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Die grosse Verkehrung
Monika Hausammann, zvg.

Die grosse Verkehrung

Weiche Rechte wuchern, während unverzichtbare Menschenrechte unter Beschuss geraten. Unter dem Banner des Humanismus droht sich ein tyrannischer Wächter­amtsstaat zu entwickeln.

 

Die Herablassung in Angela Merkels Stimme war nicht zu überhören, als sie ­Donald Trump 2016 anlässlich seines Wahlsiegs ermahnte, sich in seiner Amtsführung an «humanistische Werte» zu halten. Drei Jahre später wurde sie selbst ­sowohl von der Universität Harvard als auch von der Handelshochschule Leipzig für ihre «humanistische Haltung» und ihr «humanistisches Weltbild» mit der Doktor- ­beziehungsweise der Ehrendoktorwürde geehrt.

Merkel steht hier stellvertretend für Politiker jeder Couleur, die anlässlich von Feiertagen, Staatsakten und Terroranschlägen «unsere humanistischen Grundwerte» beschwören. Glaubt man den staatlichen und mit dem Staat aufs engste verbandelten Institutionen, die die öffentliche Meinungsbildung grösstenteils prägen und die ich in der Folge unter dem Sammelbegriff der «Meinungsindustrie» zusammenfassen werde – Politik, Mainstream-Medien, Bildungsinstitutionen, NGO, Kultur- und Unter­haltungsbranche, Wissenschaft, supranationale Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen, Grosskonzerne –, dann ist die Ordnung, auf der unser Zusammenleben als Gemeinschaft gründet, eine humanistische: eine Ordnung also, in der sämtliche ­Lebensbereiche der Gesellschaft dem Menschen autonom, gleichberechtigt und neu­tral als Funktionen und als Foren seines Handelns zur freien, vernünftigen und mündigen Selbstverwirklichung zur Verfügung stehen.

Die Überstülpung des Staatlichen über alles und jeden

Ist das so? Nein. Bereits beim leichtesten Kratzen an der Oberfläche des Humanismus der Reden, Slogans und Medienformate, der von sich behauptet, er sei nicht nur eine praktikable, sondern die real praktizierte Gesellschaftsordnung, wird klar: Der Beschwörungs- und Betroffenheitshumanismus der Meinungsindustrie ist gar kein Humanismus. Er ist die radikale Verkehrung in sein Gegenteil.

Wer nicht seit fünfzig Jahren im Koma liegt, wird schon bei den Worten «gleich­berechtigt» und «neutral» in bezug auf die verschiedenen Lebensbereiche unserer ­Gesellschaft gestutzt haben. Die kleine Gruppe von Menschen, die das Privileg hat, via Gewaltmonopol Entscheidungen für oder gegen andere zu treffen, die Regierung, ist längst nicht mehr bloss neutraler Mittelbereitsteller und Dienstleister neben anderen, sondern hat sich durch Subventionierung und Regulierung zum autoritären Primat und zur Norm erhoben. Damit hat sich die oberste Prämisse des Humanismus aber bereits erledigt: Der Mensch kann unter diesen Bedingungen gar nicht mehr als sich ausschliesslich selbst gehörend in der Welt als Forum sich ihm bietender Möglichkeiten leben, sondern nur in einem Unterordnungs­verhältnis zum «totalen Allmutterstaat» (Peter Sloterdijk).

«Der Beschwörungs- und Betroffenheitshumanismus der

Meinungsindustrie ist gar kein Humanismus.

Er ist die radikale Verkehrung in sein Gegenteil.»

Jetzt kann man einwenden, die Überstülpung des Staatlichen über alles und jeden sei zwar suboptimal und entspreche nicht den Idealbedingungen eines säkularen Humanismus, aber es stehe der Selbstverwirklichung des Menschen in Freiheit auch nicht dia­metral gegenüber. Grundsätzlich gilt: Frei ist, wer die Ziele seines Handelns eigenverantwortlich bestimmen kann. Ohne Ziele und personale Verantwortung – ein freiwilliges Sollen also – ist ein Tun, ein Dulden oder ein Unterlassen bloss Reaktion auf Reize und vermeintliche Freiheit die Unfreiheit tierischen Müssens.

Garant solcher Freiheit seien, so heisst es, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegten Rechte. Sie bildeten die Grundlage, auf der sämtliche Politiken mit dem Ziel einer humanistischen Gesellschaftsordnung aufbauten.

Wie im Fall der biblischen Zehn Gebote können die Rechte der Erklärung unter den Oberbegriffen «harte Rechte» und «weiche Rechte» zwei verschiedenen Gesetzestafeln zugeordnet werden. Zu den harten Rechten zählen all jene, die als «das Recht, in Ruhe gelassen zu werden» (Roland Baader) und also die Abwesenheit von Zwang zusammengefasst werden. Darunter fallen das Recht auf Leben, auf Verschonung von Folter und Sklaverei, Eigentumsrechte und so weiter – Selbstverständlichkeiten für jeden in unseren Breitengraden sozialisierten und vernünftigen Menschen. Weiche Rechte gehen dagegen weit über diesen existentiellen Rahmen hinaus: das Recht auf befriedigende und gerechte Arbeit, das Recht auf Erholung, Freizeit und Urlaub, das Recht auf Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztliche Versorgung, das Recht auf Bildung, das Recht auf soziale und kulturelle Teilhabe et cetera.

Während man die erste Rechtekategorie als Freiheitsrechte ­gegenüber anderen Menschen innerhalb und ausserhalb staat­licher Institutionen bezeichnen kann, handelt es sich bei der zweiten Kategorie um einen bunten Strauss an Forderungen an das ­Leben selbst. Weil von diesem aber nichts gefordert werden kann, richten sie sich an die Entität, die sich dessen Organisation zur Aufgabe gemacht hat respektive anmasst: den Staat. Da dieser aber nur geben kann, was er andernorts erzwingt und eintreibt, richten sich die Forderungen in Wirklichkeit an das Kollektiv «Allgemeinheit» oder «Gesellschaft». Die Rolle des Staates dabei ist ausschliesslich jene, mit Androhung von Gewalt – von der Betreibung bis hin zur Pfändung und zur Haft – sicherzustellen, dass der wertschöpfende Teil dieser Allgemeinheit die Rahmenbedingungen und die Mittel zur Umverteilung an die Anspruchsberechtigten liefert.

Mit Rundumversorgung zur Unfreiheit

Die Tatsache, dass während der vergangenen Jahrzehnte der Begriff «Humanismus» immer mehr mit dem des «Humanitarismus» gleichgesetzt und beide zum Konzept der «sozialen Gerechtigkeit» verschmolzen wurden, hatte zur Folge, dass die Gesetzestafel der harten Rechte nach und nach jener der weichen Rechte unterstellt wurde. Die Freiheit ist damit heute nicht mehr primär das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Nicht das Recht auf Freiheit von Zwang steht an erster Stelle, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit von Zwang zur Sicherung der Bedürfnisse jener, die dies nicht selber können oder wollen. Es ist die alte «Teufelsmixtur, deren Rezept lautet: die einen auf Kosten der anderen zu füttern» (Alexander Solschenizyn). Im Zentrum der Verantwortung für das eigene Leben steht damit nicht mehr der einzelne und nur in dieser unteilbaren Verantwortung freie Mensch, sondern die ihm das Lebensnotwendige bewilligende und zuteilende Macht: der Staat, die Behörde, das Amt.

Der Humanismus ist hier dem Marxismus auf den Leim gegangen: Danach ist Freiheit zuerst die Freiheit von der Notwendigkeit und erst danach kann das «Reich der Freiheit» (Karl Marx) des freiwilligen Sollens und der Selbstverwirklichung beginnen. Man kann nun einwenden, dass das nicht das Ideal einer humanistischen Gesellschaftsordnung schmälere. Doch genau das ist der Fall. Es ist im Kern eine «Strategie des Aufstands gegen die Freiheit» (Karl Popper) und mündet – jede jemals realisierte ähnliche Gesellschaftsklempnerei steht Zeuge – nie in eine freie, sondern immer in eine parasitäre und damit unfreie Gesellschaft.

Wo das Recht auf Rundumversorgung eingeklagt werden kann, wird eine immer grössere Zahl von Menschen dies der Anstrengung von Arbeit vorziehen. Wo staatliche und damit immer persönliche Macht und Privilegien umso gesicherter sind, je mehr Menschen versorgt werden, werden die Mächtigen im Staat nicht danach streben, diese Abhängigkeiten zu reduzieren, sondern sie im Gegenteil zu vergrössern suchen. Immer neue Gruppen von Anspruchsberechtigten stehen in diesem Teufelskreis zusammen mit einer immer grosszügiger ausgestatteten Verteilungs- und Regulierungsmacht. Und gegenüber steht eine immer kleinere Gruppe von Menschen, welche dazu gezwungen wird, die Utopie mit ihrem Geld, ihrer Arbeit und ihrer Lebenszeit aufrechtzu­erhalten. Der Kreis bricht erst dann auf, wenn die Realität des ökonomischen Grundprinzips der Knappheit gewaltig in das Utopia der erpressten Allversorgung hineinbricht. Wenn nichts mehr da ist, das man den einen abpressen könnte, um die anderen zum Zweck des eigenen Machterhalts damit zu ködern.

Zu sagen, die aktuelle Politik stütze sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, ist also im besten Fall Illusion, eher aber Heuchelei. Der Oberbegriff der «sozialen Gerechtigkeit» meint fast ausschliesslich die weichen Rechte und damit einen Personenbegriff, der den Menschen nicht in seiner einzigartigen Ganzheit, sondern nur in seiner «Tierheit», seinen Neigungen, seinem Opportunismus, seinem Hang zum geringsten Widerstand und seinen Trieben – kurz: seinem natürlichen Müssen und damit seinen Unfreiheiten – erfasst. Hier geht es nicht um die Befähigung des einzelnen, dem humanistischen Ruf «Werde, was du bist!» zu folgen, sondern um die «Freiheit» von Stallvieh unter dem Regime einer sich immer totalitärer gebärdenden Gruppe von Zuteilern. In einer solchen Gesellschaft sind die Menschen einander nicht mehr Mitmenschen und Kooperationspartner, sondern in immer stärkerem Masse und durch alle sozialen Schichten hindurch misstrauische und missgünstige Rivalen an den Futtertrögen des Staates.

Der Mensch wird auf Befindlichkeiten reduziert

Wer der Meinung ist, dies sei zu schwarz gemalt, sollte sich folgendes vor Augen halten: Erstens geht die Entwicklung dahin, dass die harten Menschenrechte den weichen nicht nur unterstellt werden, sondern dass sie real unter Beschuss stehen. Die Ausübung von Zwang im Namen der sozialen Gerechtigkeit ist via Steuern und Abgaben längst selbstverständliche Praxis. Ebenso die finanzielle Enteignung durch Negativzinsen und permanenten Kaufkraft­verlust aufgrund der Geldentwertung. Die Enteignung von Immobilienbesitz beziehungsweise die Beschlagnahme von Immobilien wird offen diskutiert. Das Recht auf Leben und die Unversehrtheit des Leibes wird von über 70 Millionen Abtreibungen pro Jahr zumindest relativiert.1 Die Berechnungen kanadischer Forscher 2 zur finanziellen Entlastung des Gesundheitssystems durch die Ausweitung des assistierten Suizids alter Menschen sind dagegen ebenso konkret wie die Diskussion über einen Impfzwang.

Zweitens wird dem Vorwurf der Schwarzmalerei der Wind aus den Segeln genommen, wenn man bedenkt, dass vom beschworenen Humanismus in der Praxis nicht mal mehr das Individuum übrigbleibt: Wo der Mensch nicht grundsätzlich als einzelner und als Unikat wahrgenommen, sondern unverzüglich einer Opfer- oder Tätergruppe zugeordnet wird, hat sich der Humanismusbegriff entleert und ist bedeutungslos geworden. Es heisst dann bald, eine gute Ordnung sei eine, die niemanden in seinen Gefühlen verletze; eine Ordnung, in der alles dafür getan wird, den Menschen auf seine Befindlichkeiten und seine Emotionen zu reduzieren, in der der Grad der Adelung und in der Folge der Grad der Versorgungsprivilegierung direkt mit dem Grad der Selbst­reduktion auf einen herbeigeredeten Opferstatus und die Einreihung in die entsprechende Opfergruppe korreliert. Das Konzept der Minderheits- beziehungsweise Identitätspolitik bewirkt genau dies.

Auf den Bauch hören statt sich seines Verstandes bedienen

Zusammenfassend und Bezug nehmend auf die eingangs gestellten Fragen danach, ob die gegenwärtige Meinungsindustrie den Menschen im Sinn des Humanismus als ganze, sich freiwillig bindende Person bestätige und ob der einzelne sich selbstverantwortlich zur ermächtigenden Freiheit eines selbstgewählten Sollens «zwinge», stellt man fest: Das Gegenteil ist der Fall. Das Kant’sche Aufklärungswort «Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen» ist in der angeblich freiesten aller Welten auf ein schlichtes «Höre auf deinen Bauch» reduziert worden. Als frei gilt nicht der sich selbst geschenkte Mensch, sondern der uniform satte, beschützte, befriedigte, sich gut fühlende und in Obhut genommene Mensch.

Diese beobachtbare Wirklichkeit lässt in meinen Augen nur einen Schluss zu: Humanismus und eine humanistische Gesellschaftsordnung waren nie und sind nicht das Ziel, sondern bloss der verbale Vorhang vor der Tatsache eines sich zur vollen Entfaltung mausernden Weltanschauungs- und Wächteramtsstaats – halb Heil(s)anstalt, halb Heiligungsbewegung, aber ganz Tyrannis. Dieser Staat stellt nicht die Rahmenbedingungen zur freien Selbstentfaltung der Menschen sicher, sondern liefert ihn der totalen Umgriffenheit, Kontrolle und uniformen Vermassung aus und nimmt ihm, was er zu geben vorgibt: seine personale Eigenständigkeit und das Potenzial zur Freiheit. Wer in einem solchen Staat nicht Funktionär oder zumindest Funktionierender ist, wer anders denkt, überhaupt denkt, ist bereits ein Staatsfeind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man den Wortteil «-feind» durch «-gegner», «-skeptiker» und «-kritiker» ersetzt hat: Wer sich dem politischen Mythos des praktizierten Humanismus verweigert, ist Ausgestossener und Gefährder von Demokratie, Frieden, «Volksgesundheit» und der Zukunft des Planeten schlechthin und darf wirtschaftlich und sozial im Interesse aller gecancelt werden.

Das Beharren auf oder eine Rückkehr zu echter personaler und verantwortlicher Freiheit ist vor diesem Hintergrund nur um den Preis des Heraustretens, des Aussenseitertums und des radikalen Abseitsstehens zu haben. Wer nicht mehr mitmacht beim Tanz ums goldene Kalb des Scheinhumanismus, stellt sich nicht nur quer zur Mehrheit der sich selbst reduzierenden Menschen, sondern vor allem quer zum Staat, der sich zurzeit via Gesundheitspolitik und Planetenrettung in der Metamorphose vom blossen Göttlichsein zum Gottsein befindet.

Das Studium der Bücher der Bibel kann beim Heraustreten helfen. Als Buch des freien und sich freiwillig bindenden «Ich» in Verantwortung, als Buch universell gültiger und bewährter Axiome und Kausalitäten und schliesslich als Buch des Menschen als von einem liebenden «Du» Erkannten, Durchschauten und Geliebten ist die Bibel der denkbar radikalste Gegenentwurf zu dem, was heute fälschlicherweise unter dem Begriff des Humanismus gefördert und forciert wird. Wir können es uns nicht leisten, sie zu ignorieren und damit in die Quelle zu spucken, aus der wir alle bewusst oder unbewusst getrunken haben. Sie macht in bezug auf unser Thema viererlei klar. Erstens: Freiheit war und ist immer und überall gefährdet. Zweitens: Freiheit ist nicht verhandelbar. Drittens: Für Freiheit und Selbstbestimmung einzustehen und mutig zu sein ist heute nicht schwerer als vor Tausenden von ­Jahren, wir sind es bloss nicht mehr gewohnt. Und schliesslich viertens: Solches Einstehen lohnt sich langfristig immer.

  1. http://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/preventing-unsafe-abortion

  2. Aaron J. Trachtenberg and Braden Manns: «Cost Analysis of Medical Assistance in Dying in Canada», http://www.cmaj.ca/content/189/3/E101

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