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(2/2) Zurück zu den Prinzipien!

Mehr Universalismus, weniger Bilateralismus

Eine gute Aussenpolitik braucht Verlässlichkeit. Das historisch tief verankerte Neutralitätsprinzip und das handelspolitisch gewachsene Universalitätsprinzip wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durch das auf Freiwilligkeit abgestützte Solidaritätsprinzip und durch das permanente Angebot Guter Dienste zu einem robusten Zielviereck ergänzt. Bis in die 1970er Jahre basierte die Aussenpolitik der Schweiz auf diesen vier Grundsätzen, die bei Bedarf durch völkerrechtliche Verträge – vornehmlich mit Nachbarstaaten – ergänzt wurden.

Das Viereck setzte und setzt einen festen Rahmen, der jene internen Gewichtsverschiebungen ermöglicht, die zwar Spielräume offenlassen, aber ein Abgleiten in den reinen und auch für Dritte unberechenbaren Opportunismus verhindern. Prinzipientreue schafft auf die Dauer eine höhere Verlässlichkeit als vertragliche Vereinbarungen. Der Respekt vor einem Staat ist eine entscheidende aussenpolitische Grösse, und dieser Respekt fusst nicht nur auf der tatsächlichen wirtschaftlichen und militärischen Macht, sondern auch auf der Glaubwürdigkeit und Beständigkeit der praktizierten Grundsätze.

Der Berner Völkerrechtler Rudolf Bindschedler hat 1963 in dieser Zeitschrift zum Thema «Grundlagen der schweizerischen Aussenpolitik» eine konzise Lagebeurteilung publiziert.* Sie enthält Überlegungen, die bis heute und wohl noch für lange Zeit Geltung beanspruchen können – über die Zeitenwende von 1989 hinaus. Einige Kernsätze liegen seinen Überlegungen im Sinne kritischer Prämissen zugrunde: «Die Aussenpolitik jedes Staates beruht auf mehr oder weniger unveränderlichen Gegebenheiten.» Oder: «Alles in allem kann der Charakter der [Schweizer] Bevölkerung wohl als arbeitsam, nüchtern und ausdauernd, aber nicht frei von Illusionen und gelegentlicher Selbstüberschätzung umschrieben werden.»

Für Bindschedler steht fest, dass eine flexible Anpassung an neue Lagen zum Wesen der Aussenpolitik gehört. Es ist der Vorzug von Maximen und Grundsätzen, dass sie nicht vollständig widerspruchsfrei sind und dass sie deswegen interpretiert werden können und gelegentlich auch müssen. Aber wenn es darum geht, bewährte Prinzipien an neue Gegebenheiten anzupassen, mahnt er mit guten Gründen zur Vorsicht. Sorgfalt und Bedächtigkeit, historischer Tiefgang und Weitblick sind dabei unabdingbar.

Bindschedler bezieht sich in seinem Essay wiederholt auf Machiavelli, den Begründer des politischen Realismus. Damit betont er den hohen Stellenwert grundlegender Erkenntnisse, die im Lauf der Geschichte entdeckt worden sind und die sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam wandeln. In der aktuellen Auseinandersetzung um eine allfällige aussenpolitische Neuausrichtung vermisst man diesen Respekt vor der historischen Verankerung. Der Stellenwert dieser Grundsatztreue, die Berechenbarkeit schafft, wird gegenüber dem Stellenwert einer permanenten Anpassungsbereitschaft im Sinne eines konzilianten Vertragspartners massiv unterschätzt. Es zeugt von gefährlichem Wunschdenken, wenn man die heutige Staatenwelt als eine durch vollstreckbares Völkerrecht vertraglich vernetzte Gemeinschaft von Vertragsgemeinschaften deutet.

Das Prinzip der Universalität steht eigentlich dem Bilateralismus entgegen, der heute zu Unrecht als einzig mögliche Alternative zur EU-Integration angepriesen wird. Das Universalitätsprinzip verlangt eine grundsätzliche Gleichbehandlung aller möglichen Partner und bietet Offenheit nach allen Seiten, ohne schon spezifische Gegenleistungen auszuhandeln. Die Universalität ist das völkerrechtlich aktive Pendant zur Neutralität.

Ein Freihandelssystem beruht eigentlich auf dem universellen Angebot von Offenheit und Nichtdiskriminierung in der Aussenhandelspolitik und auf der Nichtangriffswilligkeit im sicherheitspolitischen Bereich. Es ist mit dem Risiko verbunden, dass andere sich nicht daran halten, und basiert auf dem Kalkül, dass es sich längerfristig trotzdem bezahlt macht.

Wer bilateral verhandelt, schafft hingegen ein Binnensystem, das eigentlich dem Freihandel widerspricht und Autonomie in vertraglich vereinbarte Abhängigkeit verwandelt, bei der der jeweils Mächtigere zumeist den Ton angibt.

Man ging und geht in der Schweiz zu unbedacht von den drei falschen und polemisch formulierten Varianten «Alleingang», «bilateraler Weg» und «Integration» aus. Damit macht man schon in der Terminologie Konzessionen, die zu einem unreflektierten und unnötigen Verzicht führen. Wer offen und eigenständig handelt, ist nicht allein, sondern im spontanen Verbund mit seinesgleichen (d.h. mit andern, die die Chancen und Risiken der Offenheit und Freiheit nutzen wollen). Der Entscheid, für welche Waren und Personen man die Grenzen öffnen oder schliessen will, kann durchaus unilateral gefällt werden, und der konsequente Unilateralismus ist die Strategie, die dem Prinzip der Universalität am besten gerecht wird. Wer bilaterale Vereinbarungen anstrebt, verzichtet auf mögliche Handlungsspielräume, und wer sich integriert, erkauft sich die allfälligen Vorteile des Verbundes mit dem Verlust an Handlungsfreiheit.

Bilateralismuskritiker haben recht, wenn sie die bilaterale Improvisation nicht zur alleinseligmachenden und ewig weiterzupraktizierenden Doktrin emporstilisieren wollen. Kluge Köpfe haben schon früh vor einer allgemeinen Bilateralismuseuphorie gewarnt. Wir tun auf jeden Fall gut daran, den Begriff zu entmythologisieren. Schliesslich sind die häufigsten und alltäglichsten Verträge zweiseitig, also bilateral.

Dennoch oder gerade deshalb ist Vorsicht angebracht. Tatsächlich ist bei den Bilateralen nur eine Vertragspartei klar definiert: die Schweizerische Eidgenossenschaft. Die andere Seite ist schwerer fassbar. Die EU ist als Völkerrechtssubjekt ein Mixtum von Realität und Programm. Sie ist kein Staat und hat keinen Status, sondern ist ein Prozess mit ungewissem Ausgang und mit einer nur vage strukturierten und demokratisch schlecht legitimierten Willensbildung. Sie wird in der Fachliteratur als «Staatengemeinschaft sui generis» bezeichnet. Wie soll also ein dauerhafter Konsens mit einem Vertragspartner möglich sein, dessen Zusammensetzung und dessen politisch verbindliche Willensäusserung derart labil ist und unberechenbar bleibt?

Die Meinung, die EU könnte sich unter der aktiven Beteiligung eines Mitglieds Schweiz (die ihre diesbezüglichen jahrhundertealten Erfahrungen einbringen könnte) in einen funktionierenden direktdemokratischen, föderalistischen, mit einem wirksamen verfassungsrechtlichen Schutz der Lokalautonomie, der Minderheiten und der individuellen Freiheit ausgestatteten Bundesstaat entwickeln, ist gefährliche Hybris. Sie hat mit der von Bindschedler zu Recht kritisierten Tendenz zur Selbstüberschätzung zu tun.

Man ist generell – vielleicht unter dem Druck branchenbezogener Sonderinteressen – auch auf der Seite der Gegner eines EU-Beitritts zu leichtfertig auf die Salamitaktik eines bilateralen «Mittelwegs» (mit einer kontinuierlichen Anpassung in kleinen Schritten) eingestiegen. Nun bezahlt man einen hohen Preis an Unglaubwürdigkeit gegenüber allen Seiten. Der Ruf «Zurück zu den Prinzipien!» kann deshalb durchaus auch als zukunftsweisendes Motto Geltung beanspruchen.

*«Schweizer Monatshefte», 43. Jg., April 1963, S. 2 ff.

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