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«Schweizerisch wäre es, sich gar nicht erst einschüchtern zu lassen»
Michael Steiner, fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

«Schweizerisch wäre es, sich gar nicht erst einschüchtern zu lassen»

Diversity-Vorgaben bevormunden die Künstler, sagt Filmemacher Michael Steiner, der nun eine Serie dreht. Ohne staatliche Förderung, sagt er, gäbe es keine Schweizer Serien.

Herr Steiner, können Sie sich an einen einprägsamen ­Serienmoment in Ihrem Leben erinnern?

Meine erste Erinnerung ist «Motel». Das musste ich 1984 mit meinen Eltern schauen und fand es fürchterlich. Der schlimmste Moment war diese Liebesszene zwischen Jörg Schneider und Silvia Jost. Stell dir vor, du bist in der Frühpubertät und musst mitansehen, wie diese – aus meiner damaligen Sichtweise – unförmigen, alten Menschen etwas miteinander haben!

 

Wann wurde das Format für Sie interessant?

Ich habe mich schlichtweg nicht mit Serien befasst, ich wollte ja Spielfilme drehen. Eine Serie? Das war für mich die «Lindenstrasse» – was mich einfach nicht angesprochen hat. Es wurde erst durch «24» anders, das war eine Revolution in der Dramaturgie von Serien. Mein Film «Grounding» ist formal von «24» inspiriert. In den letzten Jahren wurden die Serien zu wahren Epen, man denke an «Peaky Blinders», «Babylon Berlin», «Breaking Bad», «Narcos» etc.

 

Worin besteht die Schwierigkeit, eine Serie zu produzieren?

Serien sind Knochenarbeit. Beim Spielfilm drehe ich 2 bis 3 Minuten pro Tag, kann mir einige Takes erlauben, wenn mal etwas nicht stimmt. Bei Serien produziert man 6 Minuten am Tag, hat also weniger Zeit für alles. Dafür brauche ich oft Improvisationsarbeit mit den Schauspielern, damit die Szene schnell inszeniert werden kann. Das ist der Obolus der Serie für mich als Regisseur.

 

Kann die Serie etwas, das der Film nicht kann?

Eine ganze Menge! Der Film ist in der Regel etwas zwischen 80 und im Maximalfall, siehe «Oppenheimer», 180 Minuten. Er hat einen dramaturgischen Bogen, der in dieser Zeit von A nach B geht. Die Serie hat auch Bögen, die man aber zeitlich anders ziehen kann. Die beste Serie, die je gedreht wurde, ist «Game of Thrones».

 

Warum?

Weil sie mit Moral anders umgeht als etwa «Der Herr der Ringe», was als Spielfilmreihe daherkommt, aber eine höchst moralische Serie ist. Das Gute und das Böse sind sehr klar gezeichnet, denn Tolkien war ein konservativer Mensch. «Game of Thrones» versucht etwas ganz anderes. Dort herrscht trotz mittelalterlicher Kulisse eine pseudorömische Moral, und genau dieser Kontrast schockiert die Zuschauer. Dramaturgisch ergibt das sehr interessante Wendungen. Es werden Hauptfiguren aufgebaut, die plötzlich sterben. Das bannt den Zuschauer an den Schirm – im Sinne von: «Hey, mein Lieblingscharakter ist tot, wie kann diese Serie überhaupt weitergehen?» Es ist kein Wunder, dass man beim Schauen von «Game of Thrones» süchtig wird.

 

Solche trickreichen Wendungen sollten doch auch hierzulande möglich sein.

Ja, aber dafür braucht es Mut bei der Kreation und ein offenes Denken. Das Problem in Europa ist, dass es eine Unterscheidung zwischen kommerziellem Film und «Autorenkino» gibt. Letzteres wird dadurch definiert, dass jemand das Drehbuch schreibt, Regie führt und selber produziert – wie das auch Quentin Tarantino oder James Cameron machen, beides klassische Autorenfilmer. Ich habe das auch mal in Solothurn bei den Filmtagen erwähnt, aber das Publikum hat nur die Nase gerümpft, weil es diese Regisseure für Kommerzfilmer hält. Diese Unterscheidung ist wie eine Schere im Kopf, bei den Förderern, den Machern und teils auch bei den Sendern.

 

Wie schätzen Sie die Schweizer Serienkultur allgemein ein?

Die letzten Produktionen, ob «Neumatt», «Die Beschatter» oder «Wilder», wurden alle für das Publikum gemacht, das tatsächlich noch vor dem Fernseher sitzt, also im Durchschnitt 65 Jahre alt ist und älter. Weil die Sender hier den staatlichen Auftrag ausführen, Serien für ihr Publikum zu produzieren, die sie dann auch schauen, kommt es zu den bekannten Resultaten. Hätte man früher versucht, ein jüngeres Publikum anzusprechen, und wären die Quoten egal gewesen, hätte das wohl etwas bewirkt – siehe den Erfolg von «Tschugger» im Online-Streaming.

 

Und was ist der technologische Stand der Dinge?

Live-TV stirbt, ausser bei Live-Events wie Sport oder dem Eurovision Song Contest. Man kann anhand der ansteigenden Geriatriekurve verfolgen, wer entweder das Fernsehen im irdischen Sinne verlässt oder auf Streamer umsteigt. Während der Pandemie vollzog sich die Digitalisierung auch in der älteren Generation. Wer aber auf der Website des Schweizer Fernsehens nach etwas sucht, fühlt sich wie ein Deutschsprachiger in einem rätoromanischen Dorf: Von Radiobeiträgen bis zu Sportvideos ist alles vermischt, die ältere Generation kann man so nicht abholen. Die Lösung liegt bei «Play Suisse», der Streamingplattform des SRF. Man muss die Menschen aber zuerst dorthin führen und das braucht Marketing und Geduld. Die ARD hat das mit ihrer Mediathek sehr schlau gemacht. Ihre Serie «Asbest» war nur in der Mediathek zu sehen und hat ein neues Publikum auf die Plattform gebracht, die übrigens sehr gut organisiert ist.

«Live-TV stirbt. Man kann anhand der ansteigenden Geriatriekurve

verfolgen, wer entweder das Fern­sehen im irdischen Sinne verlässt

oder auf Streamer umsteigt.»

Kürzlich sorgten Sie für Auf­regung, weil Sie darüber berichtet haben, wie Ihnen die Zürcher Filmstiftung (ZFS) Diversity-Vorgaben nahegelegt hat, deren Beachtung natürlich total freiwillig sei …

Das musste mal gesagt werden. Die «Checkliste Diversität» soll helfen, «die Welt abzubilden ohne Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Alter, körperlichen Einschränkungen, Hautfarbe, Herkunft» und so weiter. Seitens der ZFS hiess es, die Liste spiele keine Rolle, sie sei nur als Hinweis zu verstehen. Aber warum formulieren sie dann so was? Ich würde das verstehen, wenn in der Schweiz Filme gedreht worden wären, die Minderheiten ausklammerten oder eine rechte Agenda als Botschaft gehabt hätten. Aber solche Filme gab es nie, im Gegenteil, viele Schweizer Filme von 1970 bis dato beschäftigen sich mit Minderheiten. Diese Liste klingt für mich wie ein Mantra des eigenen Glaubens, den es zu verteidigen gilt. Aber gegen wen? Moralische Richtlinien in der Beurteilung von Kunst bevormunden den Künstler, dem unbewusst eine Anordnung beigelegt wird. Böse gesagt erinnert mich das an eine dunkle Zeit des letzten Jahrhunderts.

«Moralische Richtlinien in der Beurteilung von Kunst bevormunden

den Künstler, dem unbewusst eine Anordnung beigelegt wird.

Böse gesagt erinnert mich das an eine dunkle Zeit des letzten Jahrhunderts.»

Wie schätzen Sie den Diversity-Hype gesellschaftspolitisch ein?

Der kommt in der Schweiz zu spät und ist im Vergleich zu den USA obsolet. 1990 habe ich Zürich zum letzten Mal visuell als herkunftsschweizerisch erlebt. Heute haben wir mehr als 30 Prozent Ausländeranteil hier, was man auch sieht. Ich höre aber nur selten von Ausgrenzung und Übergriffen. Anders als in Berlin, Paris oder London haben wir keine Ghettoisierungen – Zürich ist eigentlich ein Leuchtturm der gelungenen Integration. Der Rest der Schweiz grösstenteils auch.

 

Woher kommt es, dass jüngere Menschen so oft auf dieses kategorisierende Denken abfahren?

Wegen der Digitalisierung, die bei vielen offensichtlich den Eindruck hinterlässt, ein Niemand zu sein. Und um kein Niemand zu sein, muss man sich mit irgendetwas profilieren. Die Woke-Bewegung hat in den USA begonnen, als sich Vertreter von Minderheiten teils sogar berechtigt als Opfer dargestellt haben, um auf sich aufmerksam zu machen, vorwiegend im universitären Umfeld. Das führte zu einer Abgrenzung, an deren Ende die Cancel Culture steht. Abgrenzung aber führt automatisch zu Segregation. Die amerikanischen Ideen fallen nun in unsere Gesellschaft ein, unter anderem auch ins Fernsehen und in die Förderungen.

 

Gibt es Gegenbeispiele?

Die Serie «Sex Education» auf Netflix zum Beispiel. Die ist total woke, aber sie funktioniert, weil nichts erzwungen ist und keine erzieherische Absicht im Vordergrund steht. Wenn man aber staatlicherseits vorgibt, dass ein Schauspieler dieses oder jenes sein muss, tut das vor allem dem Schauspieler weh, weil er dann zu Recht denkt, er habe die Rolle nur beispielsweise wegen seiner Hautfarbe bekommen, nicht wegen seines Könnens.

 

Wenn es sich so verhält, wieso springen Schweizer Kultur­institutionen so auf den Diversity-Trip auf?

Vielleicht liegt das an einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl, als Schweizer alle Trends zu verpassen. Wenn eine Redaktion einen woken Schwarmangriff erlebt, fühlt sich das als repräsentative Meinung an. Schnell hält man dann einen Sturm im Wasserglas für die Vox Populi. Und weil man – sehr schweizerisch – niemandem auf die Füsse treten will, verhält man sich kooperativ. Die «Checklisten» des SRF und der ZFS sind in meinen Augen darum unschweizerisch. Schweizerisch wäre es, sich gar nicht erst einschüchtern zu lassen. Es ist das Privileg der Jugend zu rebellieren. Es ist aber auch das Privileg des Alters, darauf zuerst mal stoisch zu reagieren.

 

Vergeudet die Schweiz damit ihr reales Potenzial?

Von den finanziellen Möglichkeiten und der Intelligenz her hätten wir das Silicon Valley werden können, aufgrund der Mentalität jedoch sind wir nicht mal in dessen Nähe gekommen. Zug als Topstandort für Kryptowährungen zeigt ja, zu was die Schweiz imstande ist, wenn es nur um Geld geht. Die Schweiz ist eine Geldnation und kein Innovationsland mehr. Der Mythos von hart arbeiten und etwas erreichen ist eine Lüge, die meisten meiner reichen Freunde arbeiten gar nichts und machen aus viel Geld noch mehr Geld.

 

Wie gehen Sie vor, wenn Sie Besetzungen vornehmen?

Woher die Schauspielerinnen und Schauspieler kommen, ist mir egal. Meryl Marty und Dardan Sadik habe ich nicht wegen ihrer Herkunft für die «Beschatter» gecastet, sondern einfach, weil sie die besten Schauspieler für die Rollen waren. Ich habe mir dabei nicht überlegt, dass sie Vertreter von Minderheiten sind, das ist gar nicht in meinem Kopf drin. Und ich weise auch nur darauf hin, um zu sagen, dass sich diese Checkliste von alleine erfüllt, wenn die Qualität der Arbeit im Vordergrund steht. Und wenn man einfach die Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten und Talente einschätzt und nicht aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe.

 

Wie schätzen Sie die politisch rechts von der Mitte stehenden Identitären ein?

Den angstbesetzten Begriff der «Zehnmillionenschweiz» kann man im dystopischen Sinne doch wirklich nur dann in den Mund nehmen, wenn man älter als 75 ist und mental verkalkt. Das Mittelland kann man noch gut überbauen: Allein im Laufe meines Leben haben wir drei Millionen Menschen integriert, und das Land ist dabei nicht verarmt oder verroht. Als Roger Köppel vor ein paar Jahren von «Dichtestress» in der Schweiz sprach, lebte ich gerade in Manila, einer 12-Millionen-Megalopolis, und dachte mir: Wovon redet der bloss?

 

Macht der Staat genug für die Serienkultur?

Die Serienkultur dieses Landes existiert nur wegen der staatlichen Förderung – ohne die gäbe es hier gar nichts, auch keine Spielfilme. Auch in Deutschland funktioniert das Serienformat nur mit staatlicher Hilfe – die Privatsender produzieren lediglich Soap Operas, die billigste Form der Serie. Würde TeleZüri eine Serie produzieren, fiele die Handlung in etwa so aus: «Heute sehen wir, wie ein Tramfahrer fast vom Blitz getroffen wird und anschliessend fast ein Haushaltsunglück hat!» Glück-im-Unglück-TV. Wenn ich Serienverantwortlicher wäre beim Fernsehen, würde ich schauen, dass die Bergwelt so oft wie möglich integriert wird, denn die Alpen stehen einfach da und sind internationaler Production Value. «Wilder» gefällt mir z.B. vor allem wegen der Landschaftsaufnahmen im Jura. Dem hiesigen Zuschauer auch, weil er sich damit identifizieren kann.

 

Kann man also ein gesellschaftliches Milieu ausmachen, das Serien schaut?

Sicher, die Sender haben ja diese Kästchen, die das aufschlüsseln. Ich habe immer den Witz gemacht, dass auf der Fernbedienung im Altersheim nur noch die «Eins» geht. Alle anderen Knöpfe funktionieren nicht, und die «Eins» ist schon ganz abgewetzt. Ich bin 54 und gucke höchstens noch Sport live. Die Schönheit der Digitalisierung besteht aber darin, dass du als Produzent etwas machen kannst, das nicht auf die Zuschauer eines Senders abzielt, sondern auf Genres, für die sich international ein Publikum findet. Die Zuschauer haben auch hierzulande angefangen, spanische, israelische oder koreanische Serien zu schauen, siehe «Squid Game». Das ist ein geniales Format. Mörderische Kinderspiele! Das war ein Volltreffer in die Psyche von Kindern und Jugendlichen.

 

Digitalisierung ist also produktive Konkurrenz?

«Die Beschatter» und «Neumatt» werden auch auf Netflix ausgestrahlt. Wenn man ein Funksignal nach aussen sendet, kommt es oft auch an. Dafür muss man versuchen, nicht nur das eigene Klientelgärtlein zu pflegen. Produzieren wir eine «Heidi»-Serie gezielt für das Ausland, schlüge das vermutlich in Asien wie eine Bombe ein. Auch wenn in der Schweiz dafür Kritik laut würde. Wir sollten damit beginnen, über die Grenzen hinauszudenken.

«Produzieren wir eine ‹Heidi›-Serie gezielt für das ­Ausland, schlüge das vermutlich in Asien wie eine Bombe ein.»

Was sind Ihre aktuellen Projekte?

Ich arbeite an der zweiten Staffel der «Beschatter». Das Ziel ist, die Mischung aus Humor und Krimi-Spannung noch besser hinzubekommen. Das Format ist innovativ und deswegen auch schwieriger, weil es nicht eine reine Krimi-Serie ist. «Die Beschatter» ist meine erste Serie. Wie es theoretisch geht, weiss ich, praktisch bin ich noch am Ausprobieren.

 

Wie geht es weiter mit dem Genre der Serie als solchem?

Ich hoffe, dass die Streamer langfristig weiterhin einen guten Einfluss auf die Serienlandschaft haben werden. Das ist aber nicht einzuschätzen, denn die Gefahr, dass man mit dem Geschäftsmodell kein Geld mehr machen kann, ist real. Sky zum Beispiel hat alle Produktionen per sofort eingestellt. Die machen zwar richtig Kohle mit Fussball, können es sich aber trotzdem nicht mehr leisten, Serien zu machen. Wie lange es noch mit Netflix, Disney, Amazon etc. gut weitergeht, weiss auch keiner.

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