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Steigende Preise, brennende Reifen

Korruption, Misswirtschaft und nun auch noch eine Währungskrise: Im Libanon hat der Staat auf ganzer Linie versagt. Wie es sich in einem Land lebt, dessen Zentralbank alles verspielt hat.

Steigende Preise, brennende Reifen
Ein Mann schwingt die libanesische Flagge während eines Protestes gegen die Absetzung des Richters, der für die Untersuchung der Explosion vom 4. August 2020 zuständig gewesen wäre. Bild: Simon Haddad.

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Ein halbes Jahr nach der pinken Rauchsäule – am 4. August 2020 explodierten im Hafen der Stadt 2750 Tonnen Ammoniumnitrat – steigt nun schwarzer Rauch in den Himmel über Beirut. Der Rauch stammt von den Thawaar, den Revolutionären, die in den Strassen alte Reifen verbrennen, um ihre Wut auszudrücken. Die gewaltige Explosion im Hafen ist zwar weder vergessen noch vollständig aufgeräumt, aber die restlichen Probleme des Libanon sind wieder in den Vordergrund getreten: Korruption und Vetternwirtschaft. Hyperinflation und Wirtschaftskrise. Und Politiker, die lieber sich selbst als dem Volk dienen.

Als vor 30 Jahren der Bürgerkrieg endete, sahen die Milizen und Warlords die Chance, sich und ihre Clans durch den Wiederaufbau des Staats zu bereichern. Sie beuten das Land aus, lassen die Libanesinnen und Libanesen verarmen und die Infrastruktur zerfallen. Das Leitungswasser ist vielerorts vergiftet und die Elektrizität fällt mehrmals täglich stundenlang aus. Mittlerweile leben über 55 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze1 und haben Mühe, selbst die notwendigsten Produkte für ein einfaches Leben aufzutreiben.

Als ich 2017 das erste Mal für ein Austauschsemester in den Libanon kam, verbrannte noch niemand Reifen. Warum auch? Das war ja vor dem Kollaps: Die Wirtschaft funktionierte, man liess es sich gut gehen. Das libanesische Pfund – oder die Lira, wie es hier im Libanon genannt wird – war angebunden an den US-Dollar. Man verwendete beide Währungen simultan. Das Wechselgeld erhielt man nicht selten als Cocktail aus Lira und Dollar. In welcher Währung man zahlte, war kein Diskussionsthema, konnte man doch jederzeit 1500 Lira gegen einen Dollar eintauschen und umgekehrt. Die Leute übergaben ihre Ersparnisse vertrauensvoll den Banken, womit sie im Schnitt etwa 6 Prozent2, teilweise bis zu 14 Prozent3 an Zinsertrag verdienten. So auch mein guter Freund Raphael, der ein paar Jahre vor dem Kollaps angefangen hat, bei einer europäischen Botschaft in Beirut zu arbeiten. Sein Kontostand kurz vor der Krise: 21 990 US-Dollar. Seine Freundin Vera, Werbetexterin, machte damals monatlich 1,2 Millionen Lira, umgerechnet 800 US-Dollar – ein Einkommen im unteren Durchschnitt, kein schlechtes Einstiegssalär.

Salameh-Taktik

Verantwortlich für dieses finanzielle Freudenfest war ein Mann, der von einigen als Finanzmagier beschrieben und mehrfach als einer der besten Notenbanker ausgezeichnet wurde. Ein Mann, dessen Gesicht heute ein rotes Tuch für viele Libanesinnen und Libanesen ist und dessen Kopf auf unzähligen Graffiti im Land gefordert wird: Riad Salameh, der Gouverneur der Banque du Liban, der Libanesischen Zentralbank. In den 28 Jahren als Chef der Notenbank hat er in den späten 1990er Jahren den Peg, die Bindung der Lira an den Dollar, veranlasst, um dem Land, das 80 Prozent seiner Güter importiert, den Handel zu erleichtern. Er war es auch, der die Banken vor der globalen Krise 2008 vor internationalen Investments warnte und so den Libanon relativ unbeschadet durch diese Depression brachte. Er wurde wahrlich verehrt.

Salameh hatte lediglich ein Problem bei der Anbindung der schwachen Lira an den starken Dollar: Um überschüssige Lira vom Markt zu nehmen, bedarf es grosser Dollarreserven. Aber auch dafür hatte er eine Lösung. Über Jahre gewährte die Zentralbank hohe Zinsen auf US-Dollar-Einlagen der libanesischen Kommerzbanken. Dieser Leitzins veranlasste die Banken, die Dollars ihrer Anleger aus Investitionen im privaten Sektor abzuziehen, ihrerseits durch attraktive Zinsen weitere Dollareinlagen von libanesischen Sparern zu ergattern und alle diese Dollars der Zen­tralbank zuzuschieben. Aber anstatt das Land produktiver zu machen und dadurch den Peg zu stützen, nutzte die Zentralbank die deponierten Dollars, um die hohen Zinsen zu bedienen, die sie den Banken versprochen hatte.4 Diese legten die Zinsen gleich wieder an, und so ging das Spiel immer weiter und weiter – ein gewaltiges Ponzisystem auf Staatsebene.

Ironischerweise war es die Revolution, die Salamehs Lirablase zum Platzen brachte. Zum Ärger der Bevölkerung konnte die Regierung die Wildfeuer, die im Oktober 2019 in den Bergen loderten, nicht löschen, weil das Löschflugzeug aus Mangel an Geld nicht gewartet wurde und somit flugunfähig war. Als das Parlament einige Tage später beschloss, mit einer Steuer auf WhatsApp neues Kapital zu erschliessen, brannte die Lunte im Pulverfass. Am 17. Oktober standen zehntausende Libanesen auf der Strasse und demonstrierten gegen ihre korrupte und in ihren Augen unfähige Regierung.

Ein Mann in einem Rollstuhl mit befestigter libanesischer Flagge fährt auf der Armeniastrasse im schwer beschädigten Viertel «Mar Mikhael» vorbei, neun Tage nach der tödlichen Explosion im Beiruter Hafen vom 4. August 2020. Bild: Matthieu Karam.

Die politische Unsicherheit, die seither herrscht, befeuerte die Dollarknappheit zusätzlich und treibt die Preise auf dem Schwarzmarkt an. Die Lira fiel in ungeahnte Tiefen. Im März 2021 erreichte sie einen neuen Tiefststand: 15 000 Lira für den Dollar. Importeure, die in Dollar bezahlen müssen, passten ihre Preise an, und es passierte, was passieren musste: Wie die Lira fiel, stiegen die Preise für alle Importgüter. Heute kosten 200 Gramm des billigsten Parmesans 50 000 Lira (das entspricht 33 Vorkrisendollar) und ein Kilo Pinienkerne rund eine Million Lira (650 Vorkrisendollar).

Mangelwirtschaft in der Pizzeria

Das führt teilweise zu tragisch-komischen Situationen: Vera, Raphael und ich gehen zum Italiener um die Ecke, gönnen uns Pizza und Pasta zum Abendessen. Die Bestellung klappt erst beim dritten Versuch. Man hat sich bereits daran gewöhnt, dass Kellner in Restaurants entschuldigend die Schultern zucken und erklären, man habe diese oder jene Zutat nicht bekommen. Sorry, bess ma fi pecorino el yom5 – Sorry, heute gibt es keinen Pecorino.

«Beim normalen Fladenbrot überrascht es mich am meisten», sagt Raphael nach dem Essen. «Früher kostete die Packung 1500 Lira und es waren etwa zehn bis zwölf Stück drin. Dann haben sie zuerst den Inhalt auf sechs oder sieben reduziert, und ein paar Wochen später dann den Preis verdoppelt.» Die lokalen Zigaretten, die wir zum Gespräch rauchen, kosteten vor vier Jahren noch 1000 Lira. Sie waren so billig, dass man stets einige Packungen auf dem Tisch liegen hatte – wer will, bediene sich! Im letzten Sommer war der Preis dann bei 3000 Lira angekommen, heute bezahle ich beim kleinen Laden in meiner Strasse 6500 Lira pro Packung. Man bezahle nicht mehr für den Tabak, witzelt man auf der Strasse, sondern für das kleine Stück importiertes Silberpapier, das man beim Öffnen einer Packung abreisst.

Im gleitenden Jahresschnitt von Februar 2018 bis Februar 2019 betrug die Inflation noch 3,8 Prozent. Das Jahr darauf kletterte sie, zur allgemeinen Verunsicherung beitragend, auf 11 Prozent. Im Januar dieses Jahres erreichte sie 147 Prozent und einen Monat später 155 Prozent. Anschaulicher: Die Lebensmittelpreise haben sich innerhalb eines Jahres vervierfacht, die Kosten für Kleider und Schuhe, Haushalt und Restaurants sogar versechsfacht.6

Diese extreme Teuerung wäre noch einigermassen tragbar, könnte die schwindende Mittelklasse auf ihr Eigentum an Dollar zugreifen, um sie auf dem Schwarzmarkt einzutauschen. Aber die Banken öffneten nach den Demonstrationen mit Kapitalkontrollen, die das Abheben und Überweisen von Dollar unmöglich machen. Man kann sich lediglich in Lira auszahlen lassen, mit strikten, monatlichen Limiten, zu einem festen Kurs. Pro Dollar gibt es 3950 Lira – frisch ab der Druckerpresse.

Jugendliche blockieren die Autobahn in Khaldeh, südlich von Beirut, mit brennenden Reifen. Die Aufnahme entstand am 18. Oktober 2019, nur einen Tag nach Beginn der «Thawra», der Revolution gegen die herrschende politische Klasse. Bild: Matthieu Karam.

Will nun Raphael sein Vermögen in Sicherheit bringen, muss er es in Lira umwandeln und dann dafür auf dem Schwarzmarkt Dollar kaufen. Könnte er sein Vermögen auf einmal abheben und wechseln, würden aus seinen 22 000 Bank-Dollar in diesem Prozess im besten Fall etwas weniger als 8000 echte Cash-Dollar. Dabei hat Raphael noch Glück. Denn die Botschaft bezahlt ihm das Äquivalent seines Lohns in Dollar, zum Vorkrisenkurs, bar auf die Hand – «aus Höflichkeit», wie er sagt. Vera hingegen wird, wie die meisten Libanesen, noch immer in Lira bezahlt. Zwar verdient sie mittlerweile das Doppelte, aber durch die Inflation hat ihr Salär noch die Kaufkraft von einem Fünftel ihres Einstiegslohns: 160 Dollar pro Monat – das sind 8,6 Kilo Parmesan oder 2,4 Kilo Pinienkerne.

Souk al Masari – der Geldmarkt

Die Dollars, die auf dem Schwarzmarkt verfügbar sind, heissen Fresh Dollars und stammen von Leuten wie mir. Von Journalisten, Angestellten bei NGOs oder internationalen Firmen, libanesischen Expats – von Leuten eben, die ein Konto im Ausland haben. Wenn ich nach Beirut fliege, ist in meinem Handgepäck immer ein Umschlag mit vielen kleinen Dollarnoten, die ich später auf dem Schwarzmarkt gegen Lira eintausche. Ich schreibe jeweils meinem Schwarzmarkthändler, wie viel ich tauschen will, er schwingt sich auf seinen Scooter und ist zuverlässig eine halbe Stunde später in meiner Strasse. Für gewöhnlich zieht er mich in eine Gasse etwas abseits des Getümmels und steckt mir, wie ein Drogendealer, unauffällig das dicke Bündel aus grünen 100 000-Lira-Scheinen zu.

Diese Verstohlenheit ist der Effekt eines der wenigen Versuche, die die Regierung gegen die Inflation unternommen hat. Im April 2020 beschloss sie, mit voller Härte gegen den blühenden Schwarzmarkt vorzugehen, und verhaftete über fünfzig Geldwechsler wegen Währungsmanipulation. Das hatte einen Streik der offiziellen, lizenzierten Geldwechsler zur Folge, was den Schwarzmarkt aufblühen liess und ihn – zusammen mit dem Wechselkurs der Lira – bloss weiter in den Untergrund trieb.7

«Angst?», fragt Hady und lacht. «Ich habe keine Angst. Ich handle nur mit Leuten, die ich kenne. So kriegen sie mich nicht.» Mein Geldwechsler heisst nicht Hady, aber seiner Furchtlosigkeit zum Trotz ist ihm das Risiko, mit echtem Namen aufzutreten, zu gross. Er zeigt mir die etwa 30 WhatsApp-Gruppen, in denen die Geldwechsler untereinander Deals abschliessen, sich Kunden zuschieben und sich über die Wechselkurse austauschen. Ich frage Hady, ob der Markt frei sei, und er schaut mich entgeistert an. «Der Markt ist das Gegenteil von frei: Die Politiker mischen mit, die Banken, die Syndikate und vor allem die Mafia – alle versuchen, ihn zu steuern.» Dass im März der Wert der Lira innert weniger Stunden von 10 000 auf 15 000 pro Dollar sank, habe die Mafia zu verantworten. Über Apps und Websites, die zu ihrem Netzwerk gehören und auf denen Schwarzmarktkunden die Kurse prüfen, diktierte sie den Kurs. Als Zeichen an die Regierung, die gerade wieder ein härteres Vorgehen gegen den illegalen Markt beschlossen hatte.

Wer «die Mafia» sei, will mir Hady nicht genau sagen. Fragt man auf der Strasse informell nach, wird immer auf die Gegenseite gedeutet. Je nach Konfession der gefragten Person wird der Markt dann von den Schiiten oder den Sunniten, den Christen oder den Drusen, dieser Partei oder jener Miliz kontrolliert. Hady sagt lediglich: «Die ganz grossen Geldhändler, die Millionen von Dollars wechseln, arbeiten mit Salameh und Hariri zusammen», und meint damit, dass auch dieser Markt von denjenigen kontrolliert werde, die auch schon den ganzen Rest des Landes besitzen: die Warlords, die Milizen, einflussreiche Clans wie die Hariris, deren Spross im Herbst sein drittes Comeback als Ministerpräsident feierte.

«Helft uns nicht mit Weizen, sondern indem ihr die Kriminellen fangt.» Protestierende am Hafen von Beirut, einen Monat nach der Explosion vom 4. August 2020. Sie rufen dazu auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Bild: Simon Haddad.

«Das Geld auf den Konten ist verloren», sagt Dan Azzi, Ökonom und Professor, der gerade seine Markensonnenbrille für 6600 US-Dollar auf Social Media versteigert hat. Nicht weil er das Geld braucht, sondern um sechs Studenten bei der Entrichtung der Unigebühren zu unterstützen. Nun bezahle die Gesellschaft das Leben, das sie in den zwanzig Jahren vor der Krise gelebt habe. «Der Peg gab jedem Libanesen einen Lebensstandard, der wesentlich höher war als die Produktivität des Landes.» Das müsse man nun wieder wettmachen.

Konsequenter Kapitalismus

Für einen Millionär hat er einen eher ungewöhnlichen Vorschlag zur Lösung der Krise. Man müsse die Verluste den obersten Prozenten aufbürden, findet er, das sei nichts anderes als konsequenter Kapitalismus. Sein Plan lautet, zuallererst die Einlagen auf den Konten zu reduzieren. Wer vor der Krise mit exorbitanten Zinsen Geld verdient habe, solle dieses abgeben. Nach Azzi: «Die hätten wissen müssen, was kommt. Du bist ein verdammter Millionär und merkst nicht, dass an den 17 Prozent Zinsertrag auf deine Million etwas faul ist? Dann hast du deinen Verlust verdient. Dumm gelaufen, tut mir leid.» Als nächstes sollen die vielen Millionen Dollars, welche die herrschende Elite trotz Kapitalkontrollen ins Ausland geschafft hat, wieder zurückgeholt werden. Sollten dann US-Dollars immer noch knapp sein, könnten als letzte Konsequenz bestehende Konten in Anteile an der Bank umgewandelt werden: «Ein erzwungener Bail-in. Meine beschissene Bank kann dich nicht auszahlen? Gut, jetzt gehört sie dir.»

Azzi kommt auf die riesige soziale Ungleichheit im Libanon zu sprechen. «6000 Leute besitzen mehr als 50 Prozent des angelegten Geldes. Das sind in dieser Situation für einmal gute Nachrichten», findet er. «Denn wenn du die Verluste auf diese Typen verteilst, verschonst du die 5 Millionen Menschen, die in den ­guten Zeiten arm geblieben sind.» Von diesem Ideal sei man im Moment jedoch weit entfernt: «Salameh entwertet die Lira gerade unnötig, indem er immer mehr davon druckt. So verteilt er die Verluste auf alle.»

Bitcoin als Chance auf Freiheit

Für die breite Bevölkerung gilt es zu retten, was zu retten ist. Viele kaufen physisches Gold, in Form von Barren, manchmal auch Schmuck. Ebenfalls stark gesucht sind Kryptowährungen, allen voran Tether, dicht gefolgt von Bitcoin. «Es gibt vier Arten von Kryptokäufern im Libanon», sagt Marcel Younes, Gründer von Bitcoinduliban.org, einer umfangreichen Informationsplattform zu Bitcoin. Erstens jene, die in Bitcoin investieren und hoffen, dass sie das Kapital wieder wettmachen, welches sie in den Banken verloren haben. Zweitens die Trader und drittens jene, die sich durch Bitcoin für Arbeiten und Dienstleistungen online bezahlen lassen. «Und dann gibt es jene, die so Geld überweisen. Geld, das in Europa oder Amerika verdient wird, wird dann nicht an die Bank geschickt, sondern direkt an die Familie.» Derzeit macht es die libanesische Diaspora zumeist so wie ich und bringt Cash im Handgepäck ins Land. Raaye7 3a beirut? Fiik takhud alf dollar la khale? Du gehst nach Beirut? Kannst du für meinen Schwager 1000 Dollar mitnehmen? Eine einfach zu beziehende und zu überweisende digitale Währung schafft hier Abhilfe.

Meistens werden Kryptowährungen direkt zwischen den Leuten ausgetauscht, Peer-to-Peer, in Telegram-Chats. Um Bitcoin breit direkt einzusetzen, fehlen die Möglichkeiten, denn noch ist die Akzeptanz zu gering. «Weil das Vertrauen in Bitcoin noch immer tief ist, akzeptieren die Leute ihn noch nicht als Zahlungsmittel. Zwar gibt es in letzter Zeit viel mehr Orte, die ihn akzeptieren. Wir stehen aber immer noch in der Anfangsphase», sagt Younes. Als er mir begeistert von einem Laden in Saida erzählt, wo man nun für Bitcoins Reifen kaufen kann, gerät er für einen Moment doch ins Schwärmen.

Er rate grundsätzlich allen, die nun Dollars anhäuften, einen Teil ihres Vermögens in Bitcoin zu investieren. Es geht ihm dabei weniger um die Spekulation auf Gewinn, sondern um Sicherheit: Regierungen können keinen Einfluss nehmen auf die dezentralisierte Währung und können diese auch nicht in eine Krise stürzen. «Eine Regierung sieht das Volk immer als eine Geldquelle, als Einkommen», sagt Younes. «Wenn ein libanesischer Bürger ein Geldsystem nutzt, das die Regierung nicht kontrollieren kann, dann nimmt er ihr die Blutversorgung.» Durch den Bitcoin müsse sich die Regierung benehmen, «und wenn sie sich nicht benehmen, dann verlassen wir sie halt und dann sterben sie aus». Der Bitcoin gebe den Leuten die Souveränität, die sie verdienten.

Younes findet, es sei nicht der beste Weg, auf die Strasse zu gehen und zu versuchen, die korrupte Regierung zu stürzen, oder zu versuchen, die Mächtigen zu ändern. «Bitcoin ist für die Libanesinnen und Libanesen die Chance auf Freiheit», sagt er.

Kollektive Erschöpfung

Doch es sind längst nicht nur die Bitcoiner, die das Vertrauen in den Staat verloren haben. Die Taxifahrer erzählen heute nicht mehr über die schönsten Orte in ihren Heimatdörfern oder von den Reisen, die sie früher unternommen hatten. Die schönen Geschichten sind gewichen, es dominieren Hasstiraden über Politiker und Schilderungen von Misswirtschaft und Korruption. Mashekel kbeereh – grosse Probleme, seufzen sie. Bess shou fina na3mel – aber was können wir schon tun? Es klingt, als hätte man bereits alles gegeben, als erliege das ganze Land einer kollektiven Erschöpfung. Sogar die Revolution, die zu Beginn fast alle auf die Strasse brachte, wirkt wie gelähmt.

Wer kann, verlässt das Land. Und das können vor allem die Jungen und die Gutgebildeten, die Ärztinnen, die Forscher, die Ingenieurinnen. Auch Raphael und Vera wollen weg. Kanada, sagen sie, oder vielleicht Deutschland. Oder sonst irgendeinen Ort, an dem sie mit ihren libanesischen Pässen Visa bekommen. Hauptsache weg, weg von hier. «Alter, hier hast du einfach keine Möglichkeiten mehr. Wie willst du dir in diesem Shithole Country eine Zukunft aufbauen?», sagt Raphael und zitiert Trump. Hinter dem Galgenhumor versteckt er seine berechtigte Enttäuschung. Denn was sich hier abspielt, ist wahrscheinlich die grösste Tragödie des Libanon: Seine Zukunft verlässt ihn.

  1. http://www.unescwa.org/news/Lebanon-poverty-2020

  2. http://www.brite.blominvestbank.com/series/Average-Interest-Rate-on-USD-­Deposits-3263/

  3. http://www.financialpost.com/pmn/business-pmn/banks-draw-fresh-dollars-to-­lebanon-with-high-interest-deposits

  4. Gaspard Toufic. In: «Lebanon’s Financial Collapse: A Post-Mortem», Table 2, Banque du Liban: Sources and Uses of $ Funds, 2009–2019, von Oktober 2020; http://www.maisondufutur.org/en/Publications/Policy-Papers/Lebanon-Financial-­Collapse-A-Post-mortem

  5. Diese Zitate sind «Chat-Arabisch». Gesprochen wird in Beirut der levantinische Dialekt, der aber eigentlich nicht geschrieben wird. Geschrieben wird offiziell nur das Hocharabisch. Um den Dialekt in Mails und Chats trotzdem zu verwenden, wurde dieses Chat-Arabisch erfunden. Weil es im Arabischen einige Kehllaute gibt, die nicht mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden können, benutzt man dafür die Zahlen 3, 7, 2 und (manchmal) 5.

  6. http://www.today.lorientlejour.com/article/1258005/food-prices-more-than-­quadruple-year-on-year-in-february-after-the-liras-value-plunges.html

  7. http://www.aljazeera.com/economy/2020/5/29/like-a-drug-deal-inside-­lebanons-black-market-currency-trade

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