«Das rein ­Schweizerische kommt selten vor»
Daniela Koch, Verlagsleiterin von Atlantis, porträtiert in den Büroräumlichkeiten in Zürich. Bild: Keystone/Gaëtan Bally.

«Das rein ­Schweizerische kommt selten vor»

Daniela Koch, Verlegerin von Atlantis, sieht in der Mehrsprachigkeit der Schweiz eine grössere Herausforderung als in ökonomischen Zwängen für Literaturverlage. Deren Zukunft sieht sie allen Widrigkeiten zum Trotz positiv.

Frau Koch, der Zürcher Verlag Atlantis ist seit zwei Jahren ein Imprint des Kampa-Verlags und knüpft an den 1930 von Martin Hürlimann in Berlin gegründeten Verlag an. Sie veröffent­lichen rund fünf literarische Titel und fünf Krimis pro Halbjahr. Wo steht die Schweizer Literatur gerade?

Als Programmmacherin eines Verlags sehe ich natürlich eher einen Ausschnitt des Ganzen. Wo die Schweizer Literatur heute steht, könnten die Leute von den Solothurner Literaturtagen oder Roman Bucheli wahrscheinlich besser beantworten, auch wenn ich mir selbst einen allgemeinen Eindruck verschaffe, sehr viel lese und mitbekomme, was die Kollegen machen.

 

Grundsätzliches fällt Ihnen aber doch auf?

Als Verlegerin muss man sich manchmal ein bisschen zurückziehen, zumal man nicht jeden Trend mitmachen will, sondern seine eigene Linie verfolgt. Das heisst natürlich nicht, dass man die nie korrigiert oder etwas Neues probiert. Aber einen echten Überblick habe ich nicht. Ich finde, dass das, was ich zu lesen bekomme, sehr vielfältig ist und der Begriff «Schweizer Literatur» kein einfacher ist.

 

Was ist denn Ihre Definition der Schweizer Literatur?

Es gibt vier Sprachen, und die Literatur verhält sich unterschiedlich: Die Deutschschweizer Literatur ist sehr von der deutschsprachigen Literatur beeinflusst. Die Westschweiz ist ganz anders, die dortigen Autorinnen und Autoren schreiben anders, der Buchmarkt funktioniert anders, auch die Cover, die Titel sowie die Aufmachungen sind eine andere Geschichte, die sich mehr an Frankreich orientiert, zu dessen Buchmarkt die Westschweiz gehört. Im Tessin ist es wieder etwas ganz anderes. Rätoromanisch ist ein sehr kleiner Teil, da gibt es nicht wirklich einen Buchmarkt, aber ein paar Verlage, die etwas aufrechterhalten, was ich sehr wichtig finde.

 

Wie unterscheiden sich diese Landesliteraturen dann?

Im Falle der Deutschschweiz merke ich, dass viele Autoren entweder gar nicht in der Schweiz leben, sondern in Berlin oder Paris, oder lange woanders gelebt haben und dann zurückkamen. Oder dass sie einen Migrationshintergrund haben. Das rein Schweizerische kommt selten vor. Die hiesige Literatur lebt von ihren verschiedensten Einflüssen. Man könnte sagen: Sie wird mit dem gewissen Schweizer Hintergrund zu etwas Neuem verarbeitet.

 

Ist der Austausch zwischen den vier Landesliteraturen gar nicht so immens?

Der ist leider gering. Der Röstigraben und der Gotthard sind reale Grenzen. Man bekommt in der Deutschschweiz wenig davon mit, was in der Westschweiz passiert. Das ist schade. Als ich aus Deutschland in die Schweiz kam, dachte ich naiverweise, die Schweizer sprächen alle drei Sprachen und würden entsprechend lesen.

 

Ist der Erfolg Ihrer Bündner Autorin Leta Semadeni eine ­Ausnahmeerscheinung?

Ja, sicher – «Tamangur», der erste Roman, war ein besonderes Buch; es hat überrascht. Einer 70jährigen Frau, die in einem Engadiner Bergdorf lebt, hat man solch eine Sprache und solch einen feinen Witz wohl nicht zugetraut. Das war für viele Leserinnen und Leser ein persönliches Entdeckungserlebnis, ein Kleinod, das man auch gern verschenkt. Ich weiss von Buchhändlern, dass manche Kunden gleich zehn Exemplare gekauft haben. Die Begeisterung war gross, da spielt auch etwas Geheimnisvolles hinein, das der Titel antönt. Semadeni hat eine wunderschöne Sprache, obwohl Deutsch eigentlich nicht ihre Muttersprache, sondern, wie sie sagt, ihre «erste grosse Liebe» ist. Auch ihr zweiter Roman, «Amur grosser Fluss», zeugt davon. Dass Semadeni demnächst mit dem Grand Prix Literatur, der höchsten Schweizer Auszeichnung für Literatur, ausgezeichnet wird, freut natürlich auch den Verlag!

 

Was sind aktuelle Herausforderungen für das Verlegen der ­hiesigen Literatur?

Ich sehe es als die Aufgabe eines Verlags in Zürich, auch die anderen Landesteile in den Blick zu nehmen. Im Atlantis-Programm erscheinen neben Titeln deutschsprachiger Literatur auch Übersetzungen von Literatur aus der Westschweiz, aus dem Tessin, aber auch aus Frankreich und Italien. Es hat etwas Bereicherndes, auf diese Weise andere Welten zu erobern. Allerdings…