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Politische Desillusionierung als analytischer Auftrag
Panajotis Kondylis: In konkreter Lage. Gespräche. Berlin: Matthes & Seitz, 2023

Politische Desillusionierung als analytischer Auftrag

Panajotis Kondylis: In konkreter Lage. Gespräche. Berlin: Matthes & Seitz, 2023.

Der 1998 verstorbene Philosoph Panajotis Kondylis, dessen herausragende Studie zum Konservatismus gerade wiederentdeckt wird, war ein entgegenkommender Gesprächspartner. In drei Interviews, die nun in Buchform vorliegen, beantwortete er vergleichsweise knappe Fragen in unerwartetem Umfang. Man wird seines Versuchs gewahr, die diffizile Aufgabe zu meistern, sowohl der Konversation als auch den verhandelten Gegenständen gerecht zu werden. Dies gelang ihm in der äusserst nüchternen geistigen Haltung dem menschlichen Denken und Handeln gegenüber, die auch sein Œuvre auszeichnet.

Die Gespräche stehen u.a. im Lichte des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Illusionen, die sich Liberale seither machen. In deren Vorstellungen sah Kondylis ähnliche Selbsttäuschungen am Werk wie in den eschatologischen Komponenten in den Werken von Karl Marx. Seine illusionslosen und detaillierten Analysen des Denkens der Neuzeit waren an antiken Klassikern geschult, vorrangig an Thukydides. So verwundert es nicht, dass er in der Geschichte das ewige und kreisförmige Werden und Vergehen als befreiendes Fortschreiten erblickte, was allerdings keine Weltanschauung im identitären Sinne war. Kondylis‘ erkenntnistheoretischer Skeptizismus kannte kein Ziel im Sinne einer Parteinahme für die eine oder andere politische Seite, sondern verfolgte den Anspruch, im Bewusstsein der – zwar mühseligen – Erkennbarkeit der Dinge Wissenschaft wertneutral zu betreiben.

Ungeachtet seiner Bedachtsamkeit scheute Kondylis die Prognose nicht. Ihm zufolge könnten das Ende der Neuzeit und das heraufgezogene massendemokratische planetarische Zeitalter und dessen ökologische und ökonomische Implikationen die menschlichen Konflikte so zuspitzen, dass Ideologien ganz und gar Beiwerk dieser würden. Sein Unbehagen gegenüber Utopien und normativen Setzungen zwingt ein Weiterdenken im Hier und Jetzt auf. Gegen die Relativierung der Werte stellte er die Analyse ihrer Funktion, besonders ihrer Ansprüche auf Macht und Herrschaft. Die Interviews sind ein idealer Einstieg in das Werk des Philosophen und jedem empfohlen, der liberale Gewissheiten auf den Prüfstand stellen möchte.

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