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Gerüchte als Informationsträger
Gregory Jones-Katz, zvg.

Gerüchte als Informationsträger

Die Pandemie lieferte den Startschuss einer breit angelegten Propagandakampagne der Kommunistischen Partei Chinas. In einer rundum zensierten Gesellschaft können Gerüchte die wahrheitsgetreuste Informationsquelle sein.

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Seit 2009 hat die chinesische Regierung rund 6,6 Milliarden Dollar ausgegeben, um ihre globale Medienpräsenz zu verbessern. Ich kann mir nur vorstellen, wie hoch die im Inland eingesetzten Mittel sind. «Totalitarismus», so schreibt es Christopher Lebron, Professor für Philosophie an der John Hopkins University in Baltimore, «ist eine Form der Staatsmacht, in der die herrschende Elite die Bedingungen der politischen und sozialen Existenz kontrolliert sowie die Entscheidungsfähigkeit der einzelnen Bürger untergräbt.»1 Lebrons Definition lässt sich sehr gut auf China anwenden, wo Desinformation ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Organisation ist. Besonders deutlich wurde das, als sich im Dezember 2019 Covid zu verbreiten begann.

Kontrollierter Informationsfluss

Während die Amerikaner mit ihren Smartphones vornehmlich Kontakte pflegen, ist das Smartphone in China vor allem ein Instrument zur sozialen Kontrolle durch die Regierung. Da es in China 1,3 Milliarden Nutzer gibt (bei knapp 1,5 Milliarden Einwohnern), ist das Potenzial hierfür enorm: Fast jeder ist für Desinformationen direkt angreifbar. «Eine gute Krise darf man nicht ungenutzt lassen», sagte Churchill einmal. Die Regierung Xi Jinping schien die Gelegenheit, die sich mit der Pandemie bot, beim Schopf gepackt zu haben. Doch die totale Kontrolle blieb auch in China mehr Wunschdenken als Realität.

In den frühen Tagen der Pandemie gab es Nachrichten auf WeChat – der allgegenwärtigen chinesischen Social-Media-App – und Plakate auf dem Campus, um die Präventions- und Kontrollmassnahmen zu verbreiten: Tragen Sie eine Maske, waschen Sie sich die Hände, gehen Sie auf Distanz. Hören Sie nicht auf Gerüchte und verbreiten Sie diese auf keinen Fall weiter. Im Laufe der Monate häuften sich merkwürdigerweise WeChat-Artikel über das vermeintliche Glücksbefinden der Ausländer hier in China: Den Berichten zufolge waren diese Expats dank der strengen Massnahmen des Landes frei von Infektionsängsten. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Propagandaschrift mit Fotos eines lächelnden weissen Briten mit seiner chinesischen Frau. Der Expat schwärmte von der chinesischen Staatsführung, er war sogar der Kommunistischen Partei beigetreten und hatte seine britische Staatsbürgerschaft zugunsten eines chinesischen Passes aufgegeben. Diese Darstellung ist vielleicht etwas übertrieben, doch das Land hatte für uns Expats in den frühen Tagen von Covid durchaus seinen Reiz: Chinas striktes, von oben verordnetes Pandemiemanagement schien effektiv, gerechtfertigt durch die Sorge um das Wohlergehen der Bürger. Etwa Mitte 2021, als sich die Bedingungen in unseren Heimatländern verbesserten und die Beschränkungen in China bestehen blieben, begannen wir Ausländer jedoch, China als positives Vorbild ernsthaft zu hinterfragen.

In den chinesischen Medien gibt es eine verdächtige Systematik: Negative innenpolitische Entwicklungen werden rasch von positiven Nachrichten aus der Berichterstattung verdrängt. Irreführung und Halbwahrheiten spielen eine grosse Rolle bei der Gestaltung einer politischen Atmosphäre, in der Desinformation nicht als solche erkannt werden soll. Die Gesamtzuwanderungsrate in China ist zwischen 2010 und 2020 um mehr als 40 Prozent gestiegen – waren es 2010 410 550 Zuwanderer, so wurden in der Volkszählung von 2020 845 697 Personen registriert. Diese Zahlen sind während der Pandemie zusammengebrochen – gleichzeitig verliessen vor allem hochqualifizierte Ausländer China in den Jahren 2021 und 2022 in Scharen und gingen zurück in den Westen. Im Widerspruch zu dieser Realität war auf WeChat in zahlreichen Artikeln zu lesen, wie in den USA durch Verleugnung und Inkompetenz bis Ende 2020 über 360 000 Amerikaner an Covid gestorben seien. Der mediale Fokus auf die angeblich erfolgreiche Null-Covid-Politik der Regierung sollte die Aufmerksamkeit von einer lückenhaften Impfkampagne weglenken: Die einheimischen Covid-Impfstoffe weisen nach wie vor Unzulänglichkeiten auf – auch wenn die offizielle Propaganda dies natürlich nicht einräumt. Viele ältere Chinesen, die teilweise sogar die Kulturrevolution der Mao-Ära miterlebt haben, vertrauen bis heute keinem Impfstoff und wehren sich deshalb mit Kräften gegen eine Impfung. Offenbar wagt die Kommunistische Partei aus Angst vor grossem Widerstand deshalb nicht, ältere Menschen zur Impfung anzuhalten.

«Irreführung und Halbwahrheiten spielen eine grosse Rolle bei der
Gestaltung einer politischen Atmosphäre, in der Desinformation
nicht als solche erkannt werden soll.»

Zudem mobilisierte die chinesische Regierung nationalistische Gefühle, indem sie Ausländer als Verursacher und Importeure von Covid-19 darstellte. Noch vor der Veröffentlichung eines US-Berichts über die Wuhan-Lab-Leak-Theorie startete die chinesische Regierung eine Desinformationskampagne zum Ursprung des Virus: Das offizielle Organ der KPCh veröffentlichte auf WeChat Artikel mit der Behauptung, Covid-19 komme von einer amerikanischen Militärbasis in Maryland.2 Zu den jüngeren nationalistischen Äusserungen der chinesischen Regierung, die Halbwahrheiten über Ereignisse und Krisen verbreiten, gehören jene von Wu Zunyou, dem Chef-Epidemiologen des China Center for Disease Control and Prevention. In einem über die sozialen Medien verbreiteten Beitrag auf seiner offiziellen Weibo-Seite schrieb er am 18. September 2022: «Um eine mögliche Affenpockeninfektion zu verhindern und als Teil unseres gesunden Lebensstils wird empfohlen, keinen direkten Haut-zu-Haut-Kontakt mit Ausländern zu haben.»3

Fast augenblickliche Zensur

In China widerspiegelt sich der Wert einer Information oftmals im Tempo, in welchem die Nachricht von den Behörden zensiert wird. Nach meinem Umzug nach Deutschland im März 2022 erlebte ich in Echtzeit, wie die chinesische Regierung WeChat kontrolliert, um eine Geschichte aus dem Verkehr zu ziehen. Eines Nachmittags sah ich, wie sich ein bestimmtes Video wie ein elektronisches Lauffeuer in dem sozialen Netzwerk verbreitete, nur um als Verstoss gegen die WeChat-Richtlinien gekennzeichnet und entfernt zu werden, vermutlich durch automatisierte Bots. Etwas Grosses, vielleicht gar Revolutionäres, war im Gange: Als jemand das Video auf einer Mirrorseite postete, machte ich sofort eine Bildschirmaufnahme, da es wohl jeden Moment aus den sozialen Medien verschwinden würde. Bald darauf erfuhr ich, dass es sich bei dem Video um «The Voice of April» (四月之声) handelte, also eine Sammlung von Audioausschnitten aus Gesprächen, die im April 2022 in Schanghai aufgezeichnet wurden – emotionale Schnipsel über das Schicksal der Menschen im härtesten stadtweiten Lockdown Chinas. Schliesslich verschwand das Video jedoch in der digitalen Leere: Es dauerte höchstens ein paar Stunden, bis WeChat, das selbst von der chinesischen Regierung überwacht wird, alle Links zu dem Video deaktiviert hatte.

«In China widerspiegelt sich der Wert einer Information oftmals im Tempo, in welchem die Nachricht von den Behörden zensiert wird.»

In einem solchen Umfeld kann ein früher Zugang zu Informationen den Unterschied machen, ob man vor einem plötzlichen Lockdown noch etwas zu essen kaufen kann – oder ob man einer Abriegelung gar ganz entgeht. Ein guter Freund von mir etwa verliess mit seiner Frau und seinem Sohn seine Wohnung an der Universität, kurz bevor wir in die totale Isolation gingen – obwohl es damals auf dem Campus keine Covid-Fälle gab. Da es zwischen der Entscheidung der Regierung und der Umsetzung neuer Massnahmen keine Verzögerung gibt, sind Gerüchte in China zu einer wertvollen Quelle geworden – auch wenn die meisten natürlich wissen, dass diese halbwahr oder gar völlig falsch sein könnten. In meinen sechs Jahren in China habe ich jedoch festgestellt, dass Gerüchte in der Regel die zuverlässigste Informationsquelle sind. Denn offizielle Verlautbarungen zur Pandemie sind meist Teil einer Propaganda- und Desinformationskampagne.

Gerüchte sind oft die einzige Möglichkeit, wahre Informationen informell und ohne Konsequenzen weiterzugeben – solange man das natürlich nicht für eine zu breite Öffentlichkeit tut. Ein befreundeter Taxifahrer etwa erzählte unter vier Augen, dass die Wirtschaftsleistung in Shenzhen entgegen den Aussagen der Regierung ziemlich schwach sei. Andere meiner chinesischen Bekannten schlossen sich dagegen voll und ganz den regierungstreuen Darstellungen an: Die USA zum Beispiel sind für sie ein gewalttätiges und fremdenfeindliches Land, in welchem Hassverbrechen gegen Asiaten und die weitverbreitete Waffenkultur völlig ausser Kontrolle geraten seien. Diese Haltung kombinieren sie mit einer Angst vor Ausländern und einem Stolz auf den von China eingeschlagenen Weg.

Auch bei unserer Flucht aus Shenzhen spielten Gerüchte eine bedeutende Rolle. Als es für mich und meine Familie an der Zeit war, China zu verlassen, lag unser Wohncampus noch immer im Lockdown. Wir hörten von erschreckenden Gerüchten, dass der reguläre Autoverkehr in und aus Shenzhen eingestellt worden war; eine Tante und ein Onkel eines chinesischen Freundes konnten die Stadt angeblich nicht mehr verlassen. Auch die Möglichkeit, mit der Bahn nach Schanghai zu fahren, um dort einen Flug zu nehmen, war nicht mehr gegeben: Wir befürchteten, dass unsere QR-Codes unterwegs plötzlich von «Grün» auf «Rot» wechseln könnten, was zu einer behördlich angeordneten Quarantäne führen würde. Glücklicherweise schenkten wir den Gerüchten Glauben und zweifelten an den staatlichen Ankündigungen über die vermeintlich bevorstehende Öffnung unseres Campus. Nach mehreren vereitelten Plänen und gestrichenen Flügen fanden wir schliesslich den Weg ins Ausland: Unter dem Versprechen, dass wir nicht in die Stadt zurückkehren würden, erhielten wir weniger als 48 Stunden vor unserer Abreise die Genehmigung zur Ausreise durch die örtliche Regierung. Um die Rechtmässigkeit unserer Reise zu gewährleisten, machte unser Taxifahrer beim örtlichen Krankenhaus einen kurzen Zwischenstopp, wo wir unsere abgestempelten negativen Covid-Testergebnisse abholten. Am Flughafen Guangzhou Baiyun bestiegen wir unser Flugzeug nach Amsterdam Schiphol – es war einer von nur zwei internationalen Flügen an diesem Tag, und das am angeblich «verkehrsreichsten Flughafen der Welt».

Noch im November 2022 teilte ein Mitglied einer WeChat-Diskussionsgruppe für Expats in China mit, dass seine Frau von einem Freund gehört habe, Guangzhou werde am Freitagabend wegen des Covid-Ausbruchs komplett abgeriegelt. Ein Gruppenmitglied schimpfte über die brodelnde Gerüchteküche. Ein anderes widersprach, bedankte sich für die Weitergabe von Insiderinformationen und forderte die Mitglieder auf, für sich selber zu urteilen und entsprechend zu handeln. «Geht, solange ihr noch könnt», dachte ich mir. Am nächsten Tag schrieb die Stadtverwaltung von Guangzhou in einer Mitteilung, man solle solchen Gerüchten keinen Glauben schenken – die Stadt würde nicht unter Lockdown gestellt. Die Realität sah jedoch anders aus: Etwa 85 Prozent der Stadtteile wurden abgeriegelt.

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