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«Die Pandora-Büchse darf nicht geöffnet werden»

Noch hat die Schweiz ihre Finanzen im Griff – doch es droht finanzpolitisches Ungemach. Die Wirtschaftsprofessoren Marius Brülhart und Mark Schelker trafen sich zum «Duell des Monats» im Berner «Polit-Forum Käfigturm» um über die Zukunft der Schuldenbremse zu diskutieren.

«Die Pandora-Büchse darf nicht geöffnet werden»

Frankreich versinkt im Schuldenschlamassel. In den USA erreichen die Staatsschulden stets neue Hochstände. Deutschland trickst sich zu einer Neuverschuldung in noch nie dagewesenem Ausmass. Eine Auflistung, die fast beliebig fortgesetzt werden könnte.

Eine löbliche Ausnahme bildet die Schweiz – ihre Staatsfinanzen gelten als gesund, die Verschuldung ist tief. Die Nettoschuldenquote des Bundes liegt bei rund 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (2024). Möglich gemacht hat das die 2003 vom Volk angenommene Schuldenbremse.

Ganze 85 Prozent haben damals «Ja» dazu gesagt, den Handlungsspielraum der Politik einzuschränken. Das ist einerseits eine willkommene Disziplinierungsmassnahme von allzu ausgabenfreudigen Politikern. Andererseits gibt es Leute, die (bei einer zu strikten Anwendung) vor dem Ausbleiben von notwendigen Investitionen warnen.

Bremst die Schuldenbremse also das Land aus – oder hält sie es auf Kurs? Darüber debattierten die Wirtschaftsprofessoren Marius Brülhart (Universität Lausanne) und Mark Schelker (Universität Freiburg) im Berner Politforum Käfigturm im Rahmen des «Duell des Monats».

«Heutiger Mechanismus ist zu starr»

Gleich zu Beginn bekennen sich beide Ökonomen grundsätzlich zur Schuldenbremse. Einigkeit herrscht darüber, dass Einnahmen, Ausgaben und Schulden langfristig in einem «gesunden Verhältnis» stehen müssen. Uneinigkeit besteht hingegen bei der Ausgestaltung und konkreten Anwendung, insbesondere in finanzpolitisch härteren Zeiten, die auf die Schweiz zukommen. Höhere Ausgaben (13. AHV-Rente, höhere Armeeausgaben) und geringere Einnahmen (schwächelnde Konjunktur, mögliche Annahme der Individualbesteuerung) engen den politischen Handlungsspielraum ein.

Beim Griff in die Werkzeugkiste stehen Stimmbürgern, Politikern und Makroökonomen folgende Instrumente zur Verfügung: Steuern erhöhen, Ausgaben senken oder Schulden machen. Oder sich für eine irgendwie ausgestaltete Mischform zu entscheiden.

Brülhart kritisiert den heutigen Mechanismus als zu starr: «Wir frieren momentan die nominellen Schulden ein, also den Betrag in Franken. Sinnvoller wäre es jedoch, die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung in Form einer Quote zu betrachten». Das würde bei einer wachsenden Wirtschaft eine einfachere Finanzierung von Investitionen oder Ausgaben über Schulden ermöglichen. Brülharts Hauptkritik an der Schuldenbremse – die er selbst an der Urne angenommen hat –, ist, dass der aus seiner Sicht restriktive Verfassungsartikel in ein noch strengeres Gesetz gefasst wurde. Ein Missstand, den es zu beheben gelte. Denn im Gesetz ist nicht bloss von konstanten Schulden, sondern von Abbau die Rede. «Es ist wirklich schwer, dafür ökonomische Argumente zu finden», sagt Brülhart.

Sorge um implizite Staatsverschuldung

Von einer prozyklischen Schuldenquote, bei der bei guter Konjunktur die Schulden steigen und bei schlechtem Wirtschaftsverlauf die Schulden sinken, hält Schelker nichts. Er ist strikt gegen eine Aufweichung der jetzigen Schuldenbremse. Für ihn ist sie ein grosser Erfolg, ein Exportschlager gar, der den Defiziten der 1990er-Jahre ein Ende setzte und die Schweiz finanzpolitisch wieder auf Kurs brachte. Daran gebe es nichts zu rütteln.

Punktuelle Verschärfungen kann sich Schelker hingegen gut vorstellen. Bereits heute sei zum Beispiel der Infrastrukturfonds oder die steigenden Ausgaben der AHV/IV/EO nicht der Schuldenbremse unterstellt. Begehrlichkeiten von Politikern, auch weitere Bereiche (etwa die Rüstungsausgaben) der Schuldenbremse zu entziehen, gebe es zuhauf. Auch kann sich der Freiburger Professor vorstellen, dass die Finanzierung politischer Vorlagen gesichert sein muss (nicht wie bei der 13. AHV-Rente). Oder, dass das Rentenalter automatisch an die Rentenausgaben angepasst wird, wie dies etwa Dänemark mache.

«Ich mache mir Sorgen um die implizite Staatsverschuldung. Diese liegt je nach Rechenart bereits bei 150 bis 200 Prozent des BIP.» Diese implizite Sicht auf die Verschuldung berücksichtigt auch die zukünftigen Versprechen des Staates, beispielsweise bei den Sozialversicherungen, die wegen Leistungsausbau und Überalterung stets teurer werden.

«Deshalb möchte ich die Schuldenbremse auf zusätzliche Gebiete wie die AHV ausweiten», sagt Schelker – im Wissen darum, dass ein solches Vorhaben zurzeit kaum Mehrheiten finden würde. «Wir müssen langfristig ein neues Gleichgewicht herstellen, auch weil die rund 30-jährige Friedensdividende aufgebraucht ist. Das muss über Anpassungen bei Einnahmen und Ausgaben, und nicht über die Verschuldung geregelt werden.»

Klar ist für ihn, dass die Büchse der Pandora keinesfalls geöffnet werden darf. Man sehe mit Blick auf Deutschland, wie Ausgabenposten systematisch vom ordentlichen Budget ins nicht der Schuldenbremse unterstellte «Sondervermögen» verschoben werden. «Solche Tricksereien, bei denen Kernaufgaben des Staates plötzlich ins ausserordentliche Budget abwandern, sind ein Eldorado für Politiker», warnt Schelker.

Gute Schulden, schlechte Schulden

Kontrovers diskutiert wurde im von Lukas Leuzinger geführten Gespräch auch ein von Brülhart angeregtes «Reförmchen», in dem es um «Budgetreste» geht. Im Durchschnitt der letzten 20 Jahre hat der Bund jährlich einen Überschuss von rund einer Milliarde Franken gemacht. Diese möchte er als «Korrekturfaktor» in die Schuldenbremse einrechnen und somit eine höhere Verschuldung ermöglichen. «Das ist ein steuer- und staatsquotenneutraler Weg, um zum Beispiel die Steuerausfälle bei der Individualbesteuerung gegenzufinanzieren». Wehret den Anfängen, entgegnet Schelker auch hier, und warnt vor dem Reformvorhaben als Einfallstor für finanzpolitischen Schlendrian (in den Wirtschaftswissenschaften auch als «Broken-Window-Effekt» bekannt). Die Schweiz habe heute schon sechs Ausgabenminister und nur eine Finanzministerin.

Unbestritten bliebt am Ende des Abends, dass es durchaus «gute Schulden» gibt, etwa für produktive Investitionen in Infrastruktur oder Bildung. Offen blieb die Frage, wie hoch der optimale Schuldenstand tatsächlich sein sollte. «Eine Welt ohne Schulden ist nicht automatisch eine bessere Welt», sagte Brülhart. Doch für Schelker steht fest: Nur wer diszipliniert bleibt, kann finanzielle Stabilität langfristig sichern. (Fabian Gull)

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