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(0) Preis der Gerechtigkeit

Wir leben in einer komplexen Gesellschaft. Diese Feststellung ist weder besonders neu noch besonders originell. Der amerikanische Soziologe Lewis Mumford hat schon vor Jahren festgestellt, dass bestehende Gesellschaften die Tendenz haben, immer weitere neue Vergesellschaftungen hervorzubringen. Wer diesbezüglich noch Zweifel hat, werfe einen Blick auf die Entwicklung der Steuer- und Sozialgesetzgebung. Für das Gesetz der […]

Wir leben in einer komplexen Gesellschaft. Diese Feststellung ist weder besonders neu noch besonders originell. Der amerikanische Soziologe Lewis Mumford hat schon vor Jahren festgestellt, dass bestehende Gesellschaften die Tendenz haben, immer weitere neue Vergesellschaftungen hervorzubringen. Wer diesbezüglich noch Zweifel hat, werfe einen Blick auf die Entwicklung der Steuer- und Sozialgesetzgebung. Für das Gesetz der zunehmenden Komplexität gibt es kaum einschlägigeres Beweismaterial.

Die Entwicklung und Verfeinerung des Sozialstaates spiegelt eine Vielzahl von Sensibilitäten, von Versuchen, herkömmliche Formen der Unterstützung und Hilfe, die durch moralische und gelegentlich auch moralistische Vorstellungen getragen waren, mit dem politischen Streben nach Gerechtigkeit zu verbinden. Dass dabei oft auch falsche oder utopische Wege beschritten worden sind, ist angesichts der legitimen gesellschaftlichen Interessengegensätze nicht erstaunlich. Das Setzen richtiger Prioritäten und deren Abstimmung auf die finanziellen Möglichkeiten sowie auf das Spannungsfeld der immer intensiver werdenden Freiheitsbeschränkungen gehört zu den wesentlichen Herausforderungen der Politik.

Für die Gewährleistung der Freiheit generiert die Politik eine Vielzahl von Gesetzen und Regulierungen, die jedoch die Freiheit ihrerseits wiederum einschränken. Angesichts dieser Kom-plexität sind zwei grundsätzliche Reaktionen angebracht: einerseits der Verzicht auf die Anmassung, man hätte eine Patentlösung zur Hand, und anderseits das Bestreben, so einfach wie möglich zu bleiben. Die Zukunft unserer «Sozialwerke» und die damit verknüpfte Frage nach dem «Preis der Gerechtigkeit» erheischt wohl nüchterne Sachkenntnis, das Thema kann aber – wenn man es nicht rein finanztechnisch angehen will – auch nicht ohne innere Anteilnahme diskutiert werden.

Niemand kennt die ganze Wahrheit, noch kann jemand die Zukunft voraussagen. Wer Probleme wie die Altersvorsorge besser lösen will, muss versuchen, den Überblick zu wahren und darf sich weder in Details verlieren noch perfektionistisch sein. Die Menschen sind nicht generell unfähig, für sich selbst zu sorgen; sie sind auch nicht ausschliesslich auf ihren eigenen unmittelbaren Nutzen bedacht. Wer den Staat als allgemeinen Vormund und Überwacher über alle einsetzt, löst die Probleme nicht, sondern macht sie komplizierter und verengt die ohnehin schon kleiner gewordenen Freiräume.

Diese Überlegungen waren die Basis einer sozialpolitischen Debatte, die am 10. November zum Thema «Wer zahlt für die soziale Gerechtigkeit?» an einer Veranstaltung des «Vereins Zivilgesellschaft» in Zürich geführt worden ist. Zunächst ging es um eine Diagnose: «Wie schlimm ist die aktuelle Situation wirklich?»

Die Debatte spiegelte etwa das Bild, das auch in den Medien und in der Fachliteratur vorherrscht. Die einen betrachten die strukturelle und finanzielle Situation unserer Sozialpolitik als äusserst besorgniserregend. Für sie sind einschneidende Massnahmen und Korrekturen vordringlich. Andere erkennen zwar den Ernst der Lage, glauben aber, dass sie mit einigen Änderungen und Anpassungen des heutigen Systems zu bewältigen wäre.

Wer hat nun die besseren Argumente? Sind es die «Revolutionäre», die im Schumpeterschen Sinn eine «schöpferische Zerstörung» des Bisherigen empfehlen und neue Lösungen suchen, oder sind es die «sorgfältigen Reformer», die grundsätzlich am Bewährten festhalten wollen und lediglich einige Anpassungen vorschlagen?

Möglicherweise gibt es noch eine dritte Gruppe, die man die «radikalen Reformer» nennen könnte. Wenn beispielsweise ein Lösungsvorschlag mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer um vier Prozente verbunden ist, geht es tatsächlich nicht nur um marginale Anpassungen, sondern um Entscheide von grösserer wirtschafts- und sozial-politischer Tragweite.

Wer unter diesen drei Gruppen eine fruchtbare Debatte führen will, muss zunächst die Bereitschaft mitbringen, den andern zuzuhören. In erster Linie braucht es eine panik- und vorurteilsfreie Beurteilung der Lage. Die Ökonomie ist keine exakte Wissenschaft, die allgemeingültige Kriterien für die Beurteilung des nachhaltigen Funktionierens oder Nicht-Funktionierens eines kollektiven Vorsorgesystems bereithält. Trotzdem ist es möglich, sich aufgrund der Urteile von Fachleuten auch unter Personen unterschiedlicher politischer Ausrichtung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Obwohl es auch bei den Prognosen grosse Bandbreiten gibt, könnte wenigstens über die Beurteilung des grundsätzlichen Trends eine Einigung erzielt werden. Aufgrund dieser gemeinsamen Basis sollte es nicht ausgeschlossen sein, einen neuen tragfähigen Kompromiss zu finden. Damit wäre schon viel gewonnen. Einerseits könnten wir der Bevölkerung klaren Wein einschenken, anderseits könnte vermieden werden, dass man jeden neuen Vorschlag gleich im Keim erstickt, weil man ihm entweder irgendwelche Partikularinteressen unterstellt oder gar einen Angriff auf das Gemeinwohl, das (zu Unrecht) mit dem Bestehenden gleichgesetzt wird.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben in sozialpolitischen Fragen bisher durchaus Vernunft bewiesen. Damit dies auch weiterhin der Fall sei, müssen allerdings verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein, um die es zur Zeit nicht besonders gut bestellt ist. Die Debatte um die Zukunft unserer Sozialwerke wird zum Teil durch Unterstellungen und durch ein allgemein geschürtes Misstrauen vergiftet. Die Medien, die Parteien, die Behörden, ja die ganze Zivilgesellschaft stehen vor der Herausforderung, die Tatsachen in ihrer ganzen Tragweite und ohne Hintergedanken und Nebenabsichten zur Kenntnis zu nehmen. Die gemeinsamen Interessen müssen für einmal gegenüber Sonderinteressen aller Art und auch gegenüber dem parteipolitisch motivierten Hang zur momentanen Popularität Vorrang erhalten. Diese Forderung mag auf den ersten Blick naiv erscheinen, sie ist aber letztlich ein Gebot der Intelligenz. Es braucht zunächst den Mut, die Situation so darzustellen, wie sie ist. Dies ermöglicht dann das Führen einer Debatte um die bestmögliche Lösung, deren Wahl dann sicher auch eine gewisse Kühnheit verlangt, weil vorauszusehen ist, dass diese Lösungen recht unterschiedlich sein werden. Die Wahl wird umso besser, je sorgfältiger und vorurteilsfreier man über die Alternativen nachgedacht hat. Die Überzeugung gewinnt an Boden, dass heute die Stimmbürger, bzw. die Wähler – nicht nur in der Schweiz – durchaus bereit sind, auch einschneidende Lösungen zu akzeptieren und solchen vor verschwommenen und lediglich auf kurzfristige Popularität ausgerichteten Kompromissvorschlägen den Vorzug geben.

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Editorial

Wenn im Dossier dieses Heftes nach dem Preis der Gerechtigkeit gefragt wird, so könnte der Eindruck aufkommen, auch die Gerechtigkeit werde damit zur käuflichen Handelsware degradiert. Wer die Dinge nicht nur beim Wort nennt, sondern den Worten auch umfassendere Bedeutungen zutraut, wird jedoch nicht daran Anstoss nehmen, wenn auch im Zusammenhang mit sozialen Fragen von […]

(0) Preis der Gerechtigkeit

Wir leben in einer komplexen Gesellschaft. Diese Feststellung ist weder besonders neu noch besonders originell. Der amerikanische Soziologe Lewis Mumford hat schon vor Jahren festgestellt, dass bestehende Gesellschaften die Tendenz haben, immer weitere neue Vergesellschaftungen hervorzubringen. Wer diesbezüglich noch Zweifel hat, werfe einen Blick auf die Entwicklung der Steuer- und Sozialgesetzgebung. Für das Gesetz der […]

(1) Die grosse Umverteilung

Mit der Umverteilung wollte der Staat ursprünglich einen Ausgleich zwischen Reich und Arm bewirken. Heute alimentieren die Umverteilungsgelder zunächst einmal die umverteilenden Instanzen, und sie erreichen die wirklich Bedürftigen nur auf kostspieligen Umwegen oder überhaupt nicht. Ein fetter Staat ist nicht automatisch gerecht – auch ein schlanker Staat kann sozial sein.

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