
Nachsitzen mit Orwell
An amerikanischen Schulen hat sich ein ganzer bürokratischer Apparat dem Kampf für Diversität und gegen Rassismus verschrieben. Das geht nicht nur auf Kosten der Bildungsqualität, sondern treibt zuweilen auch absurde Blüten, wie mein Sohn erfahren musste.
«Warum der kleine Johnny nicht lesen kann» interessierte Hannah Arendt wenig. In ihrem Essay «The Crisis in Education» (1954) ging es ihr mehr darum, einen Keil zwischen Erziehung und Politik zu treiben. Erziehung sollte der nächsten Generation nicht wie in Autokratien und Diktaturen üblich als politisches, revolutionäres oder utopisches Instrument aufgezwungen werden, sondern Kindern ein neues und zeitgemässes In-der-Welt-Sein ermöglichen.
Das ist auch fast 70 Jahre später noch relevant. Derzeit allerdings ist Klein Johnnys (und Joans) Leseschwäche aktueller: Gemäss Standardtests und Studien1 stagniert oder sinkt die Lehrqualität im öffentlichen US-Schulsystem vielenorts. Absolventen der öffentlichen Schule lesen und rechnen immer schlechter – trotz alljährlichen Ausschüttungen von über einer Dreiviertelbillion Dollar.
Man mag das als Spätschäden pandemischer Lockdowns und des Fernunterrichts sehen oder die Schuld Smartphones und Social Media in die Schuhe schieben. Auch sollte man wie immer nicht die ganzen USA über einen Kamm scheren: Zwischen verschiedenen Gliedstaaten und gar innerhalb desselben Schuldistrikts bestehen grosse Unterschiede bezüglich Finanzierung und Lehrerfolg (bis zur Hälfte des Schulbudgets basiert auf Immobiliensteuern und Spenden der lokalen Elternschaft). Aber Fakt bleibt, dass das den Schulen hinterhergeschmissene Geld in puncto akademischer Ergebnisse eine bescheidene Wirkung hat.
Anekdotisch kann ich das bestätigen: In den District of Columbia Public Schools sind Lehrmittel und Lehre schwach. Das gilt selbst in der für ihre «Exzellenz» preisgekrönten früheren Schule meines Sohns in einer Nachbarschaft Washingtons (neben San Francisco eine linksliberale Hochburg der USA), wo das Durchschnittseinkommen rund 190 000 Dollar beträgt. Ich kenne Eltern, die im Schulbezirk eine Immobilie kauften, um automatisch in die betreffende Schule zu kommen, weil das billiger kam als die Privatschule vom Vorkindergarten bis zur 8. Klasse. Dennoch: Selbst an einer «guten» Schule wie unserer sind Lehre und Lehrkörper mittelmässig, die Logik des Lehrplans löchrig, weil soziale Gerechtigkeit Grammatik und Naturwissenschaften ausbootet.
Zwar gehen gemäss dem National Center for Education Research landesweit 80 Prozent der Schulausgaben ans Personal. Allerdings sind viele Lehrkräfte jung und unerfahren. Nicht wenige geben nach ein paar Jahren auf, unter anderem wegen niedrigen Einstiegssalären, problematischen «inner-city kids» und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten, die im Namen von «Diversity, Equity and Inclusion» (DEI) «guten» Schulen zugelost werden. Immerhin: Schaffen es Lehrer bis in die Schuladministration, winken sechsstellige Saläre.
Aber wofür eigentlich? In meiner Erfahrung hauptsächlich dafür, um Eltern aller Art (nicht nur überfürsorgliche Helikoptereltern) weit weg vom Schulalltag ihrer Kinder zu halten, um DEI und Antirassismus zu pushen beziehungsweise daraus entstehende Probleme zu bewältigen.
Anonyme Beschwerde
Was dies für Blüten treibt, durfte ich selber erleben: Im Frühjahr 2022 summte mein 12jähriger Siebtklässler in der Schule einen Song des Rappers Nas von dessen Album «Illmatic» nach. Quellengetreu repetierte er dabei das auf «Trigger» reimende «N-Word», was ein Klassenkamerad hörte und gleich lauthals kundtat. Die Schulleitung wurde bei den Eltern vorstellig und mein Sohnemann von Kommilitonen wochenlang als «Rassist» gebrandmarkt. Der Einwand, dass es sich um ein Zitat eines Liedtextes eines preisgekrönten afroamerikanischen Künstlers mit sozial gerechter Stossrichtung handle, fruchtete nichts. Die Schule müsse den Vorfall an die Schulbehörde melden. Nach sechs Monaten Stille klingelte das Telefon, und ein Mitarbeiter der CARE-Abteilung («Comprehensive Alternative Resolution and Equity») der Schulbehörde bat, mit meinem Sohn zu sprechen. Es liege eine anonyme Beschwerde vor. In einem 15minütigen «Interview» verhörte der Beamte meinen mittlerweile 13jährigen Achtklässler, ob er oder seine Eltern Rassisten seien, was das Kind eines Schweizers und einer Afrolatina verneinte.
«In einem 15minütigen ‹Interview› verhörte der Beamte meinen 13jährigen Achtklässler, ob er oder seine Eltern Rassisten seien.»
Abgesehen von dem erneut geweckten Trauma meines Sohns, ein Rassist zu sein, und von meiner kochenden Galle ob Denunziations- und Verhörmethoden, die der Stasi alle Ehre machen, geschah danach wiederum:…

Weiterlesen?
Dieser Artikel ist in Ausgabe 1111 – November 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
Abo lösen