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Erinnern heisst erzählen

Erinnern heisst erzählen

Ernst Halter: Das Alphabet der Gäste.

 

Es gibt Bücher, über die man schweigen müsste, weil es so viel zu sagen gibt. Fehlt nicht schon der passende Begriff für «Das Alphabet der Gäste», dieses wunderbare Konvolut, das Ernst Halter nun veröffentlicht hat? Legt der Doyen der Schweizer Literatur hier seine Erinnerungen vor? Seine Autobiografie? Ja und nein. Es ist, als erklärte man einer Ameise das reiche Fuss­bodenmosaik, auf dem sie geht. So ähnlich ziehen wir als Leser durch die Jahre und die Räume des berühmten Hauses «Kapf», des auf der Moräne thronenden, von Bäumen umhegten Freiämter-Hauses aus dem 17. Jahrhundert, in dem Ernst Halter mittlerweile über fünfzig Jahre – vierzig davon mit seiner Frau, der Dichterin Erika Burkart – gelebt, gearbeitet und Leute empfangen hat. Häufig und unregelmässig. Von nah und fern. Kleine Leute und grosse, aus Kunst und Kultur. Und all jene, Handwerker wie die Maurermeister Vater und Sohn Huwyler, langverstorbene Freiämter wie der Bildhauer Rico Galizia, international bekannte wie Hilde Domin, sie alle, deren Leben sich wie ein Ring schliesst, reiht Ernst Halter auf die unendliche Kette des Lebens – auch seines eigenen. So erinnert sich der Schriftsteller, und gleichwohl erinnern sich auch die Dinge im Haus, verweisen wieder, wie Burkarts blaue Gläser, auf andere Dinge und andere Menschen. Auf diese Weise verweben sich nicht nur im Subtext Bewohner und Besucher zu einem grossen Ganzen. Woher aber befällt den Achtzigjährigen dieses Gefühl der Dringlichkeit? Er zögert selber und fragt: «Um, solange ich noch hier bin, rechtzeitig von denen zu berichten, die bereits drüben sind? Wie alle Lebenden stehe ich in der Fülle der Leere.» Und ergänzt: «Weiter im Text». Was auch will der Schriftsteller tun? «Was gesagt sein muss», schreibt er, «dringt aus einer Wunde im Schweigen.» Erinnern heisst ­erzählen. So vervielfacht Ernst Halter im «Alphabet der Gäste» durch die Niederschrift sein eigenes Erleben; gleichzeitig nimmt er uns mit durch Jahre und Augen­blicke und stiftet uns dadurch als Dichter immer wieder das, was bleibt.


Ernst Halter: Das Alphabet der Gäste. Innsbruck: Limbus, 2021.

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