«Ich plane keine Möbelstücke»
Der Luzerner Gesundheitsdirektor Guido Graf will echten Wettbewerb im Gesundheitswesen. Im Ernst? Ein Gespräch über hohe Qualitätsansprüche, alternde Babyboomer und den Wert eines zusätzlichen Lebensjahrs.
Herr Graf, alle reden über die Kosten des Gesundheitswesens. Lassen wir die Spesen zunächst aussen vor und beginnen fundamental: Was bedeutet für Sie Qualität in der Medizin?
Ich verstehe darunter die bestmögliche medizinische Versorgung. Wenn diese nicht stimmt, spricht sich das sehr schnell rum. Keine Patientin und kein Patient wird sich in einem Spital behandeln lassen, das schlecht beleumdet ist. Deshalb hat jeder Leistungserbringer die Motivation und das allergrösste Interesse, dass seine Arbeit hohen Qualitätsansprüchen genügt. Tut er das nicht, kann oder muss er sein Geschäft schliessen.
Auch weil Sie dafür als Gesundheitspolizei garantieren müssen?
Richtig. Wenn Sie in ein Spital gehen, können Sie also davon ausgehen, dass die Qualität hohen Ansprüchen genügt. Ich muss vorausschicken, dass ich – im positiven Sinne – «hausarztgeschädigt» bin. Ich bin in einer Landgemeinde aufgewachsen, in der der Hausarzt sieben Tage und 24 Stunden wirkte – und den die ganze Gemeinde kannte. Das hat mir imponiert. Wichtig ist, dass der Hausarzt mich rechtzeitig an den richtigen Ort verweist. Deshalb lege ich grossen Wert auf eine gute Hausarztmedizin – sie ist der Schlüssel für ein gutes Gesamtsystem.
Ich wuchs neben einem Hausarzt auf und habe gesehen, wie der um 9 Uhr abends noch Anrufe erhielt und bei allen möglichen Arten von Problemen gerufen wurde – aber die Zeiten sind doch im urbanen wie im ländlichen Raum vorbei.
Natürlich, es gibt immer mehr Gruppenpraxen. Aber auch eine moderne gute hausärztliche Versorgung gibt der Bevölkerung weiterhin Sicherheit – und hilft mir, Kosten zu sparen. Denn der Hausarzt sagt, zu welchem Spezialisten der Patient gehen soll. Die richtige Zuweisung ist das A und O. Wenn die Weichen zu Beginn falsch gestellt werden, brauchen Diagnose und Heilung viel mehr Zeit – und es kostet natürlich auch mehr.
Wissen Sie eigentlich um die Zufriedenheit der Patienten in Ihrem Kanton?
Ja, denn Zeichen der Unzufriedenheit landen direkt auf meinem Pult. Ich erhalte von allen Listenspitälern einmal oder zweimal im Jahr eine Liste mit allen Reklamationen. Diese Liste durchforste ich dann selbst und schaue, um welche Art von Beschwerden es geht. Da gibt es Leute, die sich beschweren, dass es in der Cafeteria zu wenige Zeitungen habe, dass die Handtücher nicht sorgfältig gefaltet waren. Und es gibt andere Beschwerden, bei denen ich sage: hier müssen wir handeln. Und für jene Patienten, die meinen, sie seien zu Unrecht nicht oder nicht rechtzeitig in einem Spital aufgenommen worden, haben wir extra eine Beschwerdestelle eingerichtet. Dies wirkt offenbar schon präventiv. Denn es gibt sozusagen keine Beschwerden.
Das klingt nach Mehraufwand. Ärzte beschweren sich wie Lehrer und andere Berufsgruppen darüber, dass sie sich mit immer mehr Bürokratie herumschlagen müssen.
Richtig – und das tun sie oft zu Recht. Aber das Beschwerdemanagement ist machbar und gibt mir die Sicherheit, als Gesundheitsdirektor sagen zu können, ob die Abläufe funktionieren oder nicht.
In der Qualitätssicherung geht es um Prozesse und um Standards, mit denen Laien nicht viel anzufangen wissen. Wie wichtig ist es für einen Patienten, der mit einer Lungenentzündung eingeliefert wird, ob die Notfallkoje über genügend Quadratmeter verfügt oder ob das Spital einen Standardprozess für die Dateneingabe in die Lungenentzündungsdatenbank hat?
Für den Patienten ist vor allem eines entscheidend: dass er möglichst schnell wieder gesund wird. Wichtig ist also alles, was zur Gesundung beiträgt. Es ist zweitrangig, ob für die Dateneingabe in eine Lungenentzündungsdatenbank ein Prozess beschrieben ist. Wesentlich ist für den Patienten und auch für zukünftige Patienten, dass die Einträge gemacht werden. Mit ihnen kann man den Langzeitverlauf dokumentieren. Ich unterstütze also die Dokumentation, will aber keine Vorschriften machen, wie das geschehen soll.
Wenn ich eine Lungenentzündung hätte, könnte ich doch gar nicht beurteilen, ob und welchen Standards der Arzt folgt. Was ich hingegen nach der Behandlung beurteilen kann, ist, wie ernst mich der behandelnde Arzt genommen hat, wie gut umsorgt ich wurde, wie effektiv die Kommunikation zwischen Hausarzt und Spital war. Welche Rolle spielen solch subjektive Eindrücke für die künftige Qualitätssicherung?
Die sogenannt weichen Faktoren sind für den Patienten meistens auch sehr wichtig, sie sind meistens auch das, was er seinen Verwandten und Bekannten erzählt. Was das Medizinische angeht, so verspricht sich der Patient in aller Regel, dass Ärzte und Pflegefachleute ihr Handwerk verstehen.
Stimmt. Nur: müsste die messbare Ergebnisqualität in Form von Ranglisten für Patienten nicht eine grössere Rolle spielen, wenn es um die Spitalwahl geht?
Theoretisch schon. Doch wie praxistauglich wäre dies? Nehmen wir ein anschauliches Beispiel: Wenn die Lebensmittelkontrolle etwas beanstandet, hat jeder Wirt das grösste Interesse, dass sein Restaurant nicht als Schmuddelbeiz bekannt wird. Er wird deshalb die Mängel so schnell wie möglich beheben. In einem Spital ist der Handlungsbedarf sogar noch grösser. Es wird so schnell wie möglich Massnahmen einleiten, um die geforderte Qualität wieder zu gewährleisten. Denn bei der Qualität in der Gesundheitsversorgung ist kein Patient bereit, Kompromisse einzugehen. Das ist nicht wie bei einem Hotelbewertungsportal, wo der Gast bereit ist, Qualitätsabstriche zu machen, wenn der Preis deswegen tiefer ist. Deshalb glaube ich auch nicht, dass sich eine Qualitätsrangliste unter den Spitälern erstellen und veröffentlichen liesse. Diese müsste ständig korrigiert werden, weil jedes Spital laufend seine Qualität zu verbessern versucht. Wie bei einem Restaurant soll deshalb der Patient davon ausgehen dürfen: wenn es offen ist, stimmt die Qualität.
Sie sind ehemaliger Unternehmer, Sie kennen die Vor- und Nachteile des Wettbewerbs. Wie gross ist Ihr Vertrauen in staatlich gelenkte Medizin?
Ich unterscheide mich vielleicht von einigen anderen Gesundheitsdirektoren, wenn ich offen sage: ich glaube an den Wettbewerb. Ich will nicht lenken, sondern den Wettbewerb spielen lassen. Eine Staatsmedizin ist auch nicht die Idee des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung. Vom Ideal sind wir jedoch noch ein grosses Stück entfernt.
Der Wettbewerb als Mittel zum Zweck?
Der Wettbewerb ist kein Selbstzweck. Er sichert Qualität und tiefe Preise. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass ein im Gesundheitswesen gelebter Wettbewerb gewisse Vorschriften braucht, die Qualität und Sicherheit gewährleisten. Wichtig ist, dass jeder Bürger und jede Bürgerin zu jeder Zeit Zugang zu Spitälern haben. Zwischen freiem Wettbewerb und diesen Ansprüchen braucht es also ein vernünftiges Mischsystem. Als Gesundheitsdirektor des Kantons Luzern muss ich den Service public einer Grundversorgung sicherstellen. Ansonsten würden die Spitäler nur noch anbieten, was für sie rentiert, spannend ist…
…und Reputation bringt.
Richtig. Hier muss ich als Gesundheitsdirektor Einfluss nehmen. Aber abseits davon lautet meine Devise: laufen lassen.
Dieses Mischsystem hat zur Folge, dass Sie darüber verfügen, mit welchen Spitälern und Ärzten Versicherer zusammenarbeiten müssen. Sie können auch entscheiden, wer Bauchspeicheldrüsenoperationen anbieten darf und wer nicht. Solche Entscheide bedeuten viel Macht in einem hochkomplexen System: Hand aufs Herz, fühlen Sie sich zuweilen überfordert?
Nein. Sie haben das Beispiel der Bauchspeicheldrüsenoperationen genannt. Geht es um solche, muss ich als Gesundheitsdirektor in erster Linie sicherstellen, dass ein Spital genügend Operationen dieser Art gemacht hat. Wenn ein Spital eine gewisse Anzahl von Operationen und Fällen nicht erreicht, bestünde die Gefahr, dass das Operationsteam wenig Routine und Erfahrung hätte. Dann muss ich handeln. Dies zu kontrollieren, ist keine Hexerei.
Weil das Prinzip gilt: wer hat, dem wird gegeben?
Nein. Es gilt: wer will, der kann mitmachen, wenn die Qualität stimmt. Egal ob privat oder öffentlich – ich behandle alle gleich.
Sie stehen aber dem Kantonsspital vor.
Der Kanton ist Eigentümer. Das Kantonsspital ist aber rechtlich verselbständigt. Die Tarife handeln Leistungserbringer und Versicherer alleine aus. Werden sich die beiden einig, genehmigt die Regierung die Tarife, sofern sie wirtschaftlich sind. Wenn sie sich nicht einig werden…
…was immer häufiger der Fall ist…
…ja, leider. Dann muss die Regierung einen Preis festsetzen. Die Parteien können dann bis vor Bundesverwaltungsgericht gehen. Also letztlich bestätigt ein Gericht den Preis – oder legt den Preis neu fest. Sie sehen, so viel Gewicht oder Einflussnahme habe ich nicht. Wichtig ist mir, dass alle Akteure gleich lange Spiesse haben.
Ich hake nochmal nach: wie kann Ihre Vielfachrolle im Interesse des Patienten sein?
Der Patient hat nicht nur ein Interesse an einer guten und umfassenden Versorgung im ganzen Kanton, er ist auch Prämien- und Steuerzahler. Der Kanton bezahlt 55 Prozent der stationären Kosten. Das sind jährlich rund 300 Millionen Franken Steuergeld. Ich glaube, dass es hier angebracht ist, wenn die Politik mitredet.
Der Vorwurf kleinerer Spitäler und gewisser Kantone lautet: mit der hochspezialisierten Medizin werde Machtpolitik betrieben und grosse Spitäler würden ihre Kosten decken und vorschreiben wollen, was wo operiert werden darf. Was geht Ihnen bei dieser Diskussion durch den Kopf?
Ich bin Mitglied des Beschlussorgans. Innerhalb des Gremiums werden sehr harte, aber konstruktive Diskussionen geführt. Es gibt einerseits die Extremposition, möglichst viel an wenigen Standorten zu konzentrieren, und auf der anderen Seite, möglichst alles in allen Regionen anzubieten. Aus Sicht von Regional- und Zentrumsspitälern ist es wichtig, dass sie ein gewisses Spektrum von medizinischen Leistungen anbieten können. Ansonsten wäre es wie im Falle eines Lebensmittelladens, dem verboten wird, Frischprodukte anzubieten. Wenn man einem Spital die spezialisierte Onkologie oder Viszeralchirurgie wegnähme, dann entzieht man ihm unter Umständen Möglichkeiten, auf die es angewiesen ist. Ein Spital muss spannende Arbeit anbieten, um gute Ärzte anziehen zu können.
Luzern ist ein Modellkanton mit einem öffentlichen und einem privaten Spital. Das öffentliche Spital arbeitet intensiv mit dem Kantonsspital Nidwalden zusammen. Sind Fusionen notwendig, um sich langfristig im Gesundheitsmarkt behaupten zu können?
Zusammenarbeit ist wichtig. Aber Zusammenarbeit ist nicht gleich Fusion. In Zukunft werden alle Arten von Spitälern noch enger zusammenarbeiten müssen.
Also auch Kooperationen zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Spitälern?
Diese sehe ich kommen. Wichtig ist, und hier stehen noch grosse Schritte bevor: in der Gesundheitsversorgung gibt es keine Kantonsgrenzen mehr. Das ist vorbei, fertig, erledigt. Ich komme nochmals auf den Wettbewerb zurück: dieser hat zum Ziel, dass sich die Patienten frei bewegen können – auch über Kantonsgrenzen hinweg.
Und wie entstehen solche Patientenströme? Ich meine: Wettbewerb bedeutet doch, dass ähnliche Anbieter um die Gunst der gleichen Patienten buhlen. Ist also eine Art Überangebot nötig oder gar gewünscht?
Ich greife wieder auf das Beispiel aus der Gastronomie zurück. Wir haben einen Ort mit zwei Restaurants und 100 Gästen, die gerne in Restaurants essen. Es wird nie einen Wettbewerb geben, wenn wir den Restaurants vorschreiben, dass sie nur je 50 Plätze haben dürfen. Die beiden hätten immer volles Haus und müssten sich gar nicht mehr anstrengen. Erst wenn beide so viele Plätze anbieten dürfen, wie sie wollen, entstehen Qualität, tiefe Preise und guter Service. Es braucht also letztlich ein leichtes Überangebot. Ich will nicht, dass Spitäler grosse Überkapazität haben. Diese kostet. Es muss jedoch in der Schweiz mehr Plätze haben als unbedingt nötig. Mich stört es nicht, wenn ein Spital mal leere Betten hat. Betten sind nur Möbelstücke. Und: ich plane keine Möbelstücke.
Kommen wir zum Schluss noch zur Kostenfrage. Ende September gibt das Bundesamt für Gesundheit die Krankenkassenprämien bekannt. Die Kosten steigen. Sind sie Ausdruck besserer Qualität?
Höhere Preise bedeuten nicht automatisch bessere Qualität. Die Preise steigen vor allem wegen des medizinischen Fortschritts, das heisst: bessere Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, aber besonders auch aufgrund der demographischen Entwicklung. Die Babyboomer kommen in das Alter, in dem sie mehr kosten als einzahlen.
Wie gross ist das Risiko, dass der allgemeine Kostendruck auf die Kantone dazu führt, dass man im Gesundheitswesen übermässig auf die Kosten fokussiert und andere Dinge aus den Augen verliert?
Wir kommen nicht um die Diskussion herum, welche Leistungen die soziale Krankenversicherung in Zukunft abgelten soll und welche nicht. Es geht dabei nicht darum, welche bisherigen Leistungen künftig nicht mehr bezahlt werden. Es geht um zukünftige Leistungen. Der medizinische Fortschritt hat vor allem positive, aber auch problematische Seiten. Ich denke an die ganze Stammzellen- und Genforschung. Man muss sich die Frage stellen, ob der zusätzliche Nutzen in einem richtigen Verhältnis zu den zusätzlichen Kosten steht.
Das Bundesgericht hat in einem Urteil entschieden, dass ein Lebensjahr bei guter Lebensqualität einem Betrag von 100 000 Franken entspreche.
Dass ein Gericht dies überhaupt beurteilen musste, hat mich sehr gestört.
Es handelt sich um eine extrem schwierige Frage, um die sich kein Gericht reisst.
Es ist und bleibt aus meiner Sicht eine ethische und politische Frage. Es gibt in Zukunft immer mehr medizinische Methoden und Medikamente, bei denen wir die Frage stellen müssen: Was ist der zusätzliche Nutzen für den Patienten? Was sind die zusätzlichen Kosten?
Das ist nun reichlich abstrakt. Worauf wollen Sie hinaus?
Ich zeige Ihnen an einem Beispiel die Mentalität der Schweiz: Ein Bürger geht in die Migros einkaufen. Er kann aus dem Teigwarenregal zu den M-Budget-Spaghetti greifen. Diese sind gut. Man merkt den Unterschied wohl kaum. Dieser Konsument kommt zum Schluss, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Jetzt geht die gleiche Person ins Spital. Im Spital will sie keine M-Budget-Produkte, sondern nur das Beste. Und zwar deshalb, weil sie es selbst nicht zahlen muss. Deshalb gibt es hier einfach Aufgaben, die die Politik lösen muss.
Wie genau?
So unangenehm und schwierig es ist: die Gesundheitsdirektoren müssen sich solchen Fragen stellen. Wir sagen alle, dass wir keine Zweiklassenmedizin wollen. Je länger wir zuwarten, desto eher geht die Entwicklung in diese Richtung. Es geht um 72 Milliarden Franken pro Jahr. Wir müssen den Mut haben, uns zu entscheiden. Entweder sagt man: wir geben dem Gesundheitsmarkt zusätzliche Mittel und akzeptieren die Kosten, oder wir stellen bei neuen Produkten, Medikamenten und Therapien konsequent die Kosten-Nutzen-Frage. Es wird schwierig sein. Einer 40jährigen Frau mit zwei Kindern ein Krebsmedikament zu verwehren, wäre ein enorm schwieriger Entscheid. Aber: der darf nicht den Gerichten überlassen werden.
Guido Graf
ist Regierungsrat des Kantons Luzern und leitet das Gesundheits- und Sozialdepartement. Vor seiner Wahl war er Kantonsrat für die CVP und führte sein eigenes Unternehmen, das gemeinnützige Organisationen managte.