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Pediküre mit der Schleifmaschine

Früher träumte ich von Künstlern und «gediegenen Herren». Heute liebe ich einen Handwerker. Eine Lobesrede auf eine unterschätzte Berufsgruppe.

Pediküre mit der Schleifmaschine
Bild: unsplash/GabrielAlenius.

In meiner Familie gab es keine festen Regeln für die Partnerwahl. Mein Vater war Lehrer, mein Stiefvater erlernte einen sozialen Beruf. Ich war also ziemlich frei zu wählen, wen immer ich wollte. Und das tat ich auch.

Mit Mitte zwanzig hielt ich einen Künstler für das Nonplusultra. Ich nahm Gesangsstunden, besuchte RnB- und Neo-Soul-Partys und suchte dort die grosse Liebe. Doch die Männer dort kannten weder Zuverlässigkeit noch Monogamie, und manche wussten nicht einmal, ob sie Männer oder Frauen wollten. Das nichtbinäre Konzept war mir Anfang der 2000er-Jahre unbekannt, sonst hätte ich mich ihnen vielleicht als «they/them» vorgestellt, um meine Chancen zu erhöhen.

Nach Jahren erfolgloser Partnersuche war ich erschöpft und nahm mir vor, einen «langweiligen» Buchhalter zu finden – stabil und heiratsfähig. Hollywood-Filme und Freundinnen, die nur Büropersonal dateten, bestärkten mich. Also heiratete ich bald darauf. Dass es nach neun Jahren scheiterte, lag nicht nur am Beruf.

Nun bin ich zum ersten Mal in einer Liebesbeziehung mit einem Handwerker. Ein Handwerker bringt vieles, was ich mir nie erträumt hätte. Vorurteile, dass Handwerker wenig intellektuell seien, stimmen nicht. Die Büchersammlung meines Liebsten ist riesig; Hesse liest er seit seinem zehnten Lebensjahr.

Vor wenigen Wochen sind wir zusammengezogen. Ich arbeite oft remote und brauche ein grosszügiges Büro. Ursprünglich wollte ich meinen Bürotisch aufstellen, doch er hatte einen Ecktisch mit Analog-Sound-Lautsprechern als Beine gebaut und bot mir an, im Wohnzimmer daran zu arbeiten. Das erfüllte Träume, von denen ich bisher nichts wusste.

Die Arbeitsfläche war jedoch zu kurz für meine Arme; meine Ellbogen hatten keinen Platz. Noch bevor ich mich beschweren konnte, brachte mein Liebster ein Holzbrett und erweiterte die Fläche in drei Minuten. Als Liebhaberin von Livemusik erinnern mich die Boxen an eine Jazzbar im Zürcher Niederdorf, die ich Mitte zwanzig liebte, die es aber nicht mehr gibt.

Kein Problem ist unlösbar

Die praktische Einstellung eines Handwerkers prägt den Alltag. Es gibt kaum ein Problem, das nicht mit handwerklichem Geschick lösbar ist. Das Gefühl, gut aufgehoben zu sein, ist so stark, dass ich nachts nicht mehr aufwache und wie ein Engel schlafe. Natürlich hängt das auch mit Liebe und Fürsorge zusammen, die Männer jeder Couleur bieten können.

Weniger romantisch war es, als ich im Wohnzimmer meine Pediküre machte. Ich benutze einen kleinen elektrischen Stab im Kupfer-Rosé-Design, um Hornhaut zu entfernen, während ich Netflix oder YouTube schaue. Mein Liebster schüttelte den Kopf, verschwand und kehrte mit seiner Holzschleifmaschine zurück. Er demonstrierte an seinen eigenen Füssen, wie schnell die Hornhaut weg ist. Der Lärm machte mich sprachlos. Dann wollte er an meine Füsse ran. Ich liess ihn eine kleine Fläche schleifen – es war nicht unangenehm. Dennoch fragte ich mich, ob er meine Füsse nun als Holztisch betrachtete. Natürlich wollte er nur helfen, auch wenn die Präsentation nicht so «ladylike» wie in der Kosmetikwerbung war. Dennoch ist es gut zu wissen, dass man immer um Hilfe bitten kann und dass diese Hilfe ungeheuchelt und in seinem Alltag ganz natürlich ist.

«Mit den Händen zu arbeiten ist etwas Lobenswertes und Systemrelevantes. Handwerker können stolz auf sich sein.»

Neulich musste er für einen Kunden einen Nachtstuhl reparieren, einen für das Nachtgeschäft im Schlafzimmer, Sie verstehen. So bekomme ich Erlebnisse aus einem so menschlichen Alltag mit, wie es in Remote-Bildschirm-Jobs wie meinem selten vorkommt.

Es ist, als würde man mit einem seltenen und kostbaren Erbstück zusammenwohnen, einer Art lebendigen Reliquie, die niemals aus dieser Welt ausscheiden darf. Mit den Händen zu arbeiten ist etwas Lobenswertes und Systemrelevantes. Auch in Zeiten der künstlichen Intelligenz. Handwerker können stolz auf sich sein.

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