Einmarschiert, eingesickert, eingeschmolzen?
Die paradoxe Geschihte der Alamannen Die Geschichte der Einwanderung der Alamannen in die Schweiz hat selbst ihre bewegte Geschichte, die von der wechselnden Nachfrage nach mythischen Abgrenzungen und Identitäten abhängt. Nach heutigem Kenntnisstand sind die Alamannen eine ethnisch heterogene Gruppe, die sukzessive und relativ friedlich eingewandert ist.
Das heutige Nebeneinander, Miteinander, Übereinander und Gegeneinander der Kulturen, Völker und Sprachen in vielen Ländern, auch in der Schweiz, ist nicht erst ein Kennzeichen der Gegenwart. So besiedelten schon in den Jahrhunderten um die Zeitenwende keltische Stämme wie die Helvetier, dann die Römer und darauf die germanischen Stämme der Alamannen1 und Burgunder das Gebiet der späteren Schweiz. War die Geschichte also ein dauernd kochender «Melting Pot», der Völker, Traditionen und Kulturen zu einem Einheitsbrei vermischte? Wissenschaft, Politik und Volksmeinung waren und sind in dieser Frage keineswegs immer der gleichen Ansicht.
Wilde Krieger oder friedliche Siedler?
Die Schulgeschichtsbücher vermelden es oft nur mit knappen Worten, wie etwa die Helvetier von den Römern und diese von den Alamannen abgelöst wurden. Doch wie können wir uns diesen Prozess konkret vorstellen? Die schriftlichen Quellen präsentieren nur die Sicht der Römer. Ausgrabungen von Skeletten und Grabbeigaben rufen nach Interpretation. Da schlägt die Stunde interessengeleiteter Geschichtskonstrukteure. Ihre Konstruktionen wandeln sich aber selbst wieder im Laufe der Zeiten. Die britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger sprachen von den jeweils genehmen «erfundenen Traditionen».
Ein Beleg dafür ist die Geschichte, wie die Geschichte der Besiedlung Süddeutschlands und der Nordschweiz durch die Alamannen umgeschrieben wurde.2 Altbundesrat Arnold Koller, ehemaliges Mitglied der Schweizer Landesregierung, erinnerte sich, dass er in der Schule noch gelernt habe, wie «blutrünstige Alamannenhorden» einst ins «keltisch-römische Helvetien eingefallen» seien, um die romanische Zivilisation auszulöschen und den Raum der heutigen Nordschweiz ins dunkle Mittelalter zu stossen. Doch gab es nach 1900 in der deutschsprachigen Schweiz auch einmal eine positive Anknüpfung an alamannische Traditionen, etwa an die konservative bäuerliche Welt, aber auch an die Freiheitsliebe. Das schlug sich dann eine Zeit lang auch in Schweizer Schulbüchern nieder. Doch reichte diese Wendung nicht bis zu einem grenzüberschreitenden Kollektivbewusstsein des Alamannischen; das helvetische Abgrenzungsbedürfnis überwog.
Jenseits des Rheins war schon im 19. Jahrhundert Begeisterung für die Alamannen aufgekommen. In einem Gedicht von Felix Dahn, dem Autor damaliger historischer Bestseller-Romane, heisst es:
Wie heisst der deutsche Stamm, sagt an,
Der hier den schweren Kampf begann,
Mit Blut besprengend Tal und Strom,
Den langen Riesen-Kampf mit Rom?
Wer warf in todesfreudger Lust
Entgegen kühn die nackte Brust (…)
Und von der Donau strömten bald
Bis übern grünen Wasgen-Wald
Blondhaarig Volk, das Schwert und Pflug
Und deutsche Sprache westwärts trug
Und unausreissbar Wurzel schlug.
Die Sieger, die dies Land gewannen,
Es sind des Schwarzwalds Edeltannen –
Die hochgemuten Alemannen (…)
Der Erfolg solcher militanter Literatur im 19. Jahrhundert, aber auch der sanfteren Töne wie in Johann Peter Hebels «Allemannischen Gedichten» (1803), verdankt sich nicht zuletzt ihren Funktionen in den damaligen Frontstellungen: den Befreiungskriegen gegen Napoleon (der mit den Römern verglichen wurde), der Auseinandersetzung mit Begleiterscheinungen der Industrialisierung und später dem Kampf gegen ultramontane Bestrebungen Roms. Die Idee der Nation entsprang ja in Deutschland einer romantischen Rück-wendung zum ethnischen Volkstum (ethnos), nicht dem demokratischen Staatsdenken westlicher Länder (demos).
Was sagen nun die modernen historischen Wissenschaften zu dem Bild vom kriegerischen blonden Alamannen, der erst die Römer aus Südwestdeutschland, später aus der Nordschweiz vertrieben haben soll? Für eine kurze frühe Phase trifft diese Beschreibung bedingt zu: 259/260 überwanden Alamannen den römischen Limes, der Südwestdeutschland umschloss, und drangen auch bis in Schweizer und norditalienische Regionen vor. In der Folge erhielt etwa das im Zuge des früheren römischen Vorstosses nach Norden schon aufgegebene Vindonissa (Windisch) 260 eine neue Mauer und wurde wieder römischer Truppenstandort. Die Alamannen wurden wieder nach Norden zurückgedrängt.
In dem von den Römern vergebenen Namen «Alamanni» sehen ältere Autoren «Menschen oder Männer insgesamt, im Gesamten genommen»; «Alamanni» ist also ein Zusammenfassungs-, kein Herkunftsbegriff. Es ist ein erster Hinweis darauf, dass es um keine ethnisch einheitliche Gruppe ging. Experten glauben heute, dass mehrere elbgermanische Heerhaufen oder Stämme (ethnisch heterogen, aber mit einigen kulturellen Gemeinsamkeiten) über viele Generationen hinweg ins ehemals römisch besetzte Südwestdeutschland einsickerten und aufsiedelten, – nicht als kriegerischer Überfall. Zu dieser Zeit hatte die römische Verwaltung Südwestdeutschland schon verlassen; denn das Römische Reich stand damals in einem Mehrfrontenkampf gegen Germanen, Goten und Perser und trug schwer an internen politischen Konflikten. Insbesondere nach der Niederlage der Alamannen gegen die Franken 496 wurde der Schweizer Norden nach und nach alamannisch besiedelt, als Landnahme zwischen den verbliebenen keltischen Helvetiern und römischen Veteranen.
Historische Identitätspolitik
Die Identität der Deutschschweizer speiste sich im Lauf der Geschichte recht selektiv aus unterschiedlichen Wurzeln. Spätestens seit dem Schwabenkrieg 1499 nahm die Begeisterung der Eidgenossen für alamannische Gemeinsamkeiten erst einmal ab, während die positive Rückbesinnung auf die Helvetier blieb. Als Leitdifferenz galt lange der Gegensatz von edlen Helvetiern und wilden, unzivilisierten Alamannen. Gleichwohl behielt die alamannische Sprache ihre Prägekraft. Während sich in der burgundischen Westschweiz das Latein zum heutigen Französisch entwickelte, blieb von den Alamannen, dass heute vom Rhein bis zu den Alpen Deutsch gesprochen wird. Die Romands nennen diesen Teil noch heute Suisse allemande, in den romanischen Sprachen wurden die Alamannen pars pro toto zum Namen der Deutschen insgesamt: les Allemands, los alemanes, os alemães.
Gegenseitige Abgrenzung, Trennung und Vermischung von Ethnien und Kulturen bleiben ein historischer Dauerbrenner – unterschiedlichen Traditionen lassen sich politisch höchst selektiv immer wieder neu instrumentalisieren. Der Soziologe Niklas Luhmann stellte dazu fest: «Die Gegenwart braucht eine zu ihr passende Vergangenheit.» In Zeiten beschleunigten gesellschaftlichen Wandels und verstärkter Migration wird immer wieder durch Ethnisierung reagiert. Von ihr wird ein heimeliges Wir-Gefühl gegen die Differenzierung der Moderne erhofft. Die Berufung auf tiefe, gemeinsame ethnische Wurzeln wie im Falle der Alamannen gerät dann zum Paradoxon, weil die Alamannen selbst ein ethnisches Gemisch waren.
Klaus Wahl ist Sozial-wissen-schafter am Deutschen Jugend-institut und Privatdozent an der Universität München. Er vertritt eine interdisziplinär geöffnete Tiefensoziologie und forscht u.a. über inter-ethnische Beziehungen, Fremden-feind-lichkeit und Aggression. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören: «Kritik der soziologischen Vernunft. Sondierungen zu einer Tiefen-soziologie», Velbrück Wissenschaft 2000; Klaus Wahl (Hg.), «Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention», Leske +Budrich 2003.