Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
«Der Föderalismus ist die  einzige Chance auf ein  friedliches Nebeneinander»
Michael Wolffsohn, zvg.

«Der Föderalismus ist die
einzige Chance auf ein
friedliches Nebeneinander»

Dezentralisierung entschärfe Konflikte, sagt der Historiker Michael Wolffsohn. Auch der Ukrainekrieg könnte so beendet werden.

Herr Wolffsohn, in Ihrem Buch «Zum Weltfrieden» schrieben Sie 2015: «Morgen schluckt Putin wahrscheinlich die Ostukraine.» Was machte Sie so sicher?

Die Fakten sprachen schon damals eine klare Sprache. Aus Sicht von Putin lag seine Chance in der Polarisierung der Ukraine. Ich wende eine Methode an, die ich «politisches Röntgen» nenne. Dabei schaue ich mir Staaten nicht als Einheit an, sondern versuche sie demografisch zu durchschauen. Nach der Anfertigung der «Röntgenaufnahmen» frage ich mich, ob die gefundenen Spaltungen – beispielsweise ethnischer oder sprachlicher Natur – relevant sind oder nicht. Wenn es starke Nachbarn gibt, zu denen Verflechtungen bestehen, ist es höchstwahrscheinlich, dass Konfliktsituationen daraus resultieren können.

 

Wie verstehen wir den Ukrainekrieg am besten? Ist es ein ethnischer Konflikt – oder ein geopolitischer, der lokal ausgetragen wird?

Die strukturelle Ursache des Ukrainekonflikts ist die Kunstkonstruktion des ukrainischen Staates.

 

Was heisst das?

Lassen Sie mich etwas ausholen: Zum Völkerrecht gehören axiomatisch die Unantastbarkeit der territorialen Integrität sowie die Souveränität der bestehenden Staaten. In fast allen postkolonialen Staaten gibt es jedoch strukturelle Spaltungen. Will man diese überwinden, binnenstaatlich und zwischenstaatlich, ist die Föderalisierung, sei sie territorial oder personenbezogen, die einzige Lösung. Im vorliegenden Konflikt manifestiert sich aber auch ein geopolitisches Problem. Putin versucht das bestehende Staatensystem zu verändern; er will die Wiederherstellung der alten Sowjetunion, und die ist schon viel weiter fortgeschritten als bislang erkannt. Man denke an Kasachstan, das im Grunde ein Satellitenstaat Russlands ist. Es versucht sich zwar zu emanzipieren, aber bisher hält Putin den jetzigen Präsidenten Tokajew an der Macht. Armenien und Georgien sind weitere Länder, bei denen Russland seine Finger im Spiel hat. Militärisch angegriffen hat es jedoch nur die ­Ukraine. Bei den baltischen Staaten wie auch bei Polen wird dies nicht gelingen, weil sie Nato-Mitglieder sind. Aber wo immer möglich wird es Putin versuchen.

 

Wann und wie könnte dieser Krieg enden?

Das kann ich nicht sagen, das wäre Kaffeesatzleserei. Aber er kann enden durch eine Föderalisierung der Ukraine, und zwar binnenstaatlich und zwischenstaatlich. Die Lösung ist eine Mischung aus Bundesstaat und Staatenbund: Jene Gebiete, welche die Ukraine kaum wiedergewinnen kann, zum Beispiel die Krim, könnten zu Bundesstaaten mit weitgehender Selbstbestimmung werden. Eventuell wären auch konföderative Verbindungen zu Russland möglich. Denkbar ist es auch, dass die Krim, Donezk oder Luhansk selbständige Staaten werden mit konföderativen Verbindungen zur Ukraine.

 

«Jene Gebiete, welche die Ukraine kaum wiedergewinnen kann, zum

Beispiel die Krim, könnten zu Bundesstaaten mit weitgehender

Selbstbestimmung werden.»

 

Russland verlangt die Neutralität der Ukraine. Ist das eine sinnvolle Forderung?

Es existieren verschiedene Formen der Neutralität. Das Gegenstück zur schweizerischen Neutralität war jene Finnlands bis zum Ende der Sowjetunion. Finnland durfte nichts machen, was Moskau nicht gepasst hätte. Die Schweiz hingegen kann ihre Souveränität ausleben. Es wäre denkbar, dass die Ukraine Mitglied der EU wird, ohne aber der Nato beizutreten. Die Ukraine könnte eine Garantie für ihre Souveränität und Integrität bekommen.

 

Würden die Kriegsparteien, insbesondere Putin, eine föderale Lösung für die Ukraine akzeptieren?

Das ist wieder Spekulation. Ich bin ein Empiriker. Obwohl er mir nicht gefällt, war Putin bis zum Ukrainekrieg ein genialer Stratege. Ich vermute zum Beispiel, dass seine Interventionen in Syrien im September 2015 das Faustpfand sein sollten für die Anerkennung der faktischen Annexion der Krim, von Luhansk und Donezk. Das wäre rational gewesen, und ich glaube, der Westen wäre darauf eingegangen. Der Fehler von Putin war nun, dass er die Ukraine angriff.

 

Warum glauben Sie, dass Föderalismus geeignet ist, um ethnische, religiöse oder kulturelle Konflikte zu lösen?

Anthropologisch und historisch gesehen ist individuelle und kollektive Selbstbestimmung eine Urkraft. Man kann sie sehr lange unterdrücken, aber nicht dauerhaft. Der Föderalismus ist die einzige Chance, ein friedliches Neben­einander zu generieren.

 

Wenn man deutsche Medien liest, hört man genau das Gegenteil heraus. Ob bei Kriegen oder Klimawandel: Angestrebt ­werden meistens globale Lösungen. Viele Journalisten scheinen sich eine Art Weltregierung unter der Führung der UNO zu wünschen. Das ist das exakte Gegenteil von Föderalismus.

Nur weil die Medien eine kollektive Meinung verbreiten, heisst dies nicht, dass sie richtig sein muss. Eine Klimapolitik ist notwendig, aber dass zum Beispiel mit Hilfe des 9-Euro-Tickets das Klima gerettet werden kann, ist unrealistisch. In den Medien und in der Gesellschaft gibt es den sogenannten Papageieneffekt: Jeder redet dem anderen nach. Dies führt zu einer Papageiengesellschaft. Es ist das Wesen eines Kollektivs.

 

Wenn Föderalismus offensichtlich der Schlüssel zum Frieden ist, wieso wird er dann nicht mehr ­angewendet?

Aus Denkfaulheit. Mit einem Überbau lässt sich eine Gesellschaft viel leichter steuern. Doch wenn ich Konflikte reduzieren möchte, muss ich mir überlegen, ob die Mechanismen, die ich zur Verfügung habe, richtig oder falsch sind. Das Baskenland ist ein gutes Beispiel, wie ein Konflikt durch eine weitgehende Föderalisierung entschärft wurde. Oder die Schweiz, die als Vorreiter des Föderalismus gilt und eine organisch gewachsene, vielfältige Bevölkerung hat.

 

Sie prophezeien, dass künstlich gezogene Staatsgrenzen, die nicht mit der Demografie übereinstimmen, zu weiteren und grösseren Konflikten führen werden. Wo sehen Sie die grössten Pulverfässer?

Abgesehen von Nahost gibt es zahlreiche weitere Kandidaten. Beispielsweise Ruanda, wo die Tutsis den Bürgerkrieg 1994 gewonnen haben und auch heute noch nicht besonders nett zu den unterlegenen Hutus sind. Dennoch hat es Präsident Kagame geschafft, den einzig wirklich funktionierenden Staat in Afrika auf die Beine zu stellen. Oder ­Kenia, wo ein wackliges Gleichgewicht herrscht, weil zwei Grossstämme einander bekämpfen. Föderalismus wäre in beiden Fällen die Lösung, denn so könnten die Minderheiten mitbestimmen.

 

Könnte Föderalismus nicht zum Zerfall von Staaten führen? Wäre eine Welt mit fünftausend Staaten stabiler?

Das ist das klassische Argument, das mir immer wieder entgegengehalten wird. Doch Föderalismus würde nichts an der staatlichen Struktur ändern. Wir brauchen den Staat als administrative Einheit, sei es für die Müllabfuhr oder die Garantie der Sicherheit nach innen und aussen. Aber der Staat darf nicht in alle Lebensbereiche des Menschen eindringen. Unsere menschliche Existenz ist Vielfalt. Und diese friedlich zu steuern wird nicht möglich sein durch ein Mehrheitssystem. Fühlt sich eine grössere Minderheit majorisiert, wie Araber oder Säkulare in Israel, so führt das zu einem Bürgerkrieg.

 

Halten Sie einen Bürgerkrieg in Israel für realistisch?

Ja. Die jetzige innergesellschaftliche Spaltung der jüdischen Gemeinschaft ist ein Kontinuum der jüdischen Geschichte. Die jüdischen Fraktionen hassen einander herzlich und sind doch miteinander verbunden. Von aussen betrachtet, werden die Juden als ein Volk angesehen: selten geliebt, oft gehasst und liquidiert – ein Fluch. Der Segen hingegen ist das ständige Argumentieren, sich rechtfertigen, das Gegenteil denken. Dadurch entsteht eine ungeheure Kreativität. Die innerjüdischen Spannungen haben den Überlebenssinn ständig geschärft, auch intellektuell. Das grundsätzliche Problem in Israel lässt sich zurückführen zur Urphase und zur Diskussion zwischen Demokratie und Gewaltenteilung: Wer ist in der Demokratie wirklich der Souveräne? Das Gleichgewicht ist labil.

 

In Me’a Sche’arim, dem ultraorthodoxen Viertel von Jerusalem, arbeiten die Leute wenig und erwirtschaften kaum Steuer­einnahmen. Lässt sich auch dieses Problem lösen mit Hilfe des Föderalismus?

Letztlich wurzelt der Föderalismus in der philosophischen Erkenntnis: «Der andere ist anders. Er ist wie du.» In Israel sehe ich nicht, dass die beiden Seiten bereit sind, die jeweils andere in ihrem Anderssein zu akzeptieren. Es geht nicht, dass die nichtreligiöse aschkenasische Mehrheit und die religiöse Minderheit einander bestimmte Dinge aufzwingen. Es bräuchte hier Überlegungen von Juristen oder Fachleuten für Politikmanagement. Wenn man das strategische Ziel kennt, dann kann man auch einen Weg bestimmen.

 

«Letztlich wurzelt der Föderalismus in der philosophischen Erkenntnis: ‹Der andere ist anders. Er ist wie du.›»

 

Sie skizzieren eine Idee, wie ein föderales Israel/Palästina ­aussehen könnte, mit einem israelischen Kernland, wo Juden und Araber ihr jeweils eigenes Parlament wählen, und Bundesländern wie Palästina-Westjordanland, Gaza und Jordanien. Das klingt logisch, löst aber nicht das Grundproblem, dass beide Ansprüche erheben auf dasselbe Land.

Beide Seiten wollen Selbstbestimmung, und für die Selbstbestimmung der Menschen plädiere auch ich; sie hat das Ziel, ihr Leben und Überleben zu ermöglichen. Das Territorium hat keine Selbstbestimmung, sondern die Menschen.

 

Aber wenn die Menschen beziehungsweise ihre politischen ­Führer Selbstbestimmung über ein Territorium beanspruchen, dann haben wir ein Problem.

Dann denken sie falsch. Und was falsch gedacht wird, kann nicht richtig gemacht werden. Deshalb sage ich, dass die Vorstellung des Nationalstaats von einer Fiktion ausgeht, wonach es eine Deckungsgleichheit von Geografie und Demografie gibt. Aber dem ist nicht so. Es gibt knapp 700 000 jüdische Siedler im Westjordanland und ungefähr zwei Millionen israelische Araber. Welche Möglichkeiten existieren dann? Eine ethnische Säuberung ist keine Option.

 

Die Grundidee der Dezentralisierung ist, Gruppen mit spezifischen Interessen, etwa den Katalanen, Autonomie zu geben. ­Jedoch gibt es innerhalb dieser Gruppen wieder Minderheiten mit anderen Interessen. Dann sind wir wieder beim gleichen Problem auf einer Ebene tiefer.

Kürzlich fragte ich den Journalisten Markus Somm, wieso die direkte Demokratie in der Schweiz so gut funktioniere. Er erklärte mir, dass es hierzulande um Sachfragen gehe, die unterschiedlich beantwortet werden könnten, weil die Menschen unterschiedliche Interessen hätten. Manchmal gewinnen sie, manchmal verlieren sie. Diesen ständigen Wechsel als selbstverständlich zu akzeptieren, muss eintrainiert werden. Was wiederum eine Form des Föderalismus ist. Es soll keine Machtfrage sein, sondern eine zivilisierte Form der Auseinandersetzung: Der organisierte Schutz des Menschen vor dem Menschen. Macht führt zu Machtmissbrauch und zu einer individuellen und kollektiven Selbstüberschätzung. Wer immer nur erfolgreich ist, verliert den Realitätsbezug und die Menschlichkeit.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!