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(2) Politik statt Zahlenreihen

Ob die Finanzierung der gesetzlichen Kranken-versicherung, ob Steuerlasten und Staatsquoten, Tarifabschlüsse oder Arbeitslosenzahlen zur Debatte stehen – allzu häufig werden unbequeme ökonomische Wahrheiten mit Zahlen und Statistiken übertüncht.

Quantifizierungen sollen die Welt gemeinhin einfacher und verständlicher machen. Das lässt hoffen. Schliesslich wurde noch nie so viel statistisch erhoben und quantifiziert wie heute. Trotzdem erscheint für viele die Welt komplexer denn je. Nehmen wir die Wirtschaftspolitik – ein Feld, in dem besonders gern mit Zahlen hantiert wird.

Die Dimension der deutschen Staatsverschuldung von 1.400.000.000.000 Euro ist für den einzelnen gar nicht mehr fassbar. Auch ein Gefühl für Leistung und Gerechtigkeit ist angesichts einer staatlichen Umverteilungsmaschinerie mit fast 50 Prozent Staatsquote längst verloren gegangen. So werden in Deutschland zwar alljährlich Milliarden für die aktive Arbeitsmarktpolitik aufgewendet. An der Millionenzahl der Arbeitslosen hat das freilich nichts geändert. Was bleibt, ist der allmonatliche angststarre Blick der Politik auf die Arbeitslosenzahlen und fast genauso regelmässig auf jede Dezimalstelle der neuen Wachstumsprognose irgendeines Forschungsinstituts. Verbunden damit ist die Hoffnung, die Rate möge die angenommene Beschäftigungsschwelle überspringen und so neue Jobs erwarten lassen.

Aus der monatlichen Arbeitslosenstatistik selbst kann sich dann jeder selektiv bedienen. Die einen frohlocken, weil etwa die Zahlen im Vergleich zum Vormonat rückläufig sind. Die anderen sind entsetzt, weil die Zahlen im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen sind. Hinzu kommt, dass die statistische Definition der Arbeitslosigkeit in schöner Regelmässigkeit verändert wird. So gelten in Deutschland seit Jahresbeginn fast 100’000 Arbeitslose, die an bestimmten Trainingsmassnahmen teilnehmen, nicht mehr als Arbeitslose. Und wenn demnächst internationale Statistikstandards übernommen werden, wird die deutsche Arbeitslosenquote schlagartig um einen ganzen Prozentpunkt sinken! Zukünftig reicht dann bereits eine Stunde Arbeit pro Woche, um statistisch gesehen nicht mehr arbeitslos zu sein. Willkommen in der schönen neuen Statistik-Welt.

Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die Informationsgesellschaft unsere politischen Debatten überfrachtet. Jedes Lager kann besser denn je «seine» statistischen Fakten präsentieren und «seine» wirtschaftspolitischen Gutachten zitieren. Zurück bleibt eine zunehmend irritierte Bevölkerung mit dem Empfinden, statt besserer Problemlösungen lediglich bessere Problemanalysen angeboten zu bekommen.

Aber auch die Wirtschaftswissenschaften schei-nen den gesellschaftlichen Dialog nicht ent-scheidend befördern zu können. Im Gegenteil. Die mathematischen Modelle und Methoden werden immer komplexer – und nebenbei wird es im wissenschaftlichen Elfenbeinturm immer enger. Eine praxisnahe Politikberatung ist damit kaum möglich. Vielleicht erscheint sie auch weniger erstrebenswert als Publikationen in Fachzeitschriften. Selbstkritisch bekannte der renommierte US-Ökonom Paul Krugman bereits vor Jahren: «There is too much mathematics in the economics journals.»

Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft hingegen kamen auch ohne mathematische Modelle aus. Formeln oder quantitative Beweise sucht man in Walter Euckens «Grundlagen der Nationalökonomie» vergebens. Lediglich das so–ge-nan-nte «Gesetz vom abnehmenden Ertrag» veranschaulicht Eucken mit einigen Erntezahlen. Auf diese Grenznutzentheorie wird noch zurückzukommen sein.

Um nicht missverstanden zu werden: die intellektuelle Schärfe unserer Ökonomen und die heutigen Möglichkeiten, Daten zu erheben und zu analysieren, sind bewundernswert. Aber statt immer neuer statistischer Analysen täte uns eine gelegentliche Rückbesinnung auf vergleichsweise einfache ordnungspolitische Grundprinzipien gut. Sonst droht im gesellschaftlichen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Bevölkerung der Blick auf das Wesentliche verloren zu gehen. Noch ist die öffentliche Diskussion über unsere Wirtschaftspolitik reich an beliebten ökonomischen Trugschlüssen und verwirrenden Zahlenspielen. Hier besteht dringender Klärungsbedarf, will man gesellschaftliche Akzeptanz für wirtschaftspolitische Reformen erlangen. Die Trugschlüsse sind vielfältig, aber gemein ist ihnen häufig der Umverteilungsgedanke.

Beispiel gesetzliche Krankenversicherung. Mit diversen Szenarien und Langfristprognosen wer-den die zweifellos absehbaren Finanzierungsprobleme der Krankenversicherungen in einer alternden Gesellschaft dargestellt. Unter dem emphatischen Tarnnamen «Bürgerversicherung» wird als Ausweg in Deutschland derzeit die Hereinnahme bisher privat versicherter Beitragszahler vorgeschlagen. Zweifellos würde das die Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen erhöhen. Es erhöht aber auch die Ausgaben, und zwar nicht erst langfristig als Folge der Demographie, sondern sofort. Dem grundsätzlichen Problem der steigenden Gesundheitsausgaben begegnet man damit also keinesfalls. Dass ein Rohrbruch eben niemals durch einen höheren Wasserdruck behoben werden kann, wird bewusst oder unbewusst übersehen. Und das eigentlich nötige Ziel, nämlich mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem, wird verfehlt.

Beispiel Steuerlasten. Deutschland sei kein Hochsteuerland, argumentierte vor einiger Zeit das Bundesfinanzministerium. Präsentiert wurde ein internationaler Vergleich der Steuerquoten – also des Anteils aller Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt. Die deutsche Quote lag im Mittelfeld, womit das Bundesfinanzministerium die vergleichsweise günstigen Standortbedingungen belegen wollte. Kein einziger Investor orientiert sich jedoch an der durchschnittlichen Steuerquote eines Standorts. Sondern er orientiert sich – entsprechend der schon erwähnten Grenznutzentheorie – an der effektiv zu tragenden Unternehmenssteuerlast für jeden zusätzlich investierten Euro. Und hier liegt Deutschland leider immer noch in der «Spitzengruppe».

In der Öffentlichkeit wird ausserdem gern und häufig über zu geringe Steuereinnahmen lamentiert und eine stärkere Belastung der «starken Schultern» gefordert. So wurde jüngst diskutiert, den deutschen Einkommenssteuer-Spitzensatz im Rahmen der neuen Steuerreformstufe nicht wie vorgesehen zu senken. Leider fehlt der öffentliche Verweis darauf, dass progressionsbedingt in Deutschland die einkommensstärksten acht Prozent der Bevölkerung rund 50 Prozent des gesamten Aufkommens der Einkommenssteuer erbringen und mithin von einer Gerechtigkeitslücke kaum gesprochen werden kann.

Beispiel Arbeitsmarkt. Die hohen Lohnabschlüsse des Tarifkartells aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden behindern den Marktzutritt für Millionen von Arbeitslosen. Hierbei rechtfertigen die Gewerkschaften ihre Forderungen stets mit ihren Schätzungen des Anstiegs der Arbeitsproduktivität. In einer unterbeschäftigten Volkswirtschaft sind jedoch Tarifabschlüsse unterhalb der Produktivitätssteigerung nötig, wenn Neueinstellungen ermöglicht werden sollen. Zudem wird jede Tarifverhandlung vom gewerkschaftlichen Kaufkraftargument begleitet, wonach angeblich mehr Lohn mehr Nachfrage und damit mehr Jobs bedeutet. Der Arbeitsmarkt ist aber leider nicht in der Hand von Münchhausen. Höhere Löhne bedeuten letztlich höhere Kosten, also höhere Preise und damit eben keine höhere Kaufkraft, die dann neue Jobs schaffen könnte. Selbst wenn kurzfristig Preisüberwälzungen nicht möglich sind, führen unangemessene Lohnsteigerungen zu Gewinnrückgängen bis hin zu Betriebsverlagerungen oder gar Betriebsschliessungen, die dann Investitionsrückgänge bis hin zu direkten Arbeitsplatzverlusten bedeuten.

In der öffentlichen Auseinandersetzung ist Mut vonnöten, solche vermeintlich einfachen Zusammenhänge zu benennen und häufiger quali-tativ statt stets quantitativ zu argumentieren. Arbeitskosten und das Angebot von Arbeitsplätzen stehen nun einmal in einem direk-ten Zusammenhang. Gewerkschaften, die Sozialversicherungsreformen und damit sinkende Lohnnebenkosten fordern, geben dies ja indirekt auch zu. Die Arbeitgeberverbände sollten bei den nächsten Tarifverhandlungen die Gewerkschaften daran erinnern, statt über die wahren Produktivitätszuwächse zu streiten. Dann sinkt auch wieder die Beschäftigungsschwelle und die Arbeitslosen müssen nicht länger auf die Wachstumsprognosen schauen. Und mit einem auch sonst flexibilisierten Arbeitsmarkt hätten die meisten die Chance, im Falle eines Falles wieder schnell einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Das ist wichtiger als Sozialstaatsversprechen, die nicht mehr einzuhalten sind.

In Wahrheit haben wir eben kein empirisches Erkenntnisproblem, sondern ein praktisches Umsetzungsproblem. Zahlen gibt es mehr als genug. Die Statistischen Ämter können sie gar nicht so schnell aufbereiten, wie die Unternehmen die Daten zu liefern verpflichtet sind. Gerade in bezug auf die Arbeitsmarktreformen war aber die deutsche Kommissionitis der letzten Jahre – mit den Berichten der sogenannten «Benchmarking-Gruppe», den Gutachten der Wirtschaftsweisen und der Wissenschaftlichen Beiräte der Bundesministerien bis hin zu den jüngsten Hartz-Vorschlägen – höchst aufwendig und zeitraubend. Die Empfehlungen ähnelten sich stark. Sie hätten schon längst umgesetzt werden müssen, nicht erst jetzt in abgeschwächter Form. An dieser Stelle sind mehr denn je Ökonomen gefragt, die geschickte Vermittler der «einfachen» Wahrheiten sind, statt Volkswirte, die allein mathematisch brillieren.

Auch bei der allfälligen Reform der Rentenversicherung mögen aufwendige Expertengutachten über Kinderzahlen und Erwerbsquoten im Jahre 2050 weiterhin eine Orientierung bieten. Aber es handelt sich eben um höchst unsichere Langfristprognosen. Daher sollte nicht die prognostizierte Kommastelle die Diskussion beherrschen, sondern die Erkenntnis, dass eine umlagefinanzierte Rentenversicherung schnellstmöglich auf Kapitaldeckung umgestellt werden muss.

Zweifellos verdeutlichen Zahlen und Daten manches Problem und zeigen Handlungsalternativen auf. Ihnen ist aber immer auch ein gewisser Absolutheitsanspruch eigen. Was quantifiziert ist, muss ja wahr sein. Es kommt allerdings auf die Interpretation der Zahlen an. Und hier ist der Spielraum wieder so weit wie bei allen qualitativen Aussagen auch. Dass Statistiken wenn nicht lügen, so doch trügen können, ist bekannt. Dennoch ist die Zahlengläubigkeit weit verbreitet. Wer Daten hat, dem glaubt man schnell. Eine Zahl entpuppt sich oft nicht als das bessere Argument, wird aber häufig als das gewichtigere angesehen.

Es sei daran erinnert, dass es nach den Vorhersagen des «Club of Rome» heute so manche Rohstoffvorkommen überhaupt nicht mehr geben dürfte. Zahlenskepsis ist also angebracht, gepaart mit Mut zur politischen Reform, statt mit immer neuen wissenschaftlichen Gutachten und Kommissionen auf Zeit zu spielen.

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(0) Zahlenwahn

350 Jahre sind vergangen, seit ein sichtlich enttäuschter Engländer Bilanz zog aus seinem Studium der Klassiker: es seien die alten, moralphilosophischen Werke halt nicht «scripta scientifica», sondern bloss «scripta verbifica», Wortgeklingel und Gerede. Was Wunder, wenn es keine Fortschritte gebe im Bereich der Philosophie, wenn die Menschen immer noch Kriege führten und allerorten Elend herrsche. […]

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