Lob der Berge
Hans Boesch, «Schweben». Roman. Nagel & Kimche, Hanser 2003.
Hans Boeschs Erzählung «Schweben»
Leicht zu lesen ist das schmale Buch nicht, und das liegt nicht nur an seiner Sprachform. Den langen Sätzen ist viel aufgepackt, vor allem, weil in diesem Text die Gebirgslandschaft, der Wechsel des Wetters, die Wiesen mit ihren Pflanzen und die Felsen mit Augen gesehen und erlebt werden.
Die junge Ärztin, die im ersten Kapitel vom Tal her aufsteigt in immer höhere Regionen, hat es eilig; aber sie sieht die Wiese mit ihren Pflanzen, den Kreuzblümchen, dem Löwenzahn und dem Filzigen Alpendost mit seinen grau und blass behaarten Blättern, die sie an alte Weiber erinnern. Einmal stösst sie auch mit erhobener Faust wütende Worte gegen einen Kerl aus, der aber nicht genannt ist. Vorbei am Berghaus und den Wanderern, die davor auf den Bänken und im Gras Rast halten und in ihre Rucksäcke greifen, geht sie weiter, höher bis zu den Felsen. Man wird aus diesem eiligen Aufstieg nicht klug und findet allmählich doch ein herzliches Einverständnis mit der Frau, die bis in Regionen vorstösst, die hoch über den Alpweiden liegen. Denn der Leser spürt instinktiv, dass sie förmlich auflebt, je höher sie steigt. Sie redet mit Pflanzen und Kreaturen, mit dem Bach, mit der Quelle unmittelbar vor der Felswand, in der sie ein Bad nimmt, deren frischem Strahl sie sich hingibt und nicht genug bekommt von seiner Kraft und seiner Zärtlichkeit. Wenn sie dann, durch eine Männerstimme überrascht, sich rasch ankleidet und zwischen Felsbrocken hinaus tritt, sieht sie den Mann Simon, einen väterlichen Freund, und gesprochen hat er vermutlich mit dem schwarzen Vogel, der mit reglos gebreiteten Flügeln über den Gebirgszacken schwebt. Beide bewundern, wie er dahingleitet und immerzu beobachtet und im Spähen dennoch ohne jede Anstrengung ist, getragen vom Wind, zum Schauen allein alle Kraft gesammelt. Die Frau weiss nicht, was für ein Vogel es ist, sicher kein Adler, denn von dem kennt sie die Form der Flügel. Andere Vogelarten kann sie nicht unterscheiden. Auch die Pflanzen und die Steine, die Schmetterlinge und die Insekten kennt sie nicht mit den richtigen Namen. Simon kennt sie natürlich. Er hat hier oben ein Stück Alpwiese, ein Versuchsfeld, abgesteckt , weil er wissen möchte, ob die Population einzelner Arten abnehme, sich vermehre oder ganz verschwinde. Aber wenn er das Schweigen bricht, wird klar, dass es um anderes geht als um botanische Wissenschaft. «Weshalb eigentlich», sagt er, «muss die Blüte einen Namen haben, wenn man mit ihr allein ist?»
Es geschieht nicht viel in diesem kurzen Roman, es sei denn, man zähle die grossen Bergwanderungen rund um das Albulagebiet dazu, das Gewitter und den Wind, den Schnee und danach die Wiedergeburt der Natur. Linda, die Ärztin, und Simon sind dieser Landschaft verbunden. Sie ist vielleicht der Natur näher, weil sie jung ist und eine Frau. Er malt, er ist aufmerksam auf alles, was ihn umgibt, Formen, Farben und Düfte, von denen er einmal sagt, dass man das alles mit hinübernehmen möchte. Darin verstehen sich die beiden, obgleich sie am Anfang und er eher am Ende des Lebens steht.
Ich würde aber Simon als Hauptfigur bezeichnen. Seine Nähe zur Gegenwart ist so unverstellt, ohne trendgängige Vorstellungen, ohne Faszination durch Aktualitäten, dass auch Erinnerungen ihren selbstverständlichen Platz finden. Wenn er durch den Albulatunnel fährt, erinnert er sich an die Posthalterin im kleinen Dorf, an die Beerdigung ihres Gatten, an die Krankheit, die ihn in seiner Alpenklause überfiel und bei der Aurora, seine Gattin, vom Tal aus umsichtig für ihn gesorgt hatte. Das weitaus umfangreichste Kapitel ist für die Erinnerung an die Grossmutter des Vaters ausgespart, der Hebamme. Sie hat vor mehr als hundert Jahren bei Tages- und Nachtmärschen durchs Ried und durch Schilfwiesen Kinder, die von jungen Gastarbeiterinnen in Torfhütten heimlich geboren wurden, bei Wind und Wetter vor dem Untergang bewahrt und zu ihrer Tochter gebracht. Niemand wollte diese Kleinen, aber die Hebamme fand im Hause ihres Schwiegersohnes und ihrer Tochter immer ein Plätzchen für sie. Das Hebammen-Kapitel erscheint wie ein Fremdkörper. Aber es ist Simons Erinnerung eingeschrieben, weil diese alte Frau das Selbstverständliche tat, obgleich es ungewöhnlich, in den Augen der Leute vielleicht sogar fragwürdig erscheint. Denn so kommen dem Leser auch Simon und Linda vor, der alte Botaniker und Maler und die Ärztin, die sich am wohlsten zu fühlen scheinen, wenn sie über Alpen und Geröllhalden wandern und schauen können wie der schwebende Vogel. Aurora ist Simons Gattin, und dieses Paar, wir erinnern uns, ist in Boeschs Trilogie («Der Sog», «Der Bann», «Der Kreis») lange getrennt, deshalb nämlich, weil die als selbstverständlich empfundenen Lebensentschlüsse die Liebenden räumlich für lange Zeit trennen. Das neue Buch ist wie ein Nachtrag oder Nachhall jener Arbeit.
Hans Boesch sagt in einem Brief, er habe nach der Trilogie ein unheimliches Bedürfnis gespürt, so lapidar wie nur möglich zu sein, er habe «das Dekorieren der Welt für Seh-Faule» satt gehabt und als Reaktion ein unheimliches Bedürfnis, alles und möglichst noch mehr in einen Satz zu packen. Daraus ist dieses kleine Buch entstanden, eine Hymne auf die Bergwelt mehr als ein Roman, ein Versuch, mit Sprache wiederzugeben, was Augen und Herzen in einer Umgebung bewundern, die grösser und mächtiger ist als wir Menschen. Die Geschichte hat einen einfachen Schluss. Peider, der Freund Lindas, der als Koch dem Ruf eines Nobelhotels nach Amerika nicht widerstehen konnte, wohin ihm Linda aber nicht folgen wollte, kehrt unverhofft zurück, weil ihm das Hotel «zuviel nobel und zuwenig Hotel» war. Und sie, die ihm erst jetzt sagt, sie erwarte ein Kind, habe es ihm aber nicht eröffnen wollen, weil sie ihn mit nichts unter Druck setzen wollte, treffen sich unerwartet im Garten bei Aurora. Wenn Simon nach Hause kommt, ist das Paar schon gegangen.