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Wir brauchen keine fremden Gerichte

Sie spricht Klartext. Sie hat ihre Linie. Sie hat sich von links bis rechts Respekt verschafft. Also wollte sie in den Bundesrat: Karin Keller-Sutter, St. Galler Justizdirektorin. Ein Gespräch über Realpolitik, die Bilateralen III und die Selbstdemontage der Landesregierung.

Wir brauchen keine fremden Gerichte

Frau Keller-Sutter, Sie sind Politikerin mit «Leib und Seele». So steht es auf Ihrer Homepage. Welches Verhältnis haben Sie zur Macht?

Ich sage es ganz offen: ich mag es, Einfluss zu nehmen, Macht auszuüben, im positiven Sinn von «machen». Ich trage meinen Teil dazu bei, die Lebensbedingungen der Menschen in diesem Lande zu gestalten. Die Schweiz hat ein derart austariertes System mit checks und balances, dass der einzelne eher zu wenig als zu viel Macht hat. Aber in der Exekutive kann man mit viel Tatkraft etwas bewegen.

Sind Sie auf Weltverbesserungsmission?
Natürlich will ich die Welt verbessern! Ich will eine freiheitliche Welt mit verantwortungsbewussten Bürgern. Dennoch finde ich nicht alles schlecht, wie es ist. Überhaupt: ich sehe nicht die Misere, sondern stets die Chance.

Liberale haben ein gespaltenes Verhältnis zur Politik. Einerseits wollen sie ihre Ideen durchsetzen. Anderseits sind sie überzeugt, dass es im Rahmen eines schlanken, aber funktionierenden Staates möglichst wenig Politik braucht. Die Leute sollen selbst entscheiden können.
Die Frage nach der Rechtfertigung politischen Handelns ist in meinem Fall zweitrangig. Denn das Sicherheits- und Justizdepartement betrifft den absoluten Kernbereich des Staates. Hier muss er klare Regeln setzen und für deren Einhaltung sorgen.

Sie hätten Mühe, Sozial- oder Kulturministerin zu sein?
Ja, ich hätte sicher mehr Mühe, da man auch in Bereiche eingreifen müsste, bei denen die Privatinitiative im Vordergrund steht. Der Rechtsstaat hingegen muss stark sein. Er ist ein wichtiger Standortfaktor. In der Schweiz ist das Eigentum gesichert, besser als in ande-ren Staaten. Jeder einzelne kann es hierzulande vor nichtkorrupten Gerichten verteidigen. Nur ein Rechtsstaat garantiert Wohlstand.

So will es die Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Recht war einst da, um den Schutz von Individuum und Eigentum zu garantieren. Mittlerweile ist es auch in der Schweiz ein Instrument, das zu Eingriffen in die Privatsphäre berechtigt und zunehmend individuelle Freiheitsrechte einschränkt.
Viele setzen sich in ihrem Handeln selbst keine Grenzen mehr. Freiheit heisst heute für einige zügellose Minderheiten Befreitsein von allen Zwängen, heisst wüten können, wie man gerade will. Also greift der Staat ein und setzt Grenzen. Strafrechtsprofessor Marcel Niggli, der politisch anders tickt als ich, hat sinngemäss gesagt: das Strafrecht wird in einer pluralistischen Gesellschaft immer mehr zu einem Kodex von moralisch akzeptablem Verhalten. Das Recht schützt nicht bewährte Verhaltensweisen, wie es eigentlich müsste. Es ist umgekehrt. Zuerst kommt das Gesetz, und das Gesetz wird dann zur herrschenden Moral.

Und der Einflussbereich des Staates wächst.
Er wächst, obwohl wir beobachten, dass sich mit Gesetzen allein das Verhalten der Menschen nicht steuern lässt. Die heutige Litanei geht so: zu viel Freiheit führt zu Chaos, zu verantwortungslosem Handeln, zu moral hazard. Liberalismus ist gleich schrankenlose Freiheit ist gleich Rücksichtslosigkeit ist gleich Egoismus. Deshalb brauchen wir mehr Solidarität, mehr Verantwortungsbewusstsein, und der Staat soll das dann bitte schön durchsetzen. Falsch! Hier werden Folge und Ursache verwechselt. Die Probleme unserer Zeit sind nicht Folge des Liberalismus, sondern Konsequenz von Hedonismus und Egoismus. Zur Freiheit gehört Verantwortung. Wenn viele verantwortungslos handeln, dann genau darum, weil man ihnen die Freiheit nicht mehr zumutet.

Ich tue, was ich will. Und andere kommen für den dadurch verursachten Schaden auf. Dieses Freiheitsverständnis, das aus der linksanarchistischen Ecke kommt, ist heute Mainstream.
Das ist für mich «Animal Farm», und zwar gleich zweimal. Wer so denkt und handelt, verhält sich wie ein animal, ein losgelassenes Tier. Dann sind wir keine Gesellschaft mehr, sondern ein Zoo. Orwell hat in seinem Roman gezeigt, wie die Schweine – also die Revolutionäre – funktionieren: sie begehren gegen den Staat auf und haben doch nichts anderes im Sinn, als an die Macht zu kommen. Im Namen von Solidarität und Gerechtigkeit verwandeln sie ihn in eine Diktatur.

Seit der Publikation von «Animal Farm» sind über 60 Jahre vergangen. «Solidarität» und «soziale Gerechtigkeit» gehören aber nach wie vor zu den beliebtesten Wörtern des Politjargons.
Sobald ich diese Begriffe höre, hole ich den Taschenrechner hervor. Gerechtigkeit im sozialdemokratischen Sinne bedeutet oft, den einen etwas wegzunehmen und es den anderen im Tausch für Stimmen zu geben. Am Schluss sind dann alle unglücklich.

Was bedeutet Gerechtigkeit in einem Rechtsstaat?
Gerechtigkeit ist die Abwesenheit von Diskriminierung jeder Art. Eine gerechte Gesellschaft ist eine, die allen dieselben Startchancen bietet. Es geht nicht um gleiche Ergebnisse, sondern um gleiche Chancen.

Auch der Begriff der Chancengleichheit ist beliebig dehnbar. Zum Beispiel so: der Staat hat die Aufgabe, jedem materiell die gleichen Chancen zu bieten. Nur materielle Chancengleichheit ist wirkliche Chancengleichheit. Dies dient dann wiederum als Rechtfertigung für willkürliche Umverteilung.
Der Staat hat dafür zu sorgen, dass die Individuen die Möglichkeit haben, ihre Chancen wahrzunehmen. Gleichzeitig muss er jedoch akzeptieren, dass es keine absolute materielle Gleichheit gibt. Er
behandelt alle gleich, soll sie jedoch nicht gleichmachen. Ich komme aus einer gewerblich-mittelständischen Familie. Meine Eltern haben stets hart gearbeitet, führten ein gutes Leben, ohne es aber zu Reichtum zu bringen. Mein Vater sagte zu uns: «Ich muss euch kein Geld vererben, aber ich muss euch eine Ausbildung ermöglichen.» Genauso sollte auch der Staat denken.

Als Exekutivpolitikerin sind Sie Realpolitikerin. Wie wichtig sind Ihnen politische Überzeugungen?
Sehr wichtig, warum?

Wenn Sie Ihre Prinzipien in Reinkultur vertreten, werden Sie nicht mehr gewählt. Als Exekutivmitglied müssen Sie darauf aus sein, alle Bürger anzusprechen.
Das kann man in dieser Zuspitzung nicht sagen. Ich habe meine Überzeugungen stets ehrlich vertreten und wurde dennoch als
Exekutivpolitikerin wiedergewählt. Politiker wenden ja nicht die reine Lehre aus einem Lehrbuch an. Ich sehe mich als bürgerliche Realpolitikerin mit Schnittflächen zum Liberalismus, wobei der
Liberalismus ja immer noch ein weites Feld ist.

Sie drücken sich. Was sind Ihre Grundüberzeugungen?
Privat kommt vor Staat, Erwirtschaften vor Verteilen und Freiheit vor Gleichheit. Entscheidend ist für mich der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung – das sind die beiden Seiten derselben Me-daille. Wird die Selbstverantwortung erweitert oder eingeschränkt? Das ist für mich der Lackmustest in allen politischen Fragen.

Nehmen wir den Verfassungsartikel zur Förderung der Familie, dessen Vernehmlassung eben zu Ende ging. Gefördert werden sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Bildung und Integration von Jugendlichen. Konkret heisst das: der Staat verteilt mehr um, mischt sich in Familienangelegenheiten ein. Von rechts bis links besteht heute Einigkeit, dass der Staat dies tun sollte. Wie sehen Sie das?
Es gibt Verfassungsbestimmungen zum Schutz der Familie, die ja subsidiär die kleinste Zelle des Staates bildet. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein gesellschaftliches Erfordernis. Aber dies ist Sache der Kantone und Gemeinden. Wie will der Bund kontrollieren, ob die entsprechenden Gesetze eingehalten werden? Dies führt bloss zu mehr Bürokratie und hilft den Familien letztlich nicht weiter.

Man könnte auch schlicht sagen: eine Familie zu gründen ist eine individuelle Entscheidung. Deshalb ist die Familie eine reine Privatangelegenheit, die den Staat nicht zu interessieren braucht.
Die Gesellschaft profitiert von Kindern. Sie hat deshalb ein Interesse daran, dass Kinder geboren werden. Kinder sind die Steuer- und Beitragszahlenden von morgen.

Stimmt. Aber es ist dennoch keine Bürgerpflicht, Kinder zu zeugen. Es gibt keinen solchen Verfassungsartikel. Jedenfalls noch nicht.
Eine demokratische Gesellschaft kann sich fragen, ob sie Familien fördern will. Das ist legitim. Aber ich bin Ihrer Meinung: diesen Verfassungsartikel zur Förderung der Familie braucht es nicht.

Die Frage nach Kinderkrippen ist ein Dauerbrenner. Wenn die Privat-wirtschaft damit rechnen kann, dass der Staat irgendwann die Aufgabe übernimmt, dann warten die Unternehmen zu. Wenn der Staat jedoch klar zu verstehen gibt, dass er keine Kinderkrippen mit Steuergeldern finanziert, werden die Unternehmen tätig. Denn sie sind auf gutqualifizierte Arbeitskräfte angewiesen.
Auch hier: einverstanden. Es ist im Interesse der Wirtschaft, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern. Kleinere Unternehmungen können sich zusammentun und eine Krippe unterhalten. Die Unternehmer wählen nun aber den bequemeren Weg und warten, bis der Staat tätig wird, genau wie viele Bürger, die sich zu konsequenten Wohlstandsbürgern entwickelt haben. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass sie Steuern zahlen und deshalb Anrecht auf solche Angebote haben. Das Ergebnis ist eine grosse Entsolidarisierung: man zahlt und delegiert die Verantwortung nach oben.

Die FDP ist nicht die Partei, die hier Klartext spricht.
Alle Parteien bewirtschaften ihre Klientel, machen ihnen Versprechungen. Die reine liberale Partei, von der Sie träumen, gibt es nicht.

Politik ist stets Interessenpolitik: das ist die Position der Linken. Daraus folgern sie: die Bürgerlichen vertreten bloss die Interessen der eigenen Wähler auf Kosten der Armen und Schwachen.
Es fehlen glaubwürdige Figuren, die zwischen Interessen abwägen und das Ganze im Auge behalten. Gewerbe, Wirtschaft, Bauern – alle diese Anspruchsgruppen machen Klientelpolitik. Dagegen ist im Grundsatz nichts einzuwenden, solange es transparent ist. Nun kommt Lukas Reimann mit einer Transparenzinitiative. Diese ist gut gemeint, aber nicht wirklich gut, weil sie die Abschaffung unseres Milizsystems zur Folge hätte. Die Mandate müssen offengelegt werden. Aber dass gewählte Personen ihr Einkommen offenlegen müssen, geht zu weit – hier entstünde eine folgenschwere Rechtsungleichheit zwischen Parlamentariern und Bürgern.

Man kann die Sache auch anders sehen: Politiker vertreten Interessengruppen, das sind nun mal die Spielregeln. Es geht einfach darum, zu wissen, um welche Gruppen es sich dabei handelt.
Ich habe ein Problem damit, wenn Politiker sämtliche Prinzipien reinen Interessen unterordnen. So verkommen politische Ideen und Programme zu reiner Rhetorik im Dienste des Stimmenfangs. Wenn eine Konvergenz zwischen Interessen und persönlicher Überzeugung besteht, geht das in Ordnung. Aber wenn man Inter-essen vertritt, bloss weil man persönlich profitiert – das lehne
ich ab.

Sie wurden letztes Jahr von der FDP als Bundesratskandidatin nominiert. Wie haben Sie den Polit- und Medienzirkus vor dem entscheidenden Tag erlebt?
Es war eine sehr intensive und lehrreiche Phase. Ich hatte Freude an den Hearings in den Fraktionen. Da gab es richtige Diskussionen. Die waren kurz, aber oft heftig. In der SP-Fraktion wurde ich richtiggehend mit Fragen beworfen. Man spürte: es geht um viel.

Und der Medienzirkus?
Grenzwertig. Die Wahl wurde inszeniert, als wäre es eine Volkswahl. Das ist sie aber nicht.

Wären Sie denn für eine Volkswahl?
Nein. Eine Volkswahl würde diesen Zirkus nur noch verschlimmern. Aus jeder Nebensächlichkeit, die ich äusserte, wurde von den Medien sogleich eine Geschichte gemacht. Das ist nicht gut.

Sie haben sich für das Amt in einem Gremium beworben, das – wie soll man sagen? – ziemlich seltsam funktioniert. Die sieben Mitglieder kommunizieren intensiv miteinander, jedoch nicht direkt, sondern über die Medien.
Das ist in der Tat keine gute Entwicklung. Eine Regierung ist kein Wohlfühlgremium. Die Mitglieder müssen Widerspruch aushalten können. Wer das System der Kollegialbehörde ernst nimmt, sollte sich an die Spielregeln halten. Was die Regierung entschieden hat, gilt. Alles andere ist eine Selbstdemontage.

Johann Schneider-Ammann, der das Rennen gemacht hat und auf Hans-Rudolf Merz folgte, hat nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt für das Projekt «Bilaterale III» geworben. Ein guter Einstand?
Ich bin skeptisch gegenüber einer Paketlösung. Natürlich kann man in Verhandlungen verschiedene Dossiers miteinander verknüpfen. Aber was den institutionellen Teil angeht, bin ich sehr zurückhaltend. Der Bundesrat spricht von einer gemeinsamen Gerichtsbarkeit zwischen der Schweiz und der EU. Das scheint mir im bilateralen Verhältnis nicht logisch. Die Schweiz hat eigene Gerichte, um Gesetze zu beurteilen. Wir sind nicht Mitglied der EU. Wir brauchen keine fremden Gerichte, die uns sagen, wie wir unsere Gesetze richtig anwenden sollen.

Was wäre die Alternative?
Entweder man friert den Bilateralismus auf aktuellem Niveau ein oder man setzt bei den Verhandlungen klare Prioritäten.

Und lässt die EU-Politiker weiterhin drohen?
Das gehört zum Spiel. Die EU ist mit 27 Staaten mächtig. Wenn man gegenüber einem solchen Partner erfolgreich verhandeln will, muss man seine Position klar definieren. Man kann nicht über Jahre sagen, dass die Frage der Unternehmensbesteuerung nicht verhandelbar ist, und dann selbst ein freundliches Angebot machen. So verliert man seine Glaubwürdigkeit, noch bevor die Verhandlungen begonnen haben.

Wo orten Sie die grössten Probleme der anstehenden Verhandlungen mit der EU?
Dass in materiellen Fragen wie im Agrarfreihandel Konzessionen gemacht werden, um die institutionellen Fragen zu regeln. Andere befürchten umgekehrt, dass institutionelle Fragen versteckt werden, um in den materiellen Punkten bessere Resultate zu erzielen. Beides wäre nicht optimal für die Schweiz.

Wir kaufen die Katze im Sack.
Innerlich muss man immer auch bereit sein, Verhandlungen abzubrechen, wenn das Ergebnis nicht stimmt.

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