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Zwischen mythischer  Überhöhung und  Geringschätzung: Die  wechselvolle Geschichte der Schweizer Neutralität
Marco Jorio, fotografiert von Daniel Jung.

Zwischen mythischer
Überhöhung und
Geringschätzung: Die
wechselvolle Geschichte der Schweizer Neutralität

Vor 350 Jahren wählte die Eidgenossenschaft aus innen- und aussenpolitischen Gründen die Neutralität. Seither wird immer wieder über ihre Bedeutung gestritten.

Als ich vor einigen Jahren meinen Historikerkollegen berichtete, dass ich eine neue Geschichte der Neutralität schreiben würde, erntete ich nur mitleidiges Lächeln und die Frage: «Warum willst du deine Zeit für ein so verstaubtes und überholtes Thema opfern? Neutralität ist passé! Jetzt ist internationale Kooperation angesagt.» Man lebte noch in der süssen, seit dem Mauerfall 1989 und der Implosion der Sowjetunion anhaltenden Illusion eines ewigen Friedens. Die Zeichen an der Wand übersah man: Kriege in Ex-Jugoslawien, das chinesische Machtstreben und vor allem das imperialistische Gehabe der Herren im Kreml. Die westliche Wohlstandsgesellschaft wollte (mit wenigen Ausnahmen) das bedrohliche Wetterleuchten im Osten nicht wahrhaben: Georgien, Moldawien, Tschetschenien und ab 2014 die Ereignisse in der Ostukraine. Und dann geschah am 24. Februar 2022 das Unfassbare: Ein europäischer Staat überfällt wie im 19. und 20. Jahrhundert einen souveränen Nachbarstaat. Über Nacht war sie wieder da, die Neutralität, und fiel der unvorbereiteten Öffentlichkeit vor die Füsse.

In den Medien und persönlichen Gesprächen konnte man feststellen, dass die Kenntnisse über die Schweizer Neutralität in den letzten dreissig Jahren gleichsam verdunstet sind. Wir können Neutralität nicht mehr! Der Verleger, der mich immer wieder ermunterte, die mühsame Geschichte der Neutralität voranzutreiben, prophezeite jedoch zu Recht: «Die Neutralität kommt zurück.» Inzwischen wurde wieder einiges an Know-how aufgebaut: So ist nun den meisten Medienschaffenden und Politikern klar, dass die Neutralität kein fest betoniertes Konzept ist, sondern situativ interpretiert werden muss. Auch die Unterscheidung zwischen den zwei Elementen ist wieder präsent: dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht, an das sich jeder neutrale Staat zwingend zu halten hat, und der Neu­tralitätspolitik, die jeder Neutrale selber verantwortet, um seiner Neutralität Glaubwürdigkeit zu verschaffen. In der öffentlichen Debatte gehen die verschiedenen «Neutralitäten» mit ihren Adjektiven – integrale, differentielle, aktive, kooperative – allerdings noch ziemlich wirr durcheinander. Ein babylonisches Sprachengewirr.

«In der öffentlichen Debatte gehen die verschiedenen ‹Neutralitäten› mit ihren Adjektiven – integrale, differentielle, aktive, kooperative – ziemlich wirr durcheinander. Ein babylonisches Sprachengewirr.»

 

Die Legenden von Bruder Klaus und Marignano

Ein Blick in die Geschichte erhellt vieles. Aber auch da müssen zuerst einige Mythen und Legenden entsorgt werden, die in den letzten Monaten zum Teil Wiederauferstehung feierten. So hat Niklaus von Flüe mit der Neutralität nichts zu tun. Der von den Nationalkonservativen um die SVP wieder ins Feld geführte angebliche Ausspruch «Mischt euch nicht in fremde Händel!» stammt gar nicht von ihm, sondern vom Luzerner Stadtschreiber Hans Salat, der ihn 1537 dem Eremiten im Ranft in den Mund legte. Bruder Klaus ging es in Stans um einen innereidgenössischen Kompromiss, nicht um Neutralität. Ebenso wenig ist die Schweiz auf dem blutigen Schlachtfeld von Marignano 1515 neutral geworden. Die Eidgenossen sind nicht «zur Besinnung gekommen» und haben die Neutralität angenommen, wie das bis heute immer wieder behauptet wird. Sie haben weiter wacker an Kriegen teilgenommen und sogar selber welche ausgelöst, wie etwa 1536 die Berner und ihre Verbündeten im Rahmen der Westexpansion den Feldzug gegen Savoyen zur Eroberung der Waadt.

Die moderne völkerrechtliche Neutralität konnte sich erst entwickeln, seit es souveräne Staaten und das Völkerrecht gab, also im 17. Jahrhundert. Das gilt auch für die Neutralität der Schweiz. Sie entstand im 17. Jahrhundert in einem längeren Prozess während des Dreissigjährigen Kriegs und der zahlreichen Kriege, die Ludwig XIV. entfesselte. Völkerrechtlich begann sie erst Wirkung zu entfalten, als die Eidgenossenschaft im Westfälischen Frieden 1648 aus dem Heiligen Römischen Reich ausschied und in den Rang eines souveränen Staates aufstieg. Die erste Neutralitätserklärung erliess die Tagsatzung 1674. Dass sich die Schweiz zur Neutralität beziehungsweise «zum stille Sitzen» – wie die Neutralität damals umschrieben wurde – entschloss, gründete in der strukturellen Unfähigkeit der staatenbündischen Schweiz, eine kohärente und machtbasierte Aussenpolitik zu betreiben, in den internen politischen und konfessionellen Streitigkeiten sowie in der geopolitisch exponierten Lage zwischen den kriegslüsternen Grossmächten Frankreich und dem Haus Habsburg.

Diese alteidgenössische Neutralität, die bereits im 18. Jahrhundert als Grund für den «Ruhestand» der Schweiz mythisch überhöht wurde, ging mit der französischen Besetzung der Schweiz 1798 unter. Zwar gewährte Frankreich auf Drängen der schweizerischen Politiker formal die Neutralität, aber die «Grande Nation» entschied, wie diese anzuwenden war. Es war die Phase der «Scheinneutralität», wie sie die beiden Neutralitätshistoriker Paul Schweizer und Edgar Bonjour nannten. Die heutige Neutralität entstand nach dem Sturz Napoleons in den Jahren 1813 bis 1815 und wurde nicht, wie eine andere Legende neuerdings verbreitet, der Schweiz auf dem Wiener Kongress aufgezwungen. Nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig sagte sich nämlich die Tagsatzung am 18. November 1813 von der französischen Vormundschaft los und proklamierte die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz. In den folgenden zwei Jahren versuchten die Schweizer Politiker hartnäckig, von den Monarchen und Ministern der siegreichen Grossmächte die Anerkennung ihrer frei gewählten Neutralität zu erwirken. Diese waren über die Neutralitätserklärung zuerst verärgert, wie zum Beispiel Metternich, oder desinteressiert. Der Wiener Kongress erklärte zwar in der Präambel zur Schweizer Erklärung vom 20. März 1815, dass die Neutralität im «allgemeinen Staatsinteresse Europas» liege, machte aber die formelle Anerkennung von der Ratifikation der Wiener Kongressakten durch die Eidgenossenschaft abhängig. Erst als diese vorlag, erhielt die Schweiz am Pariser Friedenskongress am 20. November 1815 die ersehnte Anerkennung. Die Grossmächte kümmerten sich aber auch dann noch nicht um die Schweizer Neutralität, so dass der eidgenössische Delegierte Charles Pictet de Rochemont die Erklärung selber verfassen musste.

Die Väter der Bundesverfassung von 1848 lehnten die Aufnahme der Neutralität in die Zweckbestimmungen des neuen Bundesstaates ab, da diese «kein konstitutioneller und politischer Grundsatz» sei, übertrugen aber in den sogenannten Kompetenzartikeln die Wahrung der Neutralität dem Bundesrat und der Bundesversammlung. Die Entstehung der kriegerischen Nationalstaaten entfachte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine völkerrechtliche Neutralitätsdiskussion, die 1907 ins «Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs» (Haager Abkommen) mündete, das noch heute von der Schweiz – als ziemlich einzigem Land – als fundamentale Grundlage des Neutralitätsrechts angewendet wird. Im Ersten Weltkrieg sicherte die Neutralität den durch Klassenkampf und Sprachenkonflikt zwischen Deutsch und Welsch gefährdeten inneren Zusammenhalt und wurde von den Kriegführenden im eigenen Interesse respektiert.

Widerwillige Übernahme von Sanktionen

Im Rahmen der europaweiten «Nie wieder Krieg»-Bewegung trat die Schweiz 1920 nach einer heftig geführten Volksabstimmung dem neu gegründeten Völkerbund bei. Bei dieser Gelegenheit anerkannten 27 Staaten in der Londoner Erklärung vom 13. Februar 1920 erneut die Neutralität. Sie entbanden die neutrale Schweiz von der Pflicht, an militärischen, nicht aber an wirtschaftlichen Sanktionen teilzunehmen. Die vorher praktizierte Neutralität ohne Adjektiv wurde nun zur differentiellen Neutralität. In dieser Ära unter Bundesrat Giuseppe Motta machte die Schweiz die ersten Erfahrungen mit Wirtschaftssanktionen. Nach der italienischen Aggression gegen Abessinien/Äthiopien 1935 übernahm die Schweiz – allerdings widerwillig und unvollständig – die vom Völkerbund verhängten Sanktionen. Da der Völkerbund seine friedenssichernde Mission nicht erfüllte, kehrte die Schweiz 1938 von der «differentiellen Neutralität» zur «integralen Neutralität» zurück. Auch dieser Begriff war neu, da es vor 1920 diese Bezeichnung nicht gab.

Der Zweite Weltkrieg war die grösste Prüfung für die Schweizer Neutralität. Der Bundesrat erliess zwar am 31. August 1939 wie in früheren Kriegen eine Neutralitätserklärung, welche die kriegführenden Staaten anerkannten, aber nicht respektierten. Es begann das grösste «Neu­tralensterben» der Weltgeschichte, wie es der Berner Historiker Walter Hofer nannte. Am schlimmsten trieben es die Achsenmächte, die ein neutrales Land nach dem anderen besetzten, vor allem Deutschland (Polen, Dänemark, Norwegen, Benelux, Jugoslawien) und Italien (Albanien, Griechenland), aber auch die Sowjetunion (Polen, Finnland, die drei baltischen Staaten). Selbst die Alliierten, welche die Welt (und die Schweiz) von der nationalsozialistischen und faschistischen Bedrohung befreiten, setzten sich über die Neutralität hinweg, wenn es ihnen nützlich erschien. So respektierten die Westalliierten wie zuvor schon die Deutschen die Luftneutralität der Schweiz nicht und trugen den jahrelangen Luftkrieg ungeachtet aller Proteste aus Bern in den schweizerischen Luftraum (mit schliesslich gegen 100 Bombentoten).

«Selbst die Alliierten, welche die Welt (und die Schweiz) von der nationalsozialistischen und faschistischen Bedrohung befreiten, setzten sich über die Neutralität hinweg, wenn es ihnen nützlich erschien. »

Beide Kriegsparteien führten völkerrechtswidrig einen unbarmherzigen Wirtschaftskrieg gegen die Schweiz (und andere neutrale Länder) und brachten unser Land mit dem doppelten, nur mühsam zu überwindenden Blockadering in existentielle Nöte. Mit der nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 eingetretenen fast vollständigen Einschliessung durch die beiden Achsenmächte wurde die Schweiz in den neuen, von Hitlerdeutschland beherrschten europäischen Wirtschaftsraum eingegliedert und zu neu­tralitätswidrigen wirtschaftlichen Konzessionen gezwungen, wie etwa den Krediten an Deutschland und Italien, der sogenannten Clearingmilliarde. Der Bundesrat hatte bei Kriegsbeginn ein Waffenausfuhrverbot verhängt, das dann aber auf Druck der Alliierten (nicht Deutschlands!) schon nach wenigen Tagen wieder aufgehoben wurde und aufgrund des neutralitätsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots ab 1940 zu Rüstungslieferungen aus privater Produktion ans Deutsche Reich und nach Italien führte. Nichtsdestotrotz führte Deutschland gegen die Schweiz jahrelang einen Propaganda- und Spionagekrieg. Der Bundesrat hielt sich, soweit es ihm möglich war, akribisch und sehr legalistisch an das Neutralitätsrecht, so dass Bundesrat Kaspar Villiger in den 1990er-Jahren während den aufgeregten Diskussionen um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg der Schweiz attestierte, sie habe die Neutralität «trotz unvermeidbaren zeitweiligen Abstrichen einigermassen durchgehalten».

Die Neutralität am Scheideweg

Noch mehr als nach dem Ersten Weltkrieg war die Neu­tralität 1945 international diskreditiert. Während die Neutralität vor 1914 ein legitimes Verhalten souveräner Staaten war, wurden die beiden Weltkriege von den Siegern, allen voran von den zeitweise selber neutralen USA, als «gerechter Krieg» («bellum justum») geführt und den Neutralen ihre Nichtbeteiligung als moralisches Unrecht vorgeworfen. Es brauchte Jahre, bis die Schweizer Neu­tralität in der internationalen Politik, etwa als neutrales Mitglied der Waffenstillstandskommission in Korea, wieder geschätzt wurde. Aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen mit dem Völkerbund und während des Zweiten Weltkriegs führte die Schweiz nach 1945 eine rigide Neutralitätspolitik zwischen den beiden Blöcken. Sie sah sich zwar ideologisch und wirtschaftlich fest im westlichen Lager verankert, vermied aber jede Teilnahme an multilateralen Institutionen, in denen sie eine politische oder gar militärische Dimension zu erkennen glaubte. Deshalb trat sie nicht der UNO bei und hielt Distanz zur europäischen Einigung. Das hinderte sie aber nicht, um 1950 auf westlichen, vor allem amerikanischen Druck hin die Embargopolitik gegen die kommunistische Sowjetunion und ihre Satelliten mitzutragen (CoCom). Ab 1960 lockerte der Bundesrat die strenge Neutralitätspolitik. So trat die Schweiz 1963 dem Europarat bei. In den 1970er-Jahren engagierte sie sich zusammen mit anderen neutralen und bündnisfreien Staaten in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, ab 1995 OSZE). Zudem begann das Land ab Mitte der 1960er-Jahre, von der UNO erlassene Sanktionen ganz oder teilweise zu übernehmen.

Der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks und die Auflösung der Sowjetunion um 1990 entzogen der Neutralität in Europa ihre geopolitischen Grundlagen. Der Ruf nach Aufgabe der nun angeblich obsoleten Neutralität wurde vor allem in akademischen Kreisen laut. Regelmässige Umfragen ergaben aber, dass die Schweizer Bevölkerung unverdrossen an der Neutralität festhielt. Immerhin gab eine Volksmehrheit ihren Widerstand gegen die UNO-Mitgliedschaft auf, so dass die Schweiz am 10. September 2002 als 190. Staat den Vereinten Nationen beitreten konnte. Mit dem Embargogesetz von 2002 gab sich der Bund die gesetzlichen Grundlagen, um wirtschaftliche Sanktionen der UNO, der OSZE und neu auch der «wichtigsten Handelspartner», sprich EU, zu ergreifen, wie es dann in verschiedenen Fällen geschah und jetzt angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine geschieht. Die in diesem Jahr gegen Russland ergriffenen Sanktionen sind also nicht Neuland, neu ist aber der Umfang der Sanktionen und die Tatsache, dass sie im Zusammenhang mit einem zwischenstaatlichen Krieg in Europa im Schlepptau von EU- und nicht UNO-Sanktionen erfolgten.

Heute steht die Schweiz mit ihrer Neutralität an einem Scheideweg. Soll sie diese in der heutigen Form, die am ehesten der differentiellen Neutralität der Zwischenkriegszeit entspricht, weiterführen, das heisst militärisch strikt neutral bleiben, aber wirtschaftliche Sanktionen ergreifen? Oder soll sie wie jüngsthin Schweden und Finnland die Neutralität aufgeben und der Nato beitreten? Oder soll sie – wie es die Volksinitiative zur «Wahrung der schweizerischen Neutralität» verlangt, zur «integralen Neutralität» zurückkehren? Auch wenn der Wortlaut der Initiative bekannt ist, bleibt unklar, was das für ein UNO-Mitglied und welt- und europaweit vernetztes Land heute bedeuten würde.

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Der Völkerbundsrat an seiner 100. Sitzung im Januar 1938, dem Schicksalsjahr für die Schweizer Neutralität. Bild: United Nations Archives Geneva.
Als die Schweiz zur integralen Neutralität zurückkehrte

1938 stimmte der Völkerbund dem Antrag der Schweiz zu, von der differentiellen zur integralen Neutralität überzugehen. Die «Schweizer Monatshefte» feierten diesen Schritt, wenn auch zurückhaltend. Ein Auszug aus dem 84jährigen Originaltext.

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