Die unmögliche Zeugenaussage
«Nach Auschwitz schreiben». Dass dies un-möglich ist und dennoch gelingen kann, fasziniert den Autor des folgenden Beitrags an den Lebenserinnerungen Ruth Klügers.
Mit «weiter leben. Eine Jugend» vermag
Ruth Klüger die Shoa zu bezeugen und über sie zu berichten, obwohl eigentlich nur ein Unbeteiligter zu berichten vermag, und nur ein Opfer, ein Toter also, im letzten authentisch Zeugnis ablegen kann.
Ruth Klüger wurde 1931 in Wien in einer jüdischen Familie geboren. Als Kleinkind erlebte sie die Ausstossung aus der Gesellschaft. So etwa erkannte sie vage, dass jede neue, minuziöse Anordnung – wie die, dass sie in der Stadtbahn nicht sitzen durfte – den Tod vorbereitete. Der erste Satz ihres Buchs «weiter leben. Eine Jugend» (1992) lautet: «Der Tod, nicht Sex war das Geheimnis, worüber die Erwachsenen tuschelten, wovon man gern mehr gehört hätte.» 1942 wurde Ruth Klüger mit ihrer Mutter deportiert. Zunächst lebte sie in Theresienstadt. (Wer gelesen hat, wie sie ihre Zeit an diesem zehn- oder zwanzigmal überfüllten Ort verbracht hat, stets umgeben von Hunger, Krankheit und Tod, wird nie mehr sagen können, dass Theresienstadt «erträglicher» war als die anderen Lager, obwohl diese Behauptung richtig ist – allerdings nur im Sinne des unausgesprochenen Satzes, dass die Juden dort nicht vergast, massakriert oder zur Zwangsarbeit gezwungen worden sind.) Nach etwas mehr als anderthalb Jahren deportierte man sie, ebenso wie die meisten anderen aus Theresienstadt, nach Birkenau. Der poetische Ortsname bezeichnet das Lager Auschwitz III, wo man diejenigen versammelte, die zum schnellen Tod bestimmt waren. Es folgte eine glücklich ausfallende «Selektion», die sich den rettenden Worten aus dem Mund einer Deportierten-Angestellten verdankte: «Die hat Muskeln in den Beinen, die kann arbeiten». Das Mädchen wurde in ein Nebenlager weiterverschoben, wo sie Zwangsarbeit leisten musste oder besser: durfte (sie unterstreicht, dass es in den Frauenlagern, unter Frauen-Wächterinnen, spürbar weniger grausam zuging). Als die Welt in Auflösung war, gelang ihr und ihrer Mutter, mit der sie immer zusammengeblieben war, und einer quasi adoptierten Schwester die Flucht aus dem Lager, die alle drei nach einigen abenteuerlichen Episoden überlebten. Zu ihrem Halbbruder und ihrem Vater hatte sie bereits 1939 jeden Kontakt verloren und die beiden dann nie wieder gefunden. 1948 wanderte Ruth Klüger nach Amerika aus, wo sie nach einigen Anfangsschwierigkeiten studierte und später Professorin für Germanistik an den Universitäten von Irvine und Princeton wurde. Sie publizierte unter anderem über die jüdischen Figuren bei Lessing und Thomas Mann, schrieb feministisch ausgerichtete Aufsätze, als dies noch eine Ausnahme war, und war eine Weile Redaktorin einer bedeutenden germanistischen Zeitschrift in den Vereinigten Staaten.
Über ihr eigenes Leben schrieb Ruth Klüger lange Zeit nicht. Das änderte sich, als sie am 4. November 1988 einen Unfall erlitt, dessen Folgen sie beinahe erlag. Sie war zu jener Zeit im Rahmen eines amerikanisch-deutschen Austauschprogramms für einige Monate in Göttingen. Als sie auf dem Weg ins Theater war, wurde sie von einem Radfahrer mit ungebremster Geschwindigkeit angefahren. Die beinahe Sechzigjährige überlebte mit Schädelbruch, Gehirnblutung, Lähmung und inneren Brüchen und erholte sich erst wieder nach Monaten. Ein Arzt bemerkte, «er hätte nie jemand gesehen, der sich so ans Leben geklammert hätte». Auf diese Weise bestätigte sich einer der Leitsätze ihres Schicksals: Im Lager überlebten nur die, die sich aussergewöhnlich stark ans Leben klammerten und aussergewöhnliches Glück hatten.
Ruth Klüger begann einen Bericht über ihr Leben zu schreiben, weil sie, wie sie sagt, «auf den Kopf gefallen war». In «weiter leben. Eine Jugend» erzählt sie, wie die Verfolgung zu der unabänderlichen Grunderfahrung ihres Schicksals wurde. Die Frau, die diesen Text schreibt, will weder gefällig noch gar bestechend sein – sie ist authentisch und unterhintergehbar. Gegen die Worte der Beruhigung und der Versöhnung führt sie die Worte von Elektra, Hofmannsthals besessener Heldin an: «Ich bin kein Vieh, ich kann nicht vergessen». Als ein schöngeistiger Doktorand in Göttingen darüber staunt, mit welchem Hass ein Überlebender über die Araber spricht, erwidert sie, dass «Auschwitz keine Lehranstalt für irgend etwas und schon gar nicht für Humanität und Toleranz» gewesen sei; und sie kann selbst denen nicht verzeihen, die sie ungewollt verwundet haben, wie ein unempfindsamer, autoritärer Psychoanalytiker und vor allem ihre Mutter. Ruth Klüger erzählt die Ereignisse überwiegend in chronologischer Reihenfolge. Auf einer ersten Ebene stellt das Buch eine epische Selbstbiographie dar, in der alle Episoden schmerzlich und furchtbar sind, die sich aber als Text, als Geschichte flüssig und gut lesen lässt, angefangen mit der Familiengeschichte, dem Wiener Alltag, über die anderthalb Jahre in Theresienstadt, wo sie sich endlich unter Menschen befand, von denen keiner ihr Feind war («Ich hab’ Theresienstadt irgendwie geliebt», aber auch: «Ich hab Theresienstadt gehasst, ein Sumpf, eine Jauche, wo man die Arme nicht ausstrecken konnte, ohne auf andere Menschen zu stossen»), bis zu den pikaresken Wendungen, die die Flüchtlinge zur Befreiung führten; und wer sich für das amerikanische Leben interessiert, wird einiges über die beidseitigen Anpassungsschwierigkeiten lesen.
Sinnträchtig, aber nicht rationalisierend
Indessen will Ruth Klüger gar nicht die Naivität des Mädchens wieder beleben, das sie einmal war, sondern sie erzählt und reflektiert die Geschehnisse mit dem derben Wissen und Leiden einer Frau, die das Leben mit äusserster Anstrengung und äusserstem Glück für sich gerettet und letzten Endes sehr erfolgreich gelebt hat und die jetzt als Folge eines absurden Fahrradunfalls darüber schreibt. Sie will damit keine metaphysischen Gefühle oder Gedanken erwecken, sondern sie ist bestrebt, in «sinnträchtigen Sätzen» festzusetzen, was ihr widerfahren ist (expressis verbis gegen Celans Lyrik und gegen Adornos Diktum). Sie erzählt und beschreibt – aber jeder Satz geht aus dem Gestus der Erklärung hervor. Man muss diese Charakterisierung aber auch in die anderen Richtung begrenzen: sie beschreibt alles, was ihr widerfahren ist, aus starker Distanz, in einer klaren Prosa, die auf die Tradition der Aufklärung zurückweist – aber sie rationalisiert nicht die Geschehnisse, und zwar deshalb nicht, weil sie nicht im geringsten daran glaubt, dass sich die Geschichte und ihr eigenes Schicksal in dieser Geschichte rational erklären liessen. Immerhin waren die Nazis Barbaren mit einem unbegrenzten Vertrauen in die Wissenschaft; und aus der Eigenart der deutschen Entwicklung zwischen Luther und Bismarck, mit Hegel, E.T.A. Hoffmann und Nietzsche, lässt sich nicht ableiten, warum ein dreizehnjähriges Mädchen Schienen schleppen musste und nicht auf der Schulbank sass. Dies heisst aber, dass alles, was sie beschreibt und erklärt, in keiner Weise rational ist. Es war eine wahnhafte Welt der Verfolgung, in der einige in der Tat den Verstand verloren haben (zum Beispiel die alte Frau, die sich im Viehwaggon auf die Knie der Mutter setzte und urinierte) und wo vielleicht am ehesten jene widerstehen konnten, die von sich aus bereits ein wenig verstört waren. Die Literaten werden verstehen, dass Ruth Klüger mit Vorliebe Kleists Werk behandelt.
Der Fahrradunfall war für Ruth Klüger eine phantasmagorische Bestätigung ihres Schicksals. Ich führe die Zeilen an, in denen sie den Unfall und die eine Sekunde heraufbeschwört, als sie nach dem Unfall ihr Bewusstsein noch nicht verloren hatte – abgesehen von den Gedichten, sind diese Zeilen die einzigen, die lyrisch wirken: «im letzten Bruchteil einer Sekunde springe ich automatisch nach links, er auch nach links, in dieselbe Richtung, ich meine, er verfolgt mich, will mich niederfahren, helle Verzweiflung, Licht im Dunkel, seine Lampe, Metall, wie Scheinwerfer über Stacheldraht, ich will mich wehren, ihn zurückschieben, beide Arme ausgestreckt, der Anprall, Deutschland, ein Augenblick wie ein Handgemenge, den Kampf verliere ich, Metall, nochmals Deutschland, was mach’ ich denn hier, wozu bin ich zurückgekommen, war ich je fort?»
«Denn die Folter verlässt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht», liest man auf den ersten Seiten des Buchs; und anderswo erklärt Ruth Klüger mit einer erstaunlichen Emphase (erstaunlich erst recht von ihr, die sehr wenig zu metaphysischen Gedankengängen neigt), wie sie als Kleinkind als Reaktion auf die Verfolgungen durchgesetzt hat, dass man sie «Ruth» nennt (vorher wurde sie bei ihrem Vornamen «Susanne» genannt), und weiter, dass sie jetzt, in Kenntnis der Bibel, noch entschlossener den Namen trägt; denn «Das Buch Ruth» spricht nicht von Sex und Macht (wie zum Beispiel «Das Buch Esther» – das sollen die Männer auslegen, wie sie wollen), sondern darüber, dass eine Frau nach dem Gesetz ihrer «frei gewählten Treue» handelt und ihrer Schwiegermutter folgt. Man erkennt in ihrem eigenen Ruth-Schicksal die «frei gewählte Treue», mit der sie bis heute ihre innige Verbindung mit der zufällig getroffenen, adoptierten Schwester aus dem Lager bewahrt, die Krankenschwester geworden ist; denn diese «Beziehung» beruht nicht «auf Interessengemeinschaft», sondern auf «etwas Absolutem. Das Absolute: 1944, 1945.» Eine ähnliche Behauptung kommt in einem anderen Zusammenhang wieder: als die Lagerangestellte im wahrsten Sinne des Wortes ein tödliches Risiko auf sich genommen und ihr in der «Selektion» dazu geraten hat, sich als älter auszugeben, hat sie bewiesen, dass in Auschwitz und gerade in Auschwitz die «freie», die «reine Tat» möglich war. Einer Frau, der solche Erfahrungen und Erkenntnisse zum Schicksal wurden, kann man nicht die Frage stellen, ob sie darin recht hat, den Radfahrer, der sie mehr als vierzig Jahre später aus purer Idiotie angefahren hat, mit ihren ehemaligen und ewiglebendigen Folterern zu identifizieren.
Es ist nicht nur und vielleicht nicht an erster Stelle die Achtung vor dem Leid, die diese Frage zum Schweigen bringt – sondern die Aussage des ganzen Buches, das heisst der alten und der neuen Geschichte zusammen. Der Weltzustand, in dem «Treue», «reine Tat», «Absolutes» die Lagerwelt der Verfolgung, der Folter und des Massenmordes bedeuteten, der Weltzustand, in dem (gar nicht metaphorisch gemeint) die Luft nach Tod stank, «verlässt» sie niemals. Die Wahrheit des Buchs ist eben deshalb authentisch und unabweisbar, weil sie es aus der Distanz von 45, 50 Jahren, auf der Höhe eines erfolgreichen Lebens, in einem sonnenbeschienenen kalifornischen Haus und ohne den geringsten weinerlichen Ton (aber hat sie nicht, als sie in Birkenau ankam, «instinktiv und sofort» erkannt, «dass man hier nicht weinte, nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenkte»), mit der Schärfe, man möchte beinahe sagen, mit dem Licht des erlangten Wissens, verfasst. «Mir war in den wenigen Jahren, die ich als bewusster Mensch existierte, die Lebensberechtigung Stück für Stück aberkannt worden, so dass Birkenau für mich einer gewissen Logik nicht entbehrte.» In solchen Sätzen wird nicht – und gar nicht nur ein persönliches Auschwitz-Schicksal – erzählt, sondern das Auschwitz-Schicksal der Welt beschrieben. Gut gesinnte Verwandte, aber auch ein Geschichtsprofessor der Universität Berkeley, mit dem sie eine Weile verheiratet war, wollten sie davon überzeugen, dass sie ihre Erinnerungen vergessen sollte. Sie drückt es so aus: «Wir waren wie Krebskranke, die die Gesunden daran erinnern, dass auch sie sterblich sind», und sie hat aufgebracht dagegen protestiert, dass man sie ihrer Erinnerungen, ihres Wissen, ihres «Lebens» beraube. Denn die Alternative wäre gewesen, wie ihre Mutter zu handeln, die sich konsequent als sechs Jahre jünger ausgab, als sie tatsächlich war – sie wollte aus ihrem Leben die Periode der Verfolgung wegwischen.
Absurde Assoziationen
Während der Wochen der Flucht steigt Ruth Klüger in einen Zug, der voll ist von Kriegsflüchtlingen. Das Mädchen streckt sich auf der Holzbank aus, worauf eine Frau ungebeten eine Decke über sie breitet. Sie ist natürlich dankbar, kann aber lange die Frage nicht loswerden: «Aber meint sie mich?» – einfach ein Kind, das da liegt, oder ein Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft? Ruth Klüger schliesst die Episode mit einem Zitat aus Hölderlins «Hyperion»: «So kam ich unter die Deutschen.» Der viel zitierte Satz mag nie eine ähnliche Bedeutung erhalten haben. Angekommen unter den Deutschen, in einem bayerischen Gymnasium, war sie in einer Jugendliebe mit einem Studenten verbunden, und sie hat die Freundschaft mit ihm über die Kontinente und die Jahrzehnte hinweg bewahrt. Diesen Mann hat sie gefragt, als er einmal den Judenhass aus dem archaischen Fremdenhass ableiten wollte: «Bin ich euch so unähnlich, dass nur eine hochgradige Bewusstmachung euch davon abhält, mich zu verfolgen?» In den ersten Monaten in den USA hat sie sich einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen, die sie aber schnell aus einem «abgründigen Widerwillen» heraus wieder abbrach. «Der Lazi Fessler, das war (aber das fällt mir erst jetzt ein), als hätten die Nazis eine geistige Autorität erlangt, die sie in Deutschland für mich nie gehabt hatten, nämlich dass da einer war, der mich nicht gelten liess (und dahinter steht doch der Tod, ein Todesurteil, oder nicht?), und der doch wie mein Vater geklungen hat.»
Vorsichtig möchte ich darauf hinweisen, dass, in einer vagen und dennoch wiederholt spürbaren Art, auch der Bezug zu ihrer Mutter Ruth Klügers Kampf gegen die furchtbare Welt ähnelt. Die Mutter war keineswegs lieblos, aber manipulativ und possessiv und hatte sich einige Züge jener Welt angeeignet, die sich dann mit ihrer ganzen barbarischen Macht gegen sie gewendet hat. Dann der Unfall, in dem Ruth Klüger (das machohafte) Deutschland wieder erkennt, das sie immer töten wollte. Kann man sich überhaupt Assoziationen vorstellen, die ungerechter und absurder daherkommen – und dennoch äusserst gerecht und äusserst genau sind?
In einem langen Absatz wirft Ruth Klüger den politischen Häftlingen in Buchenwald mit unverhohlenem Zorn vor, dass sie die Juden im Lager verachtet haben und dass sie ihre Privilegien nicht dazu genutzt haben, diesen zu helfen. Es ist schon lange bekannt, dass in Buchenwald die kommunistischen Häftlinge in den letzten Jahren in eine privilegierte Lage gekommen waren. Jorge Semprun schreibt 1980 in seinem Roman «Was für ein schöner Sonntag!», dass die SS die Deportierten-Administration den gewöhnlichen Verbrechern weggenommen und den Kommunisten anvertraut hatte. Man erfährt auch, wozu diese ihre Möglichkeiten genutzt haben: sie manipulierten die Todeslisten und ersetzten Deportierte, die noch Hoffnung auf Überleben hatten, durch solche, die offensichtlich keine mehr hatten. (In seinem letzten Roman «Der Tote mit meinem Namen» erzählt er, dass er selbst auch so überleben konnte – er hätte allerdings die Identität eines Toten erhalten.) Es drängt sich zunächst die Frage auf, ob die Kommunisten nicht manchmal, im Namen des Heils der zukünftigen Welt, einen Unbekannten, der sich gewiss in einem desolaten Zustand befunden haben mochte, geopfert haben, um das Leben eines besonders werten Genossen zu retten. (Wenn dem so gewesen sein sollte, dann hat sich die Geschichte mit einer grausamen Grimasse gerächt. Sechs Jahre später, in den Prager Schauprozessen, als bekanntlich die höchsten Leiter des neuen, kommunistischen Landes zu schändlichen Verrätern gestempelt wurden, sind einige unter ihnen unter der Anklage auf Beihilfe an den SS-Mordtaten zum Tode verurteilt worden.) Selbst wenn man aber diesen Punkt vernachlässigt, muss man mit Entsetzen die entscheidendere Frage stellen: Mit welchem Recht haben sie über Leben und Tod bestimmt? Darauf gibt es offensichtlich keine Antwort, zumindest nicht nach den Kriterien und Massstäben einer Welt ausserhalb der Konzentrationslager.
«Menschliches Sprechen ist für anderes erfunden und gemeint.», liest man auf den Seiten, wo Ruth Klüger ihre Erfahrungen in Auschwitz und während der Flucht resümiert. Man mag hier am schmerzlichsten an die Episode denken, die sie rund 50 Seiten früher aufgezeichnet hat. In Birkenau hatte sie ein Mädchen kennen gelernt, dessen Vater als Deportierter einer der Todes-Hilfsarbeiter war – beide wurden später getötet. Das Mädchen hatte einmal zufällig gesehen (was den Deportierten eigentlich nicht erlaubt war), wie man die Leichen von der Fläche eines Lastwagens in ein Grab schüttete, und sie wusste, dass vielleicht ihr Vater die Leichen aufgestapelt hatte. In welcher Sprache hätte sie darüber sprechen können und in welcher Sprache hätte man sie ansprechen können, wenn sie überlebt hätte? Und in welcher Sprache kann derjenige sprechen, der diese Geschichte erfahren hat? Bis heute schmerzt es Ruth Klüger, dass nach dem Krieg, als man in Gesellschaften oft über die Greuel der Bombardierungen sprach (es kam vor, dass einmal die Hälfte einer Klasse vom Erdboden verschwand, und der es dann erzählte nur überlebte, weil der Luftstoss ihn zu einer Tür hingeworfen hatte), sie selbst nie etwas gesagt hat, weil sie wusste, dass nach Erfahrungen wie den ihren keiner ein Wort zu sagen mehr fähig sei: «Über eure Kriegserlebnisse dürft und könnt ihr sprechen, ich über meine nicht. Meine Kindheit fällt in das schwarze Loch dieser Diskrepanz.» Wir wissen, dass es grosse Überlebende gab, Améry, Borowski, Celan, Levi, die eine Sprache zu finden schienen – und doch am Ende den Selbstmord gewählt haben; und aus dem Gedicht des ungarischen Dichters János Pilinszky kennen wir auch die äusserste Formel, aus einer anderen Perspektive heraus verfasst: «Deine Worte, die menschliche Sprache / spreche ich nicht» (Apokryph).
Primo Levi zitiert in seinen Erinnerungen «Die Untergegangenen und die Geretteten» (1986, dt. 1990) einige Sätze, die ein SS-Offizier zu ihm gesagt hat: «Wie auch immer der Krieg ausgeht, gegen sie haben wir ihn schon gewonnen: kein einziger unter ihnen wird bleiben, damit er Zeugnis ablegt, und selbst wenn einige doch am Leben bleiben, die Welt wird ihnen nicht glauben […] indem wir sie ausrotten, rotten wir auch die Beweise aus […] Wir sind’s, die die Geschichte der Lager diktieren.» Man weiss, dass es so doch nicht gekommen ist, so wenig auch gefehlt haben mag. Ruth Klügers Buch «legt» jedoch davon «Zeugnis ab», dass der SS-Offizier auf andere Weise doch Recht behalten hat; denn der Nationalsozialismus hat bis zum heutigen Tag seine Ideologie und die Realität der Lager dem menschlichen Leben und der menschlichen Sprache aufgezwungen. In diesem Sinne verkündet das Buch eine unheilvolle Wahrheit.
Auschwitz, Geschehen ohne Zeugen
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat in seinem Buch «Quel che resta di Auschwitz» (1998) Levis Zitat übernommen, um zu erörtern, wie das Dasein, das heisst die Sprache, nach Auschwitz unmöglich geworden ist. Er erinnert daran, dass es im Lateinischen zwei Wörter für «Zeuge» gibt, «testis», das den Dritten (terstis) meinte, der sich zwischen den beiden Handelnden eines Geschehnisses befindet, und «superstes», der einem Geschehnis folgt, über dem Geschehnis steht und danach darüber berichten kann. Nach dem Willen derer, die die Shoah geplant und vollstreckt haben, durfte kein Zeuge bleiben – und es ist, in diesem tradierten, doppelten Sinne des Wortes, kein Zeuge geblieben; Auschwitz, die Shoah ist das Geschehnis ohne Zeuge. Es blieben wohl einige Überlebende (unter denen bekanntlich manche deswegen Gewissenbisse hatten – ein weiterer, besonders perverser Beweis, wie weit der Nazismus auch nach seiner Niederlage das menschliche Schicksal bestimmt hat), aber ihre Worte sind irreführend, weil in ihnen ein Mensch Zeugnis von denen ablegt, die zu Nicht-Menschen herabgesetzt worden sind. Ein authentisches Zeugnis hätten jene ablegen können, die in der Auschwitz-Sprache, aus welchem Grund auch immer, die «Muselmanen» hiessen. Jedes Lager kannte sie, in jedem Lager hatten sie eine Bezeichnung: die Halb-Lebendigen, Halb-Toten, die bereits jeden körperlichen und geistigen Bezug zur Welt verloren hatten, die nichts mehr assen, nichts mehr tranken und noch für eine kurze Weile verstört vor sich hintaumelten. Sie haben erlebt und verkörpert, wozu die Menschen in den Lagern herabgesetzt werden sollten. Der, der nicht bis zu diesem Zustand kam, konnte nie ein wahres Zeugnis davon ablegen, die aber, die ihn erreichten, konnten schon damals nicht mehr vernünftig sprechen, und sie sind alle, ohne Ausnahme, gestorben, sie brachen entweder zusammen oder sie wurden getötet.
Auch Ruth Klüger verweist auf diesen Konflikt oder diese Aporie. An einer Stelle erklärt sie, dass sie mit der Zuversicht der Adoleszenten immer darauf gehofft hätte, dass sie überleben und «Zeuge» sein würde, während sie an einer anderen Stelle das unlösbare Paradox dieses Auftrags auslegt. Jede Lager-Erinnerung ist von vornherein falsch, wegen der einfachen Tatsache, dass ihr Autor am Leben ist und seine Geschichte deshalb in eine «escape-story» hinüberführt. (Ruth Klüger verwendet den englischen Ausdruck in dem Text, wohl in dem doppelten Sinne von «Flucht» und «Rettung»). Ich glaube, dass man gerade hier zu begreifen vermag, warum dieses Buch so aussergewöhnlich ist. Ruth Klüger selbst hat sich in einem Gespräch über den Erfolg erstaunt gezeigt, zumal alles heute bekannt sei, was in «weiter leben. Eine Jugend» erzählt wird. Dies ist richtig; ich wüsste aber kein anderes Buch zu nennen, das ein Geschehnis, eine story erzählt und dennoch mit jedem Wort ebenso die Notwendigkeit wie auch die Unmöglichkeit der Aussage bezeugt – eine dann nicht verwendete Titelversion des Buches lautete denn auch: «Ablehnung der Zeugenaussage».
Ruth Klüger erzählt nicht die Tatsachen des Horrors (so furchtbar die einzelnen Episoden auch seien), sie giesst nicht in einen Roman, was sie erlebt hat (wie Borowski, Semprún oder Kertész), und sie erörtert auch nicht im Rahmen eines historisch oder philosophisch ausgerichteten Traktats (wie Levi ein wenig und gänzlich Agamben, der allerdings schon der nächsten Generation angehört). Ihr Buch ist ganz anders. Eine Frau erzählt, wie man auf ihren Arm, und somit auf die ganze Welt, die Chiffre-Zeichen des Muselmanen-Schicksals tätowiert hat: A – 3537.
Peter Por, geboren 1940 in Clermont-Ferrand (Frankreich), lebte von 1947 bis 1979 in Ungarn. Er studierte Literaturwissenschaft in Budapest und habilitierte sich 1983 an der Universität Siegen. Seit 1983 lebt er in Frankreich und ist Mitarbeiter des Centre national de la recherche scientifique. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen «Die orphische Figur: zur Poetik von Rilkes ‹Neuen Gedichten› » (1997), «Voies hyperboliques. Figures de la création poétique des Lumières à la modernité» (2003) sowie «Zu den Engeln (lernend) übergehen. Der Wandel in Rilkes Poetik zwischen den Neuen Gedichten und den Spätzyklen» (2005).