kultur- oder Wirtschaftspolitik das Wachstum der Kulturwirtschaft gefördert werden kann – der Kultursektor und die Kultur generell eine Basis brauchen, die nicht direkt steuerbar ist und die sich selbst entwickeln kann. Die Betriebszählung 2005 wird zeigen, ob es sich bei den kulturwirtschaftlichen Entwicklungen in Zürich um einen Hype gehandelt hat oder ob die Zürcher Kulturwirtschaft sich etablieren oder gar weiter entfalten konnte.
* Alle aufgeführten Zahlen beziehen sich auf durch den Autor vorgenommene Auswertungen der Betriebszählungen 1995 und 2001 des Bundesamtes für Statistik.