Visionen oder Illusionen
Kein Zweifel, die Idee hat etwas Faszinierendes: über einen rekordhohen Lift im ohnehin bereits gebauten Zugangsstollen bei Sedrun soll eine abgelegene Bergregion von der grossen Investition des Gotthardbasistunnels profitieren. Den Bündnern mag man es eigentlich nicht verargen. Sie kämpfen mit dem Einsatz aller Kräfte und Emotionen für das Projekt mit dem attraktiven Namen «Porta Alpina», […]
Kein Zweifel, die Idee hat etwas Faszinierendes: über einen rekordhohen Lift im ohnehin bereits gebauten Zugangsstollen bei Sedrun soll eine abgelegene Bergregion von der grossen Investition des Gotthardbasistunnels profitieren. Den Bündnern mag man es eigentlich nicht verargen. Sie kämpfen mit dem Einsatz aller Kräfte und Emotionen für das Projekt mit dem attraktiven Namen «Porta Alpina», so dass sich die Unterländer beinahe schämen, wenn sie ob der vielen offenen Fragen von hartnäckiger Skepsis beschlichen werden. Visionen brauche das Land, erklärt der Verkehrsminister kurzerhand und kappt die sachliche Diskussion, bevor sie richtig begonnen hat. Das Parlament vertagt sie denn auch und will derweil, den Randregionen zuliebe, die Vision wenigsten mit einer Salamischeibe in Form eines Projektierungskredites am Leben erhalten. Region und Kanton befestigen eilig das in Aussicht stehende fait accompli mit Volksentscheiden für nahrhafte Kostenbeiträge, wohlwissend, dass vieles von diesem Geld und jenem, das später die Miteidgenossen aufbringen werden, wieder in die eigene Wirtschaft fliesst.
Obwohl sich das überdimensionierte Alpentransitprojekt Neat, dessen Kernstück der Gotthardbasistunnel bildet, entgegen allen visionären Vorspiegelungen bereits absehbar als betriebswirtschaftliches Fass ohne Boden erweist, schränkt man dessen Leistungsfähigkeit mit der für den gigantischen Lift notwendigen Haltestelle im Tunnel zusätzlich empfindlich ein. Die schweren Bedenken der Schweizerischen Bundesbahnen werden von ihrem obersten Schirmherrn in der Landesregierung jedoch bedenkenlos ignoriert. Die Kritik von Ingenieuren an der technischen Umsetzung erreicht die höheren politischen Sphären nicht. Umso stärker imponieren die mehr als optimistisch geschätzten Zahlen von Touristen und Pendlern, die den wirtschaftlichen Aufschwung in die hinter-sten Täler des Vorderrheins und über den Pass hinweg ins Urserental bringen sollen.
So kommen bei uns visionäre Projekte zustande, ohne dass Nutzen und Kosten ordentlich geprüft und gerechnet würden. Man blendet die rot blinkenden Alarmlampen aus und wird dafür später Sach- und Zugzwänge vorschieben. Die Bauinvestition in die «Porta Alpina» ist nur sinnvoll, wenn der Betrieb letztlich mindestens einen volkswirtschaftlichen Ertrag abwirft. Da spielen die normalen Mechanismen jedes Marktes, in erster Linie die Bedürfnisse und das Verhalten der potentiellen Benutzer.
Wer regelmässig in die Surselva reist und nicht nur das Auto benützt, stellt sich zunächst selbst die Frage nach der Attraktivität. Selbstverständlich wird er die Fahrt mit dem Rekordlift einmal erleben wollen. Wird er aber, allenfalls mit Kindern und Gepäck, den Weg im Tunnel zum Lift, die 800 Meter im Lift, den Umstieg in einen Bus und nachher in die Bahn regelmässig auf sich nehmen? Liegt sein Ziel nicht in Sedrun oder Disentis, sondern in der mittleren Surselva, wird er zudem leicht ausrechnen können, dass die Bahnfahrt beispielsweise von Zürich durch die pittoreske Vorderrheinschlucht wesentlich kürzer ist. Möglicherweise liegt gerade in der Einmaligkeit der Attraktion der Porta Alpina der Schlüssel dafür, dass die Vision schliesslich zur grossen Illusion wird.
Die Förderung der Randregionen, der gegenwärtig auf dem Altar eines sich selbst auszehrenden Föderalismus immer grössere Opfer gebracht werden, läuft Gefahr, dass mit kurzfristig belebenden Investitionen Strukturen erhalten und gar ausgebaut werden, die längerfristig nicht lebensfähig sind und abgeschrieben werden müssen. Die Schäden und Altlasten sind bald einmal grösser als der Nutzen. Und dasselbe gilt für die politische Psychologie: wenn Träume und Visionen dereinst als Illusionen zerplatzen, wird das Selbstbewusstsein beschädigt. Und dagegen helfen irgendwann auch weitere Infusionen nicht.
Doch wer soll sich diesem Trend zur immer weiter um sich greifenden horizontalen Umverteilung entgegenstemmen? Sollen etwa die Städter hochmütig den Geldhahn zudrehen? Es würde genügen, wenn sie die rücksichtsvolle Geldverteilung mit mehr Sachlichkeit und weniger Emotionen betrieben. Es wäre vielmehr an den Berg- und Randregionen selbst, sich mit Stolz auf ihre eigene Leistungsfähigkeit zu besinnen, ihre Chancen in eigener Verantwortung wahrzunehmen, sich aus Abhängigkeiten soweit wie möglich zu lösen und Visionen gründlich auf Bodenhaftung und Dauerhaftigkeit zu prüfen.
ULRICH PFISTER, geboren 1941, ist Publizist in Zürich.