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Fünf Parteien mit fünf nahezu identischen Programmen: Deutschland wählt – und hat doch keine Wahl. Wer in diesen Zeiten eine Alternative zu sozialdemokratischer Politik sucht, findet sie nicht. Das hat sich lange angekündigt. Und birgt gesellschaftlichen Sprengstoff. Über Deutschland hinaus.

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Wolfram Weimer, photographiert von Reto Klar, Hamburg.

Die postideologische Zeit galt zunächst als eine Verheissung. Wir kamen aus den Kerkern und Völkergefängnissen und Kriegen der Ideologen von Klassen- und Rassenwahn und wähnten uns wahlweise am Ende der Geschichte oder im Paradies der Freiheit. Tatsächlich hat sich die westliche Welt ihrer menschenverachtenden Ideologien entledigt, doch sind ihr zugleich die Epen abhandengekommen – und damit die Prägekräfte gesellschaftlichen Bewusstseins. Wir sind zu kurzatmigen, kurzweiligen, kurzsichtigen Kollektivexistenzen herabgesunken. Kein Horizont der Deutschen reicht weiter zurück als 1933, wir kennen die langen Linien unserer Herkunft nicht, nicht einmal mehr ihre rudimentären Sagen. Wir hecheln nur mehr von Zeitgeist zu Zeitgeist, von Mode zu Mode, von Gadget zu Gadget. Eine Kultur aber ohne Gespür für ihre Herkunft hat – der Philosoph Odo Marquardt brachte es auf den Punkt – auch keine Zukunft.

Das umfassende Lebensgefühl, dass alles, was heute gilt, morgen Makulatur sein kann, befähigt uns bloss vordergründig dazu, den Modernisierungsprozess zu bewältigen. In Wahrheit bildet die Gesellschaft neue, willkürliche Sicherheitsreflexe aus, weil sie ihrer Bewusstlosigkeit entrinnen will. Die europäischen Gesellschaften sind Treibhölzer einer modernen, technischen Raserei, die sie selbst losgetreten haben. Wir wissen nicht, wohin das führt, wir wissen nicht einmal mehr, wohin das führen soll.

Super-Nanny-Politik

Wenn nun die Gesellschaft ihr instinktives Selbstbewusstsein nach und nach verliert, nicht mehr zu unterscheiden vermag, was wichtig und unwichtig ist, dann neigt sie zu Sicherheitsreflexen. Sie definiert kindische Regeln, weil sie nicht mehr sicher ist, ob auch alle erwachsen genug sind, um mit der Freiheit umzugehen. Die Folge ist ein schleichender Freiheitsverlust. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck verweist unermüdlich auf diesen Trend. Und je lauter Gauck die Freiheit predigt, desto ungehaltener reagiert das sozialdemokratisierte, das offizielle Deutschland. Die Gutmeinenden wünschen sich einen Bundespräsidenten lieber als Gleichheitsapostel, Gerechtigkeitsprophet, Integrationsmissionar oder Emanzipationsguru.

Aus dieser Gemengelage erwächst zusehends jene Super-Nanny-Auffassung von Politik, die unsere Republiken längst prägt. Von der Sozialabgabenindustrie bis zum Glühbirnenbefehl, von der Mülltrennung bis zum ARD-ZDF-Gebühren-Zwang reicht die Alltagserfahrung in einem Staat, der zusehends auftritt wie ein Sheriff. Alleine die Verkehrsüberwachung ist ein Repressionssymptom: 20 Millionen Strassenschilder prägen Deutschland, alle 28 Meter steht eines, mit jedem Atemzug wird jemand geblitzt, mit jedem Wimpernschlag gibt es einen Strafzettel wegen Falschparkens, 9 Millionen Deutsche haben inzwischen Punkte in Flensburg, der Staat drangsaliert mit seinen in Büschen kauernden Polizisten brave Muttis auf Ausfallstrassen und macht damit ein dreistes Milliardengeschäft.

Selbst wenn wir bürokratisch schon halb ersticken, leisten wir uns lieber einen Ordnungshüter, eine Regulierungs- und eine Aufsichtsbehörde mehr. Von der Eröffnung eines Bankkontos bis zur Krankenkassenmitgliedschaft wird das Leben zum Juraseminar. Das Paternalistenrepertoire macht weder beim E10-Benzin-Befehl noch beim Rauchverbot halt, es erzwingt selbst das nervende Alarmpiepsen im Auto, wenn man seinen Gurt nicht gleich anlegt.

Es dämmert damit eine Tugendrepublik herauf, in der Hohepriester des Gutmenschentums uns mit ihren Geboten umstellen: Du sollst kein Fleisch essen und kein Kaminfeuer anzünden. Du sollst nicht glücksspielen (es sei denn bei staatlichen Lottogesellschaften). Du sollst nicht nach Leistung beschäftigen, sondern nach Geschlecht und Herkunft. Mit Quoten und Verboten kommen sie daher, die Verbraucher- und Familienschützer, die Gleichstellungsbeauftragten und Integrationsberater. Sie sind Profiteure des Freiheitsentzugs, jene Armutsbekämpfer, Präventionsräte und Klimaretter, Lobbyisten der Gewissheitsindustrie, die ihr Geschäft so verfolgen, dass sie ihre Nachfrage mit Pro­blemstudien selbst erzeugen. Ihre Absicht, das Land in eine gigantische Besserungsanstalt zu verwandeln, folgt einer ganz eigenen Logik, denn dann haben sie als Besserungspädagogen ihr Auskommen.

Deutsche Finanzämter sind Tempel der Bürokratievergötterung, sie huldigen 33 000 (!) Steuerparagraphen. Steuererklärungen können wir gar nicht mehr alleine abgeben, wir brauchen dazu 100 000 Steuerberater, noch einmal so viele Steuerbeamte, und wir verschwenden Tag für Tag die Intelligenz einer Kulturnation mit dem erniedrigenden Aufarbeiten von Abschreibungen, Freibeträgen und Bemessungsgrenzen. Kein Mensch blickt mehr durch, und ein dunkler Nebel des Misstrauens legt sich über unsere Steuerbehörden – Zigtausende von Rechtsverfahren sind anhängig, millionenfache Sachverständigenstunden von Juristen sind gefordert in einer absurden Welt, die den gesunden Menschenverstand nur noch vom Hörensagen kennt. Und die Antwort des Staates darauf: Die Schaffung neuer Aufsichten für einen Bürokratieabbau, der nie kommt.

Statt einer souveränen Freiheitskultur ist der Tugendterror auf dem Vormarsch: Ein deutscher Bundespräsident wird aus dem Amt gejagt, weil eine einzelne Hotelübernachtung nicht exakt genug verbucht war. Ein Unternehmen wird verklagt, weil es Geschäftsfreunde zu einem Fussballspiel einlädt. Die öffentliche Moral hat einen neuen Fetisch: die Kleinlichkeit. Ob im Alltag oder in der Weltpolitik – die Tugendwächter sind immer schon da.

Moralapostel der Moderne

Die am schnellsten wachsenden Aktivitäten in unseren Konzernen kommen daher aus den Compliance-Abteilungen – dort arbeiten die Moralapostel der Moderne. Unter dem Siegel der Regeltreue und Korruptionsbekämpfung entfesseln sie Kontrollsucht und Regelbürokratie. Geschenke gibt es fast keine mehr, denn immer lauert irgendwo der geldwerte Vorteil oder der mutmassliche Bestechungsversuch. Geschäftsessen und Dienstreisen unterliegen dem Ruch halbkrimineller Veranstaltungen. Und selbst auf den Geburtstagsblumenstrauss blickt der Compliance-Officer inzwischen wie ein Terrorismusjäger.

Im Staatsdienst hat der Compliance-Wahn bereits triumphiert: Postboten trauen sich nicht mehr, das Weihnachtstrinkgeld an der Haustür anzunehmen. Müllwerker in Hamburg dürfen keine Dankesgeschenke der Anwohner von mehr als 10 Euro akzeptieren. Ein Kunstlehrer gibt das Abschiedsgeschenk seiner Abiturienten zurück, weil die Karikatur 100 Euro wert ist. Kurzum: Beamte dürfen eigentlich keine Freunde mehr haben.

Ex-Aussenminister Joschka Fischer, bis heute mit einem gesunden antiautoritären Impetus ausgestattet, bringt es auf den Punkt: «Ich habe mein Leben so geführt, dass ich den hohen moralischen Standards, die neuerdings an öffentliche Ämter durch die Medien angelegt werden, nicht mehr gerecht werde. Demnächst wird der Bundespräsident über das Wasser wandeln müssen, und dann wird man ihn fragen, ob er am Ende den Erwerb dieser Fähigkeit sich nicht hat subventionieren lassen.»

Am folgenreichsten aber sind die verschobenen Koordinaten der öffentlichen Moral in Richtung Spiesserpolizei. Eine Stewardess wird sich im neopuritanischen Zeitalter nicht mehr trauen, einen Gast auf einen besseren, teureren Platz zu setzen. Ein Hotelrezeptionist hütet sich, besonderen Gästen ein besseres Zimmer zu geben als just genau das gebuchte und bezahlte.

Das rheinische Grosszügigkeitsmotto «Man muss auch gönnen können» wird durch das preussische Prinzip «Selbst den Anschein einer Verfehlung gilt es zu vermeiden» ersetzt. Auf den ersten Blick gewinnt die Republik damit an Anstand. Schon auf den zweiten aber zeigt sich ein Furor der Spiessigkeit, bei dem die Regeln des Sozialverhaltens immer missgünstiger ausgelegt werden.

Das neue Diktat der moralischen Korrektheit führt in der strengen Auslegung dazu, dass sich der Sportlehrer nicht mehr traut, dem dicken Schüler trotzdem eine Note 2 zu geben. Weil er ein Menschenfreund ist, weil er ein guter Pädagoge ist und motivieren oder trösten will – alles ungerechte Kategorien, aber menschliche eben.

Es ist diese sozialdemokratische Selbstverkleinerung, die die politische Kultur Mitteleuropas, ja ganz Europas inzwischen prägt. Und mit ihr geht ein neuer Minderwertigkeitskomplex einher, der zur Geschichte Europas überhaupt nicht passt.

Die ehemaligen Weltbestimmer

Wir Europäer leben seit 2000 Jahren in dem Bewusstsein kultureller und wirtschaftlicher Dominanz. Wir waren die Weltbestimmer. Dieses Grundgefühl der eigenen Überlegenheit wurde zunächst getragen vom Machtanspruch des römischen Imperiums, später vom mittelalterlichen Sendungsbewusstsein, schliesslich vom kolonialen Gestaltungsanspruch der Neuzeit. Zu jeder Epoche fühlten sich Europäer allen anderen Zivilisationen überlegen. Es gab zwar Erschütterungen in dieser langen Linie des gefühlten Eurozentrismus – die völkerwandernde Zwischenphase nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums, der Aufbruch der islamischen Welt und ihre Expansion bis tief hinein nach Europa, die Entdeckung Chinas wie Amerikas und die Kenntnisnahme anderer Hochkulturen, der Aufstieg der USA – und doch blieb das Selbstgefühl Europas als Avantgarde der Menschheit intakt.

Erst unsere Generation bekommt den verfestigten Eindruck, dass die Sache mit der Überlegenheit endgültig vorbei sein könnte. Wir fühlen uns wie im letzten Akt der europäischen Neuzeit, im bewusstseinstürzenden Europa. Wir verlieren das Selbstbewusstsein eines Europas, das die Welt denkt, definiert, kultiviert und verändert. Unser Europa ist ein erlöschender Vulkan, er zischt noch hie und da, und man kann an seiner imposanten Kraterlandschaft der Kultur seine einstige Grösse erahnen. Seine vitale Kraft aber ist ihm abhanden gekommen.

Nehmen wir zur Veranschaulichung die offensichtliche Indizienkette:

1. Europa vermehrt sich nicht mehr biologisch. Die Geburtenraten sind hier so niedrig wie nirgends auf der Welt, der alte Kontinent wird buchstäblich alt, seine Bevölkerung ist so hochbetagt wie die keines anderen Kontinents. Der Europäer marginalisiert sich selbst. Um 1900 war jeder dritte Erdenbürger Europäer. Heute stellt er noch ein Achtel der Weltbevölkerung. Um 2050 werden es noch sieben Prozent sein. Auch in Nord- und Südamerika sowie Australien werden europäischstämmige Menschen auf längere Sicht zur Minderheit. An der Expansion der Menschheit sind die Europäer nicht mehr beteiligt.

2. Europa vermehrt sich nicht mehr räumlich. Das Zeitalter der europäischen Expansion, der manifesten oder latenten, der politischen oder kulturellen Kolonialisierung ist 1945 zu Ende gegangen. Der zweite 30jährige Krieg – jene aus zwei Weltkriegen bestehende Selbstvernichtungsorgie Europas – hat die globale Dominanz beendet. Seither ist Europa auch räumlich auf dem Rückzug. Territorial werden die Räume, die von europäischen Hauptstädten beherrscht werden, immer kleiner.

3. Europa vermehrt sich nicht mehr wirtschaftlich. Auch das ökonomische Gewicht Europas in der Welt nimmt laufend ab. Die Anteile am Weltsozialprodukt, am Handelsvolumen, am Kapitalstock, an den patentierten Erfindungen – welche Kennziffer man auch immer nimmt: Europa ist der Absteiger unter den Kontinenten.

4. Europa vermehrt sich nicht mehr kulturell. Was immer die globale Community an kultureller Massenprägung erlebt – vom Kino über die Popmusik bis zu technologiegetriebenen Kommunikationsformen wie Facebook & Co. –, kaum mehr etwas kommt aus Europa. Der alte Kontinent schafft es nicht einmal, seine kulinarische Überlegenheit in Expansionsformate zu übersetzen. McDonald’s, Burger King, Pizza Hut, ja selbst die modernen Ausprägungen der Kaffeehauskultur übernehmen mit Starbucks und Konsorten Amerikaner. Und auch auf dem Feld der ethischen Kulturformen wird Europa immer leiser. Das hat einen Grund: Der Taufschein ist die Eintrittskarte in die europäische Kultur, wie einst Heinrich Heine – wenngleich polemisch – formulierte. Das Christentum aber wird seit einigen Jahrhunderten relativiert, bekämpft, letztlich aufgegeben. Mit diesem religiösen Masochismus tötet Europa seine kulturelle Urkraft.

Wir haben das amerikanische Jahrhundert also noch überlebt wie ein schwer verwundeter Grossvater im Ledersessel der abendländischen Villa, die er einst selbst erbaut, die er aber nicht mehr beleben kann. Die Vitalität Amerikas hat uns bis vor kurzem belustigt, wie arrogante Alte sich über die Kraft der Jugend belustigen. Inzwischen haben wir kapituliert, denn wir wissen: Ein Comeback Europas als Weltprägemacht wird es nicht mehr geben. Wir verfolgen mit grossen Augen den Aufstieg Chinas, Indiens und anderer Mächte, die unsere Zukunft definieren, aber nicht mehr wir die ihrige. Uns ist inzwischen klar, dass das Kapital und die Intelligenz und die Macht sich woanders sammeln. Und wir verdrängen noch, dass unsere Enkelinnen womöglich die Wärterinnen und unsere Enkel Söldner fremder Kulturmächte zu werden drohen.

Denn: Europa läuft dem Wissen davon, Asien aber läuft ihm entgegen. Europa misstraut sich selbst, ja es hasst seine Geschichte, Asien aber liebt seine Zukunft und traut sich alles zu.

Der Misstrauenskontinent

Auf unserem Kontinent breitet sich neben dem Niedergangsgefühl vor allem Misstrauen aus. Europa vermauert sich in Staatsbürokratien, Verschuldungstürmen, Umverteilungsindustrien und Gattern politischer Korrektheiten. Nach Umfragen vertrauen 54 Prozent der Deutschen gar niemandem. 74 Prozent glauben Wahlversprechen grundsätzlich nicht. Nur 9 Prozent glauben, dass die Renten sicher seien, obwohl die komplette politische Klasse täglich genau dies beteuert. Das steigende Misstrauen in Politik, in Institutionen und in den Zusammenhalt der Gesellschaft führt zu einer gewaltigen Sehnsucht nach Echtheit, Transparenz, Vertrautheit, die sich immer wieder Bahn bricht – so beim Aufstieg neuer Parteien.

Wenn aber im kollektiven Bewusstsein manifest zu sein scheint, dass wir im Herbst unserer Kräfte leben, dann beschleunigt das den Abstiegsprozess von sich aus. Denn wer wird investieren – Kraft, Geld, Ressourcen, Zeit, Leben, Kinder – in eine Zukunft, die er nicht besser erwartet als die Gegenwart. Es fehlt uns inzwischen die Verheissung. Das ist auch der Grund, warum der Modernisierungsgedanke nirgends so skeptisch betrachtet wird wie in Europa. Darum ist die Schuldenkrise Europas ein solches Fanal – weil wir die Zukunft nicht nur in geldlicher Weise verfrühstückt haben. Wir wähnen uns als Schuldner unserer Vergangenheit und nicht mehr als Gläubiger unserer Zukunft. Deshalb lauern hinter den technischen Problemen einer exorbitanten Staatsverschuldung, hinter den wankenden Schuldtürmen aus Anleihen, Krediten und Schuldscheinen auch die Schuldtürme des Kulturellen. Sie wanken beide, das macht die Sache so fatal.

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