«Dann nennen Sie mich eben einen Neoliberalen!»
Er will die Staatsfinanzen sanieren, den Sozialstaat reformieren und die Förderung alternativer Energien durch mehr Markt vorantreiben. Martin Bäumle, Vordenker der Grünliberalen Partei, gibt sich pragmatisch und unideologisch. Doch spricht hier ein Neoliberaler der neuen Generation?
Herr Bäumle, Sie hetzen zurzeit von Termin zu Termin. Wir wollen ein ruhiges Gespräch führen. Wie viel Zeit haben wir?
Lassen Sie mich kurz prüfen [konsultiert sein iPhone]. In zwei Stunden habe ich den nächsten Termin. Reicht das?
Das kommt hin, wenn wir gleich in medias res gehen. Die Grünliberale Partei (GLP) wird als offene Bewegung wahrgenommen, die sich um schwammige Begriffe wie «nachhaltig», «sparsam» und «pragmatisch» formiert hat. Steckt dahinter Kalkül?
Je kleiner eine Partei ist, desto beweglicher und bewegter ist sie. Wenn sie wächst, braucht es mehr Strukturen, festgelegte Abläufe, klare Programmatik. Ich möchte den Charakter einer Bewegung, den wir trotz Wachstum haben, bewahren. Denn was ist das Schicksal aller Parteiprogramme? Man schafft zwanghaft eine inhaltliche Gemeinsamkeit, die sich zuletzt als Illusion herausstellt. Für viele Parteien ist das Programm eine Art Bibel, an die sich aber kaum jemand hält.
Irgendwann kommt die Stunde der Wahrheit, und die GLP muss Farbe bekennen. Sie muss sagen, wofür sie steht.
Wir haben am Anfang Leitlinien für eine nachhaltige Politik und seither schrittweise Positionspapiere erarbeitet. Es ist klar, wofür wir stehen. Aber es ist Zeit, die Dokumente leicht zu überarbeiten. Ich arbeite an einem schlichten Papier von maximal drei Seiten, in dem unsere Prinzipien knapp und klar formuliert sind. Diese Prinzipien brechen wir dann situativ auf die Tagespolitik herunter und leiten konkrete Positionsbezüge ab: in der Umweltpolitik, in der Finanzpolitik, in der Sozialpolitik, in der Migrationspolitik. Im politischen Alltag ist immer auch Flexibilität und Pragmatik gefragt.
Das klingt nach politischem Opportunismus.
Falsch. Es ist genau umgekehrt. Ich will Opportunismus vermeiden, indem ich mich an klare Prinzipien halte. Es ist wie mit dem Staat: er sollte sich auf die Definition klarer Rahmenbedingungen beschränken, statt alles im voraus regeln zu wollen – das schützt ihn vor Immobilität und gibt ihm die nötigen Handlungsspielräume.
Meine These ist: die GLP ist die Partei für Unentschlossene, für Nachhaltigkeitsanhänger und urbane Asketen.
Unentschlossene? Nein. Unsere Mitglieder haben eine Grundhaltung, aber sie sind keine Ideologen. Nachhaltigkeitsanhänger? Definitiv. Nachhaltigkeit ist unser Kerngedanke. Aber warum urbane Asketen?
Weil Sie die 2000-Watt-Gesellschaft anstreben, und die funktioniert nur, wenn wir auf einen Teil unseres Wohlstands und unserer zivilisatorischen Errungenschaften verzichten.
Falsch. Wir wollen die 2000-Watt-Gesellschaft ja nicht morgen per Befehl von oben einführen – es geht um eine Vision, die wir Schritt für Schritt anstreben. Die GLP will nicht zurück in die Steinzeit, sondern vorwärts in eine Zukunft, in der nachhaltiges Wirtschaften und Wohlstand keinen Widerspruch mehr darstellen.
«Nachhaltigkeit» ist ein Modebegriff, mit dem heute viele Unternehmen, Produkte und Parteien werben. Er bedeutet alles und nichts. Können Sie als Nachhaltigkeitspapst den Begriff verbindlich definieren?
Ich kann Ihnen sagen, was wir darunter verstehen. Bei den Ressourcen: nicht mehr verbrauchen, als wir erzeugen. Bei den Finanzen: nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen. Beim Sozialen: nicht mehr versprechen, als wir halten und finanzieren können. Diese drei Bereiche bilden ein Ganzes und sollten sich im Gleichgewicht befinden. Aufgabe einer nachhaltigen Politik ist es, dieses Ganze im Auge zu behalten. Ist das konzis genug?
Ja. Aber das sind elementare Grundsätze, an die sich jede Hausfrau halten muss, wenn sie ihr Kässeli im Griff haben will.
Schön wär’s! In der Politik ist nachhaltiges Wirtschaften zumeist nur mehr ein frommer Wunsch. In der Exekutive sind alle stark im Geldausgeben, unabhängig von der Parteizugehörigkeit; das weiss ich als Finanzvorstand des bürgerlich dominierten Stadtrats von Dübendorf – mehr Geld bedeutet mehr Stimmen, das sind nun mal die Anreize in der Politik. Im Parlament sind es eher die Linken, die einen Leistungsausbau des Staates fordern – und für viele ist die Frage, woher das Geld kommt, letztlich sekundär, weil ja stets die anderen bezahlen. Der Bund ist so in den letzten zwanzig Jahren stets gewachsen. Von Sparmassnahmen oder Leistungsabbau zu sprechen, ist deshalb falsch. Nicht die Staatsausgaben wurden reduziert, sondern bloss das Ausgabenwachstum – und dies wohlgemerkt in einem bürgerlich dominierten Parlament. Es ist manchmal wirklich anstrengend, den Anwalt des gesunden Menschenverstandes zu spielen.
Sie sagen, dass Politik zu grossen Versprechungen und also zu grossen Ausgaben tendiert. Konsequenterweise müssten Sie für die Einführung eines eidgenössischen Finanzreferendums sein. Damit würde die Politik an die Kandare genommen.
Das Volk sollte nicht über das Budget abstimmen können, weil das Parlament auch autonom arbeiten können muss, wenn es gut
arbeiten soll. Aber über grössere Projekte wie den Bau eines AKWs oder den Ausbau der Nationalstrassen kann das Volk von mir aus gerne entscheiden. Es braucht jedoch auch parlamentsinterne Mechanismen, die das nachhaltige Wirtschaften stärken – eine höhere Gewichtung der Finanzkommission, die das Budget überwacht, und eine Ausdehnung der Schuldenbremse auch auf ausserordentliche Ausgaben und auf die Sozialwerke wären angesichts des Schuldenwachstums schon lange angezeigt.
Der Sozialstaat beruht in weiten Teilen auf Versprechungen, die er nicht halten kann. Sie wollen ihn reformieren?
Die Idee des Sozialstaats ist einfach und gut: wer verunfallt, krank wird oder seinen Job verliert, fällt nicht ins Bodenlose, sondern wird von einem staatlichen Notnetz aufgefangen. Das Netz ist als Trampolin konzipiert: sobald die Person wieder arbeiten kann, muss sie sich wieder um Arbeit bemühen – unabhängig davon, wie gross oder gering ihr Beitrag zur Volkswirtschaft ist. Das Netz ist keine Hängematte. Es darf nicht sein – aber heute ist es in weiten Teilen leider so –, dass es sich jemand behaglich darin einrichtet und auf Kosten anderer lebt. Der Staat hat die Aufgabe, die Anreize so zu setzen, dass sich einerseits Arbeit lohnt, anderseits jedoch niemand ohne etwas dasteht. Das ist echte Solidarität und Fairness. Alles andere ist Willkür.
Das sind klare Worte, die ich so von Ihnen nicht erwartet hätte.
Warum? Das ist bloss die Idee, die unserem Sozialstaat zugrunde liegt. Vor 20 Jahren war ich sozialer gesinnt, vielleicht müsste ich im Rückblick sagen: sozialromantischer. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass man durch Spendabilität den Menschen nicht wirklich hilft – wirklich geholfen ist ihnen nur, wenn sie eine Arbeit, eine Aufgabe, einen Sinn haben. Um eine Arbeit müssen sie sich aber selber bemühen. Der Staat kann ihnen bloss dabei helfen. Natürlich gibt es in der GLP Nuancen, wie viel der Staat helfen soll. Ich gehöre zweifellos eher zu den strikteren.
Sie haben in Dübendorf und Bern bewiesen, dass Ihnen Sparsamkeit am Herzen liegt. Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der GLP. Auch die anderen sich bürgerlich nennenden Parteien haben sich Nachhaltigkeit auf ihre Fahnen geschrieben…
… bei der FDP sind das reine Lippenbekenntnisse. Der Schutz der Umwelt hat seinen Preis, und sobald beispielsweise sich irgendein grösseres Unternehmen ansatzweise über neue Auflagen beklagt, knickt die Partei ein. Für die SVP ist Umweltschutz kein Thema, wobei sie noch nicht begriffen hat, dass allein eine nachhaltige Politik eine intakte Heimat garantiert. Dann wäre da die CVP, die oft ein verlässlicher Partner ist, ihre Umweltposition aber nicht gefestigt hat. Mit Rot-Grün arbeiten wir in der Umweltfrage am besten zusammen, obwohl die SP die Umwelt gerne auch hintanstellt, wenn es um den Verlust von Arbeitsplätzen geht, und die Grünen einen Hang zum Utopismus haben…
…lassen wir die Rhetorik der Parteienpolitik beiseite. Sie haben den Anspruch, Ökologie und Ökonomie zu versöhnen. Faktisch bedeutet jedoch mehr Ökologie mehr Regulierung, mehr Subventionierung, also mehr Bürokratie, also mehr Staat, also weniger Ökonomie. Das ist der Grund, weshalb Sie in diesem Bereich gut mit den Linken zusammenarbeiten.
Das stimmt so nicht. Zwischen Ökologie und linkem Etatismus gibt es keinen zwingenden Zusammenhang. Ich bin für einen starken, aber schlanken Staat, der klare Rahmenbedingungen setzt, nachhaltig wirtschaftet und seine Umwelt nicht zulasten künftiger Generationen ausbeutet. Der Staat muss sich fokussieren, um zu funktionieren. Und er muss die Anreize so setzen, dass die wichtigen Probleme angegangen werden.
Wer sagt, was wichtig ist?
Das geben in einer Demokratie Gesellschaft und Politik vor. Es geht stets um gesellschaftlichen Konsens, um politische Kompromisse. Deshalb ist der Staat am Ende nicht so schlank, wie ich ihn gerne hätte, was mich aber nicht davon abhält, mich für einen schlanken Staat einzusetzen. Dadurch mache ich mich in der Politik nicht immer beliebt. Damit kann ich jedoch leben.
Ein starker, aber schlanker Staat, Anreize, Rahmenbedingungen – Sie argumentieren wie ein Neoliberaler.
Die Neoliberalen wollen einen schlanken, aber keinen starken Staat. Die 1968er skandierten einst: «Macht aus dem Staat Gurkensalat!» Heute hat die SVP das Erbe der 1968er angetreten…
…das ist ein falsch verstandener Begriff von Neoliberalismus. Was alle Neoliberalen nach dem Zweiten Weltkrieg verband, war die Ablehnung des Laissez-faire, wie es der klassische Liberalismus des 19. Jahrhunderts vertrat. Die Neoliberalen wollten einen starken Staat, der Markt durchsetzt und Wettbewerb fördert. Der neoliberale Staat setzt auf Anreize statt auf Verbote – die Individuen entscheiden, wie sie handeln, doch hat das Handeln seinen Preis.
Dann nennen Sie mich eben einen Neoliberalen – mir kommt es auf Begriffe nicht so an! Ich bin ebenso ideologieindifferent wie die Wähler meiner Partei. Wen wollen Sie mit solchen Debatten über Kapitalismus oder Sozialismus noch hinter dem Ofen hervorlocken?
Immerhin ist die GLP die einzige Schweizer Partei, die den Begriff «liberal» im Namen trägt. Wer sich in die Tradition des Liberalismus stellt, sollte zum Liberalismus auch eine Meinung haben.
«Liberal» heisst erst einmal, auf Vernunft und Wettbewerb der Ideen zu setzen und andere Meinungen auszuhalten. Sodann hat der Begriff in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht eine klare Bedeutung, wobei sich die beiden Bereiche überlappen. Wir finden: jeder soll nach seiner Façon glücklich werden, solange nicht der Staat seinen Lebensunterhalt finanziert. Und wir setzen auf marktwirtschaftliche Mechanismen, um unsere Ziele zu erreichen. Das ist die Idee hinter unserer Initiative, die Mehrwertsteuer durch eine Energiesteuer zu ersetzen. Warum um Himmels willen sollen wir in einem Land, in dem die Wertschöpfung absolut zentral ist, ebendiese Wertschöpfung mit einem Satz von acht Prozent besteuern und dadurch künstlich verteuern? Viel besser wäre es doch, stattdessen die nichterneuerbaren Energien zu besteuern, die wir aus dem Ausland beziehen, um damit unsere erneuerbaren Energien im Inland zu fördern – das ganze kostenneutral und ohne Zwang über Preissignale.
Das war nun ein Werbespot pro Etatismus. Sie verknüpfen hier zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Die Mehrwertsteuer ist unsinnig – also schaffen wir sie ab! Warum aber sollen wir sie dann ausgerechnet durch eine Energiesteuer ersetzen, die uns wieder neue Belastungen aufbürdet?
Wir haben uns gefragt: wie können wir unsere Umweltziele in einer möglichst liberalen, effizienten und kostenneutralen Weise erreichen? Die Initiative ist unsere Antwort auf diese Frage. Die Energie ist heute zu billig – hier spielt der Markt gerade nicht.
Wie kommen Sie denn darauf?
Die externen Kosten der Energieproduktion werden nicht berappt. Wer haftet letztlich für die Umweltschäden, die durch Energieproduktion und -freisetzung entstehen? Die Volkswirtschaft, also letztlich Sie und ich…
…also müssten Sie aus radikalliberaler Perspektive dafür plädieren, Umweltgüter zu privatisieren. Nur wo klare Eigentumsverhältnisse bestehen, spielt der Markt und etablieren sich Preise.
Ich bin für Privateigentum – aber alles zu privatisieren, wäre falsch. Wie wollen Sie das freigesetzte CO2 in der Atmosphäre mit einem realistischen Preis versehen? Das ist nicht praktikabel. Wir haben einen politisch machbaren Weg gewählt. Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens darüber, wie hoch die CO2-Grenze sein soll. Ausgehend von dieser Zielvorgabe setzt die Politik eine Lenkungsabgabe fest – nimmt der Staat mehr Geld ein als geplant, gibt er den Überschuss den Steuerzahlern zurück; nimmt er weniger ein, erhöht er die Lenkungsabgabe. Das ist ein einfaches, effizientes und transparentes Verfahren, um die Umweltziele zu erreichen.
Also bestimmt letztlich die Politik, was der Preis ist. Das ist Etatismus in Reinkultur.
Nein, letztlich bestimmt es die Gesellschaft. Das ist auch richtig so. Denn es ist auch die Gesellschaft, die für Umweltschäden haftet bzw. sie am Ende berappt. Wer bezahlt den Preis für das CO2 von morgen? Die Gesellschaft von morgen. Nehmen Sie die AKWs. Wer haftet für das Risiko eines Super-GAUs? Der Staat und damit der Steuerzahler von heute. Wer übernimmt das Risiko der Endlagerung auf Zehntausende von Jahren hinaus? Die Gesellschaft von morgen. Der Markt ist hier verzerrt. Müssten die AKWs diese Risiken versichern, wäre Atomstrom heute massiv teurer, wahrscheinlich sogar teurer als Strom aus erneuerbaren Energien.
Das ist eine steile These.
Keineswegs. Es dürfte sich heute keine Versicherung finden, die das Risiko von – sagen wir – Mühleberg versichert. Oder wenn, dann nur zu einem exorbitanten Preis, den das AKW nicht bezahlen kann. AKWs sind too big to fail.
AKWs könnten sich zusammentun und eine Versicherungslösung erarbeiten.
Dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden. Dann würde endlich der Markt spielen – und wahrscheinlich sehr bald kein Atomstrom mehr produziert. Nach meinen Schätzungen würde eine Kilowattstunde Atomstrom aufgrund der Versicherung für einen möglichen Super-GAU 15 bis 25 Rappen mehr als heute kosten, wobei aufgrund der Versicherung für die Lagerung des Atommülls nochmals mindestens 15 Rappen hinzukommen dürften. Damit wären wir bald einmal bei 35 bis 50 Rappen angelangt – die erneuerbaren Energien wären damit absolut konkurrenzfähig. Aber noch wichtiger: wenn Energie teurer wird, werden die Anstrengungen zunehmen, Energie zu sparen. Die Energieeffizienz bietet heute das grösste Potential – mit verhältnismässig wenig Geld kann man sehr viel bewirken.
Wäre die Energie massiv teurer, würde dies das Ende des Zeitalters der Mobilität bedeuten. Dabei sind es dieselben Leute, die das Reisen preisen und angeblich kein Problem damit haben, die Energie zu verteuern. Das ist schizophren.
Mobilität würde ja nicht abgeschafft, sondern bloss mit einem realistischen Preis versehen, was konkret heisst: nicht durch eine implizite Staatsgarantie auf billigen Strom quersubventioniert. Und wenn dem tatsächlich so sein sollte – wäre das wirklich schlimm? Schauen wir uns mal die Anreize an. Als Nationalrat bekomme ich ein Generalabonnement, was mich dazu verführt, während der Session zwischen Dübendorf und Bern hin- und herzupendeln. Dabei könnte ich in Bern bleiben und mit meinen Kollegen ein Abendbier trinken. Ist diese Reiserei wirklich ein Gewinn für die Menschheit?
Ist das die Frage? Das muss doch jeder für sich selbst entscheiden.
Genau. Da aber der Strom zu billig ist und der Mensch zu Trägheit neigt, trifft er unsinnige Entscheidungen. Wenn er bereit ist, den wirklichen Preis der Pendlerei zu bezahlen, nun wohl, dann soll er das tun.
Die ökologische Bewegung kommt ja eigentlich aus der konservativen Ecke: es geht um die Bewahrung der Natur. In der Extremform ist Ökologie zu einem Religionsersatz geworden. Die Natur wird uns ohnehin überleben. Warum also die Sorge?
Aus ganz egoistischen Motiven – wir sind dumm, wenn wir uns mutwillig die eigenen Lebensgrundlagen entziehen. Zugleich haben wir eine Verantwortung gegenüber unserer Umwelt, die darüber hinausgeht…
…das ist genau diese Vergötterung der Natur, die auf mich wirkt, als würde sie einen Restbestand an religiöser Naturverehrung enthalten.
Ich bin religiös absolut neutral und ein total säkularer Mensch. Es geht hier nicht um Verehrung, sondern um Achtung und Verantwortung gegenüber dem Leben. Wir sollten zu unserer Umwelt Sorge tragen, selbst wenn uns dies im Augenblick etwas mehr kostet. Das ist die Basis eines gesunden und nachhaltigen Lebens.
Aber ist es auch finanzierbar?
Klar. Der Markt wird uns dabei helfen, es zu realisieren.
Natur ist per definitionem dynamisch, Arten entstehen und sterben. Woher kommt diese grüne Fixierung auf den herrschenden Zustand?
Ich sehe keine Fixierung. Wollen Sie, dass Ihre Kinder noch wissen, wie ein Wal aussieht?
Das ist jetzt sehr romantisch. Natürlich sind Wale imposante Tiere. Aber wenn ich mich zwischen einem Wal und bitterer Armut entscheiden soll, wähle ich für mich und meine Kinder den Verzicht – auf beides.
Sie konstruieren da einen künstlichen Gegensatz. Aber Sie dürften mir zustimmen, wenn ich sage: die Natur ist ein komplexes System, das über Rückkoppelungen funktioniert – wir wissen oft gar nicht, welche Konsequenzen unsere Eingriffe haben. Deshalb ist Vorsicht bloss ein Gebot der Vernunft. Ich betone: Vorsicht, nicht Untätigkeit.
Dennoch haftet der grünen Bewegung etwas Konservatives an. Das kommt beispielsweise in einer neuen Initiative der Umweltschutzorganisation Ecopop zum Ausdruck. Sie will die jährliche Einwanderung auf 0,2 Prozent der Bevölkerung begrenzen, um – so die offizielle Begründung – Umwelt und Natur zu schützen.
Diese Frage musste ja kommen. Ich finde es höchst arrogant, wenn man als Mitglied einer 8000-Watt-Gesellschaft vom hohen Ross herab predigt, die Zuwanderung sei nach rein numerischen Kriterien zu begrenzen, um die Umwelt zu schonen. Erstens braucht die Schweiz Zuwanderung – wichtiger als die Frage nach der Quantität ist die Frage nach der Qualität. Die Schweiz profitiert von qualifizierten Arbeitskräften, die uns Wertschöpfung bringen. Zweitens sollten wir, bevor wir über eine numerische Begrenzung der Einwanderung nachdenken, den Energiekonsum drosseln und die Zersiedelung stoppen. Mit verdichtetem und nachhaltigem Bauen könnten in der Schweiz sicher doppelt so viele Menschen wie heute leben – bei gleichem Energie- und Infrastrukturkonsum.
Wie konservativ sind Sie eigentlich?
Früher war ich einerseits sozialer und anderseits konservativer. Die Grünen waren in den 1980er Jahren sozial bewegt und in weiten Teilen auch ziemlich stark bürgerlich geprägt. Heute bin ich liberal und pragmatisch. Ich habe das Machbare im Visier. Meine philosophische Phase liegt hinter mir. Utopien und Wunschdenken behindern uns bloss auf dem Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft.
Warum genau 2000-Watt-Gesellschaft? Das ist letztlich Willkür.
Als Vision. Wir gehen von einer nachhaltigen und machbaren 3000- bis 4000-Watt-Gesellschaft aus. Und nun sollten wir endlich versuchen, unser Ziel auch tatsächlich zu erreichen.