Jede Prognose ist falsch, und doch kann sie hilfreich sein – das gilt auch für die AHV
Langfristige Voraussagen zur Altersvorsorge sind mit vielen Unsicherheiten behaftet. Der richtige Umgang damit schützt vor bösen Überraschungen.
Von einem «Wunder» bei den AHV-Finanzen berichteten Ende August verschiedene Medien. Die AHV steht deutlich besser da als befürchtet. Noch vor einem Jahr klang das ganz anders. So mancher Beobachter fühlt sich an das Bonmot erinnert, das dem Physiker Nils Bohr zugeschrieben wird: «Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.» Aber wie genau waren AHV-Prognosen der Vergangenheit tatsächlich (siehe Box), und wo liegen generell die Herausforderungen bei Prognosen zur Altersvorsorge?
Demografie: Kurzfristig präzise, langfristig ungewiss
Auf kurze Sicht lassen sich viele demografische Aspekte erstaunlich präzise voraussagen. Pensionskassen und die AHV wissen ziemlich genau, wie viele Menschen in einem bestimmten Alterssegment im nächsten Jahr sterben werden. Auch die für die AHV so entscheidende Lohnsumme der Erwerbstätigen lässt sich kurzfristig zuverlässig prognostizieren.
Doch je länger der Zeithorizont, desto grösser sind die Unsicherheiten. Wie lange die heute 40-Jährigen tatsächlich leben werden, ist mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Medizinischer Fortschritt, Lebensstiländerungen oder gesellschaftliche Entwicklungen können die Lebenserwartung stark beeinflussen und lassen sich kaum abschätzen. Auch die Lohnsumme im Jahr 2050 hängt stark von Annahmen zu Produktivitätswachstum, zu Arbeitsmarktbeteiligung und Zuwanderung ab. Schon kleine Abweichungen wirken sich langfristig massiv aus.
Kapitalmärkte: Kurzfristig unberechenbar, langfristig stabil
Bei den Kapitalmärkten, die vor allem für die zweite und dritte Säule eine zentrale Rolle spielen, verhält sich die Prognosefähigkeit genau umgekehrt. Die Rendite von Aktien im kommenden Jahr ist kaum vorherzusagen. Geopolitische Ereignisse, Wirtschaftskrisen oder Zinsänderungen können die Märkte abrupt bewegen. Entsprechend gross ist die kurzfristige Unsicherheit.
Über lange Zeiträume hingegen zeigt sich ein anderes Bild: Die durchschnittliche Rendite an den weltweiten Aktienmärkten ist über Jahrzehnte hinweg deutlich stabiler und damit einfacher zu prognostizieren als über die nächsten Wochen oder Monate.
Die AHV-Prognosen sind erstaunlich genau
Im Sommer 2024 geriet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in die Schlagzeilen: Von einem «Rechenfehler» war die Rede. Tatsächlich waren es nicht falsche Zahlen, sondern zwei problematische Formeln im Modell, die die Ausgaben in der fernen Zukunft überzeichneten. Die kurzfristigen Projektionen blieben auch nach Anpassung im ähnlichen Rahmen. Ob das nun angepasste Modell treffsicherer ist, muss sich erst zeigen.
Wie zuverlässig die Prognosen des BSV in der Vergangenheit waren, lässt sich hingegen überprüfen. Für einen möglichst langen Vergleich bietet sich das Jahr 2019 an.1 Vergleicht man die jeweils mittleren Szenarien ab 20082 mit dem effektiven Resultat 2019, ergibt sich ein überraschend genaues Bild.
Quelle: AHV-Finanzperspektiven, BSV, https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/sozialversicherungen/ahv/finanzen-ahv.html, bei mehreren Szenarien wurde jeweils das mittlere Szenario verwendet; AHV-Finanzergebnis 2019: Schweizerische Sozialversicherungsstatistik, BSV.
Ab den Finanzperspektiven 2011 lag die Schätzung des Umlageergebnisses für 2019 (Einnahmen – Ausgaben ohne Kapitalerträge) im Mittel nur rund 200 Millionen Franken daneben – das sind weniger als 0,5 Prozent der Gesamteinnahmen von 47 Milliarden Franken im Jahr 2019. Selbst die 2016er-Prognose, die das Umlageergebnis um 400 Millionen zu hoch einschätzte, wich weniger als 1 Prozent von den Gesamteinnahmen ab. Deutlich ungenauer waren aber die früheren Prognosen der 2000er-Jahre. 2008 wurde das Umlageergebnis für 2019 um 2,7 Milliarden Franken zu tief angesetzt – fast 6 Prozent der effektiven Gesamteinnahmen. Die Differenz rührt dabei in erster Linie aus der schlechten Schätzung der Einnahmen.
Ein entscheidender Faktor sind dabei die Bevölkerungsprognosen des Bundesamts für Statistik, auf die sich das BSV stützt. Diese werden alle fünf Jahre aktualisiert und beeinflussen die AHV-Prognosen erheblich. Vor allem das Ausmass der Zuwanderung wurde in den Szenarien der 2000er-Jahre systematisch unterschätzt. Auch das «Prognosewunder» 2025 ist massgeblich auf höhere Schätzungen zur Zuwanderung zurückzuführen.
Hohes Risiko beim Kapitalbezug
Die Prognosegenauigkeit bei der Altersvorsorge ist aber nicht nur für den Stimmbürger, sondern auch für die persönlichen Finanzen von hohem Interesse. Die Entscheidung für oder gegen einen Kapitalbezug ist dabei das prominenteste Beispiel. Pensionskassen können die Sterblichkeit ihrer Rentner gut über die nächsten Jahre prognostizieren, da die Stichprobe sehr gross ist. Statistiker sprechen vom «Gesetz der grossen Zahlen». Wer schon einmal beim Roulette am dritten Mal Rot in Folge verzweifelt ist, weiss, wie zentral die Grösse der Stichprobe ist.
Nimmt man via Kapitalbezug die Altersvorsorge in die eigene Hand, hat man eine Stichprobengrösse von eins. Damit trägt man das beträchtliche Risiko der eigenen Lebensdauer alleine, ohne Risikoausgleich innerhalb eines Kollektivs.
Auch die Stabilität von Aktienrenditen über lange Zeithorizonte hilft der Einzelperson nur bedingt. Entscheidend sind nämlich die kurzfristigen Renditen in den ersten paar Jahren nach der Pensionierung, wenn der Kapitalstock am grössten ist. Die kurzfristige Unberechenbarkeit von Aktienmärkten kann daher die eigene Vorsorge langfristig empfindlich treffen.
Szenarien statt Gewissheiten
Wie lässt sich mit all diesen Unsicherheiten umgehen? Ein bewährtes Instrument sind Szenarien. Seriöse Prognosen spielen verschiedene Annahmen durch und machen Sensitivitäten in den zentralen Ergebnissen sichtbar. Die Redlichkeit auf der politischen Bühne verlangt, dass nicht nur auf jenes Szenario abgestützt wird, das der eigenen Position in die Karten spielt.
Auch Privatpersonen sollten kritisch prüfen, ob der eigene Finanzplan konservativen Szenarien standhält: etwa, dass sie und ihr Lebenspartner zu den Glücklichen gehören, welche die Lebenserwartung um zehn Jahre überleben. Reicht das Geld auch noch, wenn gleichzeitig direkt nach der Investition des Kapitalbezugs ein gröberes Beben die Börsen durchschüttelt?
Frei nach dem Statistiker George Box gilt: Jede Prognose ist falsch, aber manche sind hilfreich, sofern wir ihre Unsicherheiten verstehen. Grundvoraussetzung für dieses Verständnis ist jedoch, dass man den politischen Schützengraben verlässt. Für die AHV-Prognosen gilt: Ist die Zuwanderung tiefer als erwartet, ist das «Wunder» schnell verpufft. Wächst die Schweizer Bevölkerung dagegen weiter stark, so finanziert der heutige Zuwanderungsboom den gestrigen Babyboom.
Mit der 2020 in Kraft getretenen STAF-Reform wurde erstmals seit 1997 die Finanzierung der AHV angepasst. Weitere einnahme- und ausgabeseitige Massnahmen folgten ab 2024 mit der AHV 21. Diese Effekte waren in den vergangenen Prognosen nicht berücksichtigt, weshalb die Jahre nach 2020 nicht für eine Bewertung taugen. ↩
Die Finanzperspektiven für die AHV sind ab 2008 weiterhin online abrufbar. ↩