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Wirtschaftsdemokratie wagen

Demokratische Politik und die bestehenden politischen Institutionen verlieren zusehends an Gewicht. Und internationale Finanzmärkte werden zum Taktgeber gesellschaftlicher Entwicklungen. Deshalb braucht es eine Demokratisierung der Wirtschaft. Diese setzt dort an, wo sich zu viel Macht ballt.

Wirtschaftsdemokratie wagen
Christian Levrat / Bild: SP Schweiz

Wie und welche Fragen gestellt werden, ist wichtig. Fragen können einiges aussagen über die Zeit, in der man lebt, über vorherrschende Ideologien, Dogmen, Glaubenssätze. Insbesondere wenn es um Politik und Wirtschaft, wenn es um Fragen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse geht. Als ich angefragt wurde, einen Beitrag für den «Schweizer Monat» zu verfassen, und das publizistische Konzept für diese Ausgabe durchlas, wurde mir das wieder einmal bewusst. «Nimmt die helvetische Wirtschaft Schaden an der (direkten) Demokratie?», lautete die Frage, die auf das Verhältnis von Wirtschaft und Politik abzielte. Die Frage führt tatsächlich zu einem der zentralen Probleme unserer Zeit: dem Vorrang der Ökonomie und des Marktes gegenüber allem anderen. «Nimmt die helvetische Wirtschaft Schaden an der (direkten) Demokratie?» erinnert sehr stark an die Forderung einer «marktgerechten Demokratie», wie sie unter anderem von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgestellt worden ist. Es kommt darin eine klare Hierarchie zum Ausdruck: Zuerst der Markt, dann die Demokratie – sofern sie sich mit den vom Markt geschaffenen, vermeintlich alternativlosen Fakten arrangiert.

Diese Sichtweise schlägt sich seit Jahren ganz konkret in unserer gesellschaftlichen Realität nieder und sie geht mit riesigen sozialen und ökologischen Folgekosten einher. Das liegt nicht einfach daran, dass man «der Wirtschaft» einen hohen Stellenwert zuschreibt. Wirtschaft ist seit jeher ein zentraler und produktiver Bestandteil des menschlichen Lebens und dessen Entwicklung – im Guten wie im Schlechten. Das Problem ist also nicht «die Wirtschaft» an sich, sondern das bis heute dominante Verständnis von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Dafür bedarf es zunächst eines Blickes auf die neoklassische Wirtschaftstheorie. Sie sieht den Menschen als Homo oeconomicus, sie glaubt an die unsichtbare Hand des Marktes und daran, dass Märkte quasi natürlich zu einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage streben. Mit einer solchen für Machtverhältnisse weitgehend blinden Betrachtungsweise wird man der sozialen Realität nicht gerecht. Eben weil sie auf unvollständigen Grundannahmen basiert, ändern daran auch die höchst komplexen mathematischen Modelle nichts, die das Verhalten von Menschen als reine Marktteilnehmer voraussagen wollen. Die Karriere der neoklassischen Weltsicht ist aber auf jeden Fall erstaunlich. Beinahe unbemerkt besetzte sie unsere Vorstellungen davon, was Wirtschaft ist. Und lange Zeit regte sich kein wirklicher Widerstand. Erst langsam beginnt eine breitere Öffentlichkeit, sie zu hinterfragen und kritische Fragen zu stellen. Und Studierende wehren sich an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten gegen die Dominanz der neoklassischen Wirtschaftstheorie, jüngst etwa in Zürich. Das ist ein Anfang und für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft wichtig.

Damit es überhaupt so weit gekommen ist, brauchte es aber eine globale Finanzkrise. Und es brauchte den Neoliberalismus als langjährige Heilslehre. Dieses politische Projekt besteht seit den 1970/80er Jahren darin, alles den Interessen der transnationalen Grossunternehmen unterzuordnen und eine massive Umverteilung von unten nach oben vorzunehmen – und das dann auch noch als ökonomisch sinnvoll anzupreisen. Damit hat man bis heute «Erfolg». Dieser Erfolg war nur deshalb möglich, weil Markt, Wettbewerb und Profitmaximierung weit über den eigentlichen Wirtschaftsbereich hinaus als Dogmen unangefochten waren. Erst mit der Finanzkrise erhielt dieses ideologische Gebilde Risse. Und erst dadurch gerieten auch die problematischen Grundannahmen der zugrundeliegenden neoklassischen Theorie in den Blick.

Zunächst soll hier einmal verdeutlicht werden, weshalb es meiner Meinung nach überhaupt eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels bedarf. Was läuft schief?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, möchte ich einige Phänomene auflisten, die auf eine tiefe Dysfunktionalität des herrschenden Wirtschaftssystems und der damit verbundenen Beziehung zwischen der real existierenden Marktwirtschaft und der Demokratie hinweisen. Von zentraler Bedeutung scheint mir dabei die weltweite Zunahme der sozialen Ungleichheit zu sein. Es gibt heute eine skandalöse Gleichzeitigkeit von noch nie dagewesenem Reichtum einerseits und Armut, sei sie relativ oder absolut, andererseits.

In der Schweiz gelten gemäss Angaben des Bundes rund 120 000 Menschen als Working Poor, d.h. sie schaffen es trotz einer bezahlten Vollzeitarbeit nicht über die Armutsgrenze. In vielen Branchen sehen sich die Arbeitnehmenden zunehmend mit prekären Arbeitsbedingungen, Konkurrenz- und Lohndruck, verstärkter Kontrolle und Angst vor Arbeitsverlust konfrontiert. Dadurch, dass Produktivitätsgewinne seit Jahren nicht mehr angemessen in Form von Lohnerhöhungen weitergegeben werden, verliert insbesondere auch der Mittelstand. Und wer heute IV- oder Sozialhilfe bezieht, sieht sich nicht nur mit einer Kürzungsrunde nach der anderen konfrontiert, er wird auch immer öfter pauschal verdächtigt, ein fauler und potenziell krimineller «Sozialschmarotzer» zu sein. Gleichzeitig explodieren Unternehmensgewinne und die Vermögen der bereits Vermögenden.

In Europa wurde die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 sukzessive und erfolgreich in eine Staatsschuldenkrise umgedeutet. Von dieser Analyse ausgehend wird Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien – in den meisten Fällen ohne eine demokratische Legitimation, die diesen Namen verdient hätte – eine Austeritätspolitik aufgezwungen, die Millionen von Menschen ihrer Lebensperspektiven beraubt.

Im globalen Süden spitzt sich die Hungerkrise nicht zuletzt aufgrund der Spekulation mit Nahrungsmitteln und der Produktion von Agrartreibstoffen weiter zu. Der politische Philosoph Thomas Pogge zeigt in seiner Arbeit auf, dass der von den reichen Staaten über globale Institutionen wie den IWF oder die WTO durchgesetzte Regulierungsrahmen massgeblich dazu beiträgt, dass Jahr für Jahr Millionen von Menschen armutsbedingt sterben. Wer über Exportkredite, Rohstoffhandel, Importquoten, Anti-Dumping-Zölle oder Subventionen entscheidet, so Pogge, der entscheidet über Leben und Tod. Die Lebensweise und das Handeln der Wohlhabenden stehen so, ob man das will oder nicht, in einem direkten Zusammenhang mit der extremen Weltarmut. Es geht dabei allerdings nicht vorrangig um das amoralische Verhalten des einzelnen, sondern um die herrschende Wirtschafts- und Weltordnung, die zugunsten kleiner Vorteile für die bereits Privilegierten die schwere Schädigung unschuldiger Menschen in Kauf nimmt.

Gleiches gilt letztlich auch in bezug auf die sich rasch verschärfende ökologische Krise, wobei der durch Treibhausgase befeuerte Klimawandel die wohl bekannteste und folgenreichste Ausprägung dieser Krise ist. Auch hier verteidigen wir als lebende Generation unseren materiellen Wohlstand ziemlich skrupellos und sind daran, die Lebensgrundlage künftiger Generationen zu zerstören. Nachhaltigkeit ist zwar in vieler Munde, sobald Nachhaltigkeit aber bedeutet, im Interesse der intergenerationellen Solidarität einen Schritt aus der eigenen Komfortzone tun zu müssen, wird die Sache kompliziert.

Keine Rückkehr zum Status quo ante

Analysiert man diese hier nur kurz angedeuteten Probleme, stösst man immer wieder auf das Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Politik respektive Markt und Demokratie. Angesichts globalisierter Wirtschaftskreisläufe und überaus mächtiger Global Players verlieren die demokratische Politik und die bestehenden politischen Institutionen zusehends an Gewicht. Wenn Märkte, und insbesondere die internationalen Finanzmärkte, zum Taktgeber der gesellschaftlichen Entwicklung werden, kann die Politik theoretisch zwar immer noch aktiv werden, es ist aber zumeist eine autoritär-technokratische Politik, die wenig mit den demokratischen Idealen der Partizipation und Selbstbestimmung zu tun hat. Willkommen in der «Postdemokratie»! Man kann aber sogar noch einen Schritt weiter gehen und diesen neuen Politikstil ganz nüchtern als durchaus zeitgemäss und funktional bezeichnen. Der Politologe Ingolfur Blühdorn beschreibt in seinem aktuellen Buch zur «Simulativen Demokratie» Bürgerinnen und Bürger, die aus der «selbstverschuldeten Selbstüberforderung» ausziehen und sich mehr und mehr aufs Dasein als Konsumentinnen und Konsumenten beschränken. Sie verlassen sich ganz bewusst lieber auf politische Eliten und deren professionelle Problemlöser statt auf die kontinuierlich neu auszuhandelnde Vernunft des Souveräns. Das scheint mir eine äusserst alarmierende Analyse, auch wenn ich der Meinung (und Hoffnung) bin, dass Blühdorn die Wirkmächtigkeit der demokratischen Werte unterschätzt.

Worin gründen nun aber die beschriebenen Krisen? Ist es eine einseitige Wirtschaftstheorie und die daraus resultierende Funktionsweise von Wirtschaft? Ist es eine Wirtschaftspolitik, die sich um die Gesellschaft und das Gemeinwohl foutiert? Ist es ein aus dem Gleichgewicht geratenes Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft, oder eben: zwischen Demokratie und Markt? All diese Fragen weisen auf wesentliche Aspekte des Problems hin. Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, die von vielen auch als «goldenes Zeitalter» der Sozialdemokratie bezeichnet werden, scheinen mir in vielerlei Hinsicht tatsächlich vernünftiger gewesen zu sein. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konnte durch verschiedene insbesondere auch nationalstaatliche Regulierungen gebändigt und in soziale Fortschritte für die grosse Mehrheit der Bevölkerung umgemünzt werden – Stichwort AHV. Aber auch die goldenen Jahre waren natürlich nicht nur golden. Globale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten wurden nicht beseitigt, wirkliche demokratische Teilhabe blieb ein Ideal, und die Natur litt unter rücksichtslosem menschlichem Handeln. Ein Zurück zum Status quo ante ist für mich auch deshalb keine Lösung.

Eine progressive Sozialdemokratie braucht neue Antworten. Antworten, die sowohl über den Nationalstaat als auch über die traditionellen Formen der Demokratie hinausreichen. Um diese zu entwickeln, müssen wir aber noch einmal Ursachenforschung betreiben. In Anlehnung an Autoren wie Elmar Altvater, Ulrich Brand oder Alex Demirovic möchte ich hier die These vertreten, dass wir es heute mit einer multiplen Krise zu tun haben. Die gemeinsame Ursache der beschriebenen Krisen ist demnach die fossilistisch-kapitalistische und vor allem auch finanzmarktgetriebene Produktions- und Lebensweise. Darum geht es. Zugegeben, das ist starker Tobak. Aber es ist eine These, die es wert ist, diskutiert zu werden. Wird ihr zugestimmt, bedeutet es nicht zuletzt auch, dass eine fortschrittliche Sozialdemokratie nicht darum herum kommt, sich zum Kern der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vorzuwagen. Mit ein bisschen mehr Gleichgewicht ist es nicht getan.

Demokratie – bis heute ein «uneingelöstes Versprechen»

Was ich diagnostiziere, ist ein Mangel an Demokratie. Und ein sehr oft mangelhaftes bzw. reduktionistisches Verständnis derselben. Demokratie sehe ich als eine Lebens- und Gesellschaftsform, die von Entscheidungen Betroffene zur Teilhabe ermächtigt und zum Ziel hat, für alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. In diesem Sinne beschränkt sich das demokratische Ideal nicht auf die bestehenden politischen und staatlichen Institutionen und Prozesse, sondern ist insbesondere auch auf die Wirtschaft anzuwenden. Denn es ist die Wirtschaft, die einen äusserst prägenden Einfluss auf das Leben der Menschen ausübt. Dass Demokratie in der Wirtschaft nichts zu suchen hat, ist ein weiteres Dogma, das wir unbedingt kritisch hinterfragen sollten. Der Zürcher Philosoph Urs Marti sieht Demokratie als ein «uneingelöstes Versprechen», solange sie sich nicht auch auf den Bereich der Wirtschaft erstreckt. Und für den Sozialphilosophen Oskar Negt ist die Demokratisierung der Wirtschaft sogar die einzige Möglichkeit, die Demokratie am Leben zu erhalten.

Ich könnte mich für die weitere Argumentation auf Karl Marx, August Bebel, Rosa Luxemburg oder andere historische Figuren der Linken abstützen. Sie haben in diesem Zusammenhang vieles zu sagen, das bis heute Gültigkeit hat. Ich kann mich aber auch auf den liberalen Philosophen Robert A. Dahl beziehen. Er postuliert, dass Demokratie, wenn sie als Regierungsprinzip für Staaten gerechtfertigt sei, in ihrer Anwendung auch auf Unternehmen legitimiert sei. Und es folgt daraus: Wer Demokratie als Führungsprinzip für Unternehmen nicht anerkenne, müsste ihr auch die Rechtfertigung als staatliches Regierungsprinzip absprechen. Dahl legt dar, dass sich aus dem individuellen Recht auf Privateigentum kein Recht auf privaten Besitz an Konzernen herleiten lasse, die durch demokratische Entscheidungen nicht beschränkt werden dürften. Grossunternehmen als uneingeschränktes Privateigentum zu betrachten, ist deshalb eine etwas verquere Sicht. Grossunternehmen sind längst Institutionen geworden, die in einer ständigen Wechselwirkung mit der Gesellschaft stehen. Da kann es doch nicht sein, dass eine Handvoll Manager und Verwaltungsräte in entrückten Konzernzentralen nach Massgabe der Profitmaximierung Entscheidungen treffen, die das Leben von Tausenden, ja oftmals von Hunderttausenden oder sogar Millionen von Menschen massgeblich beeinflussen. Es gibt bekanntlich nicht nur Shareholder, sondern auch unzählige Stakeholder.

Eine Studie der ETH Zürich aus dem Jahr 2011 zeigte, dass eine Gruppe von 147 Finanzkonzernen praktisch die gesamte Weltwirtschaft kontrolliert1. Nicht zuletzt Anhänger einer liberalen Marktwirtschaft müssten bei diesem Befund aufschrecken und alle Hebel in Bewegung setzen, um diese undemokratische und äusserst gefährliche Machtballung zu bekämpfen. Wenn ich die sogenannt Liberalen im Parlament verfolge, sehe ich nicht, dass ihnen dies ein Anliegen wäre. Im Gegenteil. Markt- und Machtkartelle werden weiter geschützt und gefördert.

Mehr Demokratie wagen heisst, wirtschaftliche Macht zu dezentralisieren. Wir brauchen heute eine Debatte über Formen der Vergesellschaftung (nicht der Verstaatlichung!) von dominanten Unternehmen. Es braucht praktikable Regeln und Mechanismen, um die relevanten Stakeholder an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Das sind natürlich Arbeitnehmende und Konsumentinnen und Konsumenten, aber auch von Entscheidungen betroffene Anrainer oder Lieferanten. Kooperation statt Konkurrenz lautet die zeitgemässe Devise. Wie genau das auszusehen hat, muss öffentlich diskutiert werden. Man braucht nicht bei null zu beginnen, es gibt Erfahrungen und Ideen. Beispielsweise die Betriebsräte in Deutschland und Österreich oder die Vorschläge von Ota Šik und Rudolf Meidner zu Mitarbeitergesellschaften und Arbeitnehmerfonds, die als Ansatzpunkte taugen und vorbehaltlos weiterentwickelt werden sollten. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine solche Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu nachhaltigeren Lösungen als jenen von heute führt – und zwar in ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht.

«Utopischer Überschuss» und Realpolitik

Was heute gesucht wird, sind neue Wege, die einen Ausweg aus der multiplen Krise sein können. Der Politikwissenschafter und Chefredaktor der «Frankfurter Hefte», Thomas Meyer, schrieb anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums der SPD: «Die neue Antwort muss ehrgeizig sein und über die heute und morgen erreichbaren Ziele hinausschiessen, nicht als Utopismus des blossen Wünschens, sondern als eine realistische Utopie mit konkreten Begründungen der Machbarkeit.» Ich bin der Meinung, dass das Konzept der Wirtschaftsdemokratie eine solche Antwort für eine zukunftsfähige Sozialdemokratie sein kann, weil in ihr der notwendige «utopische Überschuss» mit der ebenso notwendigen Realpolitik verbunden ist. Die Frage nach der Demokratisierung von (Gross-)Unternehmen ist dabei nur ein wenngleich auch wichtiger Aspekt. In der aktuellen politischen Debatte in der Schweiz aber steht anderes im Vordergrund.

Mehr Wirtschaftsdemokratie heisst weniger soziale Ungleichheit. Chancengleichheit wird immer wieder als liberale Kernforderung betont. Wie soll diese aber ernsthaft realisiert werden, wenn sich die Schere zwischen Reich und Arm und damit zwischen Macht und Ohnmacht immer weiter öffnet? Die Behauptung, dass Innovation und Kreativität aus Ungleichheit und Prekarität erwachsen, ist eine ziemlich zynische Ideologie. Vielmehr sind es ein Netz der sozialen Sicherung und ein gewisses Mass an Planbarkeit, die das Ausnutzen menschlicher Potentiale erleichtern.

Davon profitieren etwa die Kinder vermögender Eltern massiv. Auf eine Reduktion der sozialen Ungleichheit zielen die 1:12-Initiative, die Mindestlohn-Initiative oder die Erbschaftssteuer-Initiative ab, über die die Bevölkerung in den nächsten Monaten abstimmen wird. Jede einzelne dieser Abstimmungen ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit und zu tatsächlicher Chancengleichheit. Und es geht dabei natürlich auch um die Frage, wie wir das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz zukünftig organisieren wollen. Sollen vor dem Hintergrund der Entwicklungen und Krisen der letzten Jahre tatsächlich weiterhin in erster Linie der Markt bzw. die dahinterstehenden Interessen von Grossunternehmen und einer kleinen, aber mächtigen Elite von Superreichen entscheiden, oder sollen wir nicht viel eher auf das Primat einer demokratischen Politik setzen?

Wirtschaftsdemokratie ist ein pluralistisches Projekt, das sich zu institutioneller Heterogenität bekennt. Und sie ist kein Endzustand, sondern ein steter Reformprozess, wobei Errungenschaften fortwährend verteidigt und neu erkämpft werden müssen. Wirtschaftsdemokratie verzichtet keineswegs auf die effizienzsteigernde Leistung des Marktprinzips, sondern bettet Märkte unter neuen Bedingungen in die Gesellschaft ein. Wirtschaftsdemokratie heisst heute zunächst, die Finanzmärkte unter demokratische Kontrolle zu bringen. Elemente einer solchen Demokratisierung sind Finanztransaktionssteuern oder eine staatliche Zulassungsstelle, die vor der Markteinführung eines neuen «Finanzproduktes» prüft, ob es tatsächlich gesellschaftlichen Nutzen bringt und seine Risiken, im Unterschied zu Credit Default Swaps (CDS) und ähnlichem, leicht beherrschbar sind. Auch die Forderungen nach einem Trennbankensystem und deutlich erhöhten Mindesteigenkapitalanforderungen gehören in diese Kategorie.

Die Frage nach dem «guten Leben»

Die Wirtschaftspolitik der letzten 30 Jahre brachte dem Gros der Menschen in den wohlhabenden Ländern ein Mehr an Instabilität, Unsicherheit und Konkurrenz, «belohnte» sie aber dafür mit wachsendem Konsum. Wirtschaftsdemokratie heisst, diesen Trend umzudrehen. Wohlstandsgewinne in Form von Partizipation, selbstbestimmter Stabilität und Sicherheit dienen als Ausgleich für Veränderungen und notwendige partielle Rückgänge im materiellen Bereich. Man berührt damit wesentlich auch die Frage nach dem «guten Leben».

Und – darauf hinzuweisen ist mir zum Schluss ein grosses Anliegen – Wirtschaftsdemokratie, davon bin ich überzeugt, ist ein im ursprünglichen Sinne liberales Projekt und müsste deshalb im liberalen Lager zumindest auf Interesse stossen. Die Idee der Wirtschaftsdemokratie nimmt Freiheit, Vernunft, Eigenverantwortung des Menschen ernst und setzt deshalb auf die Ermächtigung, die Mitbestimmung von Betroffenen bei der Gestaltung ihrer Lebenswelt. Und das tägliche Arbeitsumfeld ist zweifellos ein gewichtiger Teil der Lebenswelt eines jeden einzelnen. Wenn wir allerdings das Ziel einer sozialen und ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft anstreben, reichen individuelles und zivilgesellschaftliches Engagement ebenso wenig aus wie marktbasierte Investitionen oder freiwillige Zuwendungen von Mäzenen. Wir brauchen vielfältige Handlungsspielräume und gesellschaftliche Lernprozesse, die ohne gezielten staatlichen Support langfristig nicht die nötige gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten können. Solche Prozesse demokratisch zu gestalten und zu begleiten hiesse bereits, Wirtschaftsdemokratie zu leben.

 


1 Stefania Vitali, James B. Glattfelder, Stefano Battiston: The Network of Global Corporate Control. Zürich: Chair of Systems Design, ETH Zürich, 2011.

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Christoph Blocher, photographiert von Stefan Marthaler.
Weniger Staatsangestellte, mehr Freiheit

Die Staatswirtschaft ist auch in der Schweiz im Vormarsch. An die Stelle der Milizpolitiker treten Staatsangestellte, die sich wunderbar mit Verbands- und Gewerkschaftsfunktionären verstehen. Gegen die Machtkonzentration hilft nur eines: mehr Wettbewerb. In der Wirtschaft. Und vor allem in der Politik.

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