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«Der Vergleich mit George Floyd war völlig unangebracht»

Journalisten würden Fehler nur immer halb zugeben und zurücknehmen, sagt der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller. Er wehrt sich regelmässig gegen Falschmeldungen der Medien.

«Der Vergleich mit George Floyd war völlig unangebracht»
Ausschnitt aus dem Bericht der «Berner Zeitung» vom Juni 2021, bei dem ein Vergleich mit dem Fall George Floyd gemacht wurde.

Herr Müller, im SRF-«Kassensturz» musste ich erfahren, dass Sie jede Banane und jedes Pausenbrötli einzeln abrechnen. Das überrascht: Haben Sie als Sicherheitsdirektor Zeit für so was?

In der Tat hat der «Kassensturz» dieses Bild von mir gezeichnet: ein Mann, der jeden Spesenzettel sammelt und jeden ­Rappen umdreht, wenn es um seinen eigenen Vorteil geht. Und auch die Zeit dafür hat, Kleinstbeträge in ein Spesen­formular einzutippen (lacht).

 

Was stimmt denn?

Ich habe nie einen einzigen Spesenzettel für Kleinstbeträge eingereicht und schon gar ist völlig falsch zu behaupten, dass ich dies systematisch getan hätte. Spesenabrechnungen habe ich lediglich für grössere Beträge eingereicht. Die paar Einkäufe, welche der «Kassensturz» skandalisiert hatte – zwei Brötchen und eine Banane und dann noch ein Plastiksäckli für 10 Rappen, wie die Journalisten geschrieben haben –, stammen aus meinem ersten Amtsjahr. Es handelte sich dabei um einen Einkauf durch eine Mitarbeiterin für eine Mittags­sitzung für mehrere Personen. Ich selbst habe weder den Einkauf getätigt noch den Beleg dafür unterschrieben, es wurde auch nicht an mich ausbezahlt. Wahr ist, dass diese Belege gegenüber der Mitarbeiterin abgerechnet wurden. Falsch ist, dass solche Kleinspesen regelmässig abgerechnet wurden, die letzten waren im Jahr 2019.

 

Sie beklagen auch Falschmeldungen über die Berner Polizei seitens der Medien. Können Sie konkret werden?

Ein Beispiel, das schweizweit bekannt wurde, ist eine Geschichte der «Berner Zeitung» und des «Bunds» von Juni 2021 über einen Berner Polizisten, der mit begründetem Verdacht versuchte, einen Marokkaner bei der Heiliggeistkirche anzuhalten. Es kam zu Rangeleien, bei denen ein Foto entstand, das in einem ersten Artikel und in einer Bildunterschrift mit dem Fall George Floyd in Verbindung gebracht wurde. Darauf reagierte die Öffentlichkeit: In der Online-Version der Zeitung wurden Hasskommentare freigeschaltet, der angeschuldigte Polizist als «Mörder» bezeichnet. Inzwischen jedoch wurde dieser freigesprochen.

 

Als oberster Verantwortlicher für die Berner Polizei ist das sicher eine Genugtuung für Sie. Hatten Sie von Anfang an Zweifel an der Geschichte?

Ich weiss, dass die Redaktion noch am Tag der Publikation von einem Rechtsmediziner per E-Mail kontaktiert wurde, der nachfragte, wie lange der Marokkaner denn am Boden fixiert worden sei: Bis man beim Atmen Probleme bekommt, müssen ja drei bis vier Minuten vergehen. Wie aus den Zeitangaben der insgesamt 32 gemachten digitalen Pressefotos klar ersichtlich wird, dauerte die Fixierung des Marokkaners am Boden jedoch bloss etwas mehr als 1 Minute. Das Gericht bestimmte es dann auf 1 Minute und 13 Sekunden. Die Gefahr eines Erstickungstodes wie bei Floyd bestand also gar nicht – diese wichtige Information hat die Redaktion in der Folge bewusst unterschlagen. Das abgedruckte Foto zeigt den Rücken des Polizisten.

 

In der «Berner Zeitung» vom 14. Juni 2021 stand in der Bildunterschrift des Fotos: «Erinnert an George Floyd: Ein Polizist der Kapo drückt einem Mann sein Knie auf den Hals.»

Ich habe alle Fotos gesehen, nicht nur jene von hinten, sondern auch jene, die von der Seite gemacht worden sind. Bei diesen Aufnahmen konnte man sehen, dass nicht das Knie auf dem Hals lag. Diese Fotos wurden jedoch von BZ und «Bund» nie publiziert.

 

Die Chefredaktoren Isabelle Jacobi und Simon Bärtschi schrieben danach: «Die Berichterstattung dieser Redaktion war ausgewogen und so präzise und umfassend wie möglich.» Während der Polizist, der die Redaktion an den Fall George Floyd erinnerte, freigesprochen wurde, wurde ein zweiter Polizist verurteilt, zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Franken à 110 Tagessätzen.

Wenn wesentliche Informationen nicht weitergegeben werden, dann ist das weder präzise noch umfassend – und ganz sicher nicht ausgewogen. Der andere Polizist, der den Verhafteten angeblich unsanft in den Kastenwagen gebracht hatte, wurde in erster Instanz verurteilt. Darauf titelten BZ und «Bund» online: «Gericht verurteilt nur einen Polizisten». Auf dem Foto daneben wurde jedoch jener Polizist abgebildet, der freigesprochen wurde. Sein Freispruch ist rechtskräftig, die Verurteilung des anderen dagegen noch nicht. Es ist durchaus möglich, dass es am Schluss zwei Freisprüche geben wird.

 

Es ist aber nicht so, dass es keinerlei Selbstkritik gab seitens der Journalisten. Im «Bund» vom 19. Juni 2021 nahm Dölf Barben den Vorwurf ein wenig zurück: «Die Festnahme in Bern vom 11. Juni erinnert an den Fall George Floyd. Dieser Vergleich ist jedoch verfehlt – obschon im Kern das gleiche Rechtsgut tangiert wird.»

Das war eine Woche nach dem ersten Artikel. Die Medien- und Empörungswelle war vorüber, die Meinungen waren gemacht.

 

Wie hätten sich denn die Journalisten verhalten sollen?

Ich sage nicht, wie Journalisten berichten sollen. Fakt ist, dass der Vergleich mit George Floyd völlig unangebracht war, die Fixierung war zeitlich offensichtlich viel zu kurz. Fakt ist, dass die Redaktion nicht auf die Bemerkungen und Anliegen des Rechtsmediziners eingegangen ist. Fakt ist, dass die Redaktion kein Foto veröffentlicht hat, das einen anderen Blick­winkel zeigt, obwohl sie über solche Fotos verfügte. Ich hätte erwartet, dass die Journalisten spätestens auf die Einwände des Rechtsmediziners reagieren und sich korrigieren. Wenn die Redaktion die entscheidenden Informationen (und Bilder) zurückhält, dann zeigt sie ein unvollständiges und unaus­gewogenes Bild.

 

Gibt es weitere Falschmeldungen, mit denen Sie zu tun hatten?

«Polizeiauto fährt in Menschenmasse», lautete ein Titel im Online-«Bund».

 

Hier in Bern?

In einer ersten Reaktion auf die Meldung war ich natürlich erschüttert; mir kam der Vorfall in Nizza in den Sinn, als ein LKW in mörderischer Absicht in eine Menschenmenge gesteuert wurde und Personen tötete und verletzte. Als ich dann den Beitrag durchlas, stellte ich fest, dass der Titel überhaupt nicht zutrifft. Wir haben mit einer Medienmitteilung reagiert und das richtiggestellt. Darauf wurde der Text online angepasst.

 

Was ist denn passiert?

Die Polizisten sind bei der Berner Reitschule vorbeigekommen und haben dort am Boden gelegtes Feuer umfahren. Dabei wurden sie gefilmt, aber auch mit Feuerwerk beschossen. Weiter ist nichts passiert. Die Medien übernahmen zuerst das Narrativ der Reitschule, danach thematisierten sie immerhin, dass es sich um Fake News handelte. Richtig zurückgenommen haben sie die Story aber nicht, nur ein Fragezeichen dahintergesetzt. Und die Gesichter der Polizisten haben sie erst später verpixelt.

 

Gibt es vergleichbare Fälle?

Es gab noch einen Fall von jemandem, der sich auf dem ­Bundesplatz angeblich selbst verbrennen wollte. Das zufällige Video des Vorfalls zeigt einen Kreis von Leuten mit Kameras um ihn: Man merkt, dass alle Beteiligten genau wissen, was da passieren wird. Ich sagte danach, dass es sich um eine organisierte Show gehandelt habe – und natürlich empörten sich ­einige, wie ich ein böser Mensch sei und so etwas sagen könne, obwohl es doch ein Selbstverbrennungsversuch sei. Aber es war eine Inszenierung. Alle schauten zu, bis der Mann selbst Feuer fing, und dann erst reagierten sie und löschten das Feuer.

 

Nach Demonstrationen gibt es oft Meinungsverschiedenheiten darüber, wie viele Personen teilgenommen hätten. Wie gehen Sie damit um?

Die Berner Polizei stellt die Menge von Personen an einer ­Demonstration mit einem Rastersystem fest, um eine ungefähre Zahl festzustellen. Die Medien übernehmen jedoch oft übertriebene Angaben der Organisatoren, die teilweise um Faktor vier danebenliegen. Ich bin der Meinung, dass darauf aufmerksam gemacht werden sollte.

 

Soll es rechtliche Mittel gegen Falschmeldungen geben?

Die Menschen sollen filmen und fotografieren und sich äussern können. Das soll man nicht verbieten. Wenn etwas falsch gesagt oder dargestellt wird, muss das aber auch aufgedeckt und richtig dargestellt werden.

«Die Menschen sollen filmen und fotografieren und sich äussern können. Das soll man nicht verbieten.»

 

Hat die Berner Kantonspolizei Bodycams im Einsatz?

Wir haben uns dazu entschieden, sogenannte «Beweissicherungskameras» einzuführen; sie werden nur eingeschaltet, wenn eine Straftat begonnen hat oder unmittelbar bevorstehen könnte. Wir stehen aber noch am Anfang und sammeln Erfahrungen.

 

Viele Menschen behaupten, dass Medien behördennah und behördenfreundlich berichteten. Wie nehmen Sie das wahr?

Die Medien sagen ja immer, dass sie die Macht kontrollieren wollen – was ich sogar richtig finde. Bloss habe ich das Gefühl, dass sie nur die bürgerliche Macht kontrollieren wollen und nicht die linke. BZ und «Bund» nehme ich als unkritisch wahr gegenüber der rot-grünen Stadtregierung. Natürlich wird ab und an etwas Kritisches über die Linken geschrieben, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Doch meistens wird es nur einmal erwähnt und dann ist das Thema erledigt. Auffällig ist etwa die Passivität der Redaktion gegenüber der Kriminalität bei der Reitschule.

 

Was müsste geschehen, dass die Berichterstattung ausgewogener wird?

Der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller, fotografiert von Ruben Ung.

Ich wünsche mir von Medienschaffenden eine faktenbasierte, ideologiebefreite Berichterstattung, die konsequent eine sachliche Informationsvermittlung verfolgt. Das Kreieren und Aufbauschen künstlich erzeugter Stories schadet meines Erachtens der Qualität unserer Medienlandschaft.

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