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Die grösste Herausforderung unserer Altersvorsorge liegt nicht im 3-Säulen-System, sondern im Bildungswesen

Die Schweizer wissen bedenklich wenig über ihre Altersvorsorge. So können sie ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Es braucht daher dringend grössere Anstrengungen, um die Financial Literacy zu stärken.

Die grösste Herausforderung unserer Altersvorsorge liegt nicht im 3-Säulen-System, sondern im Bildungswesen
Alles klar? Wenn es um die eigene Altersvorsorge geht, fehlt vielen das nötige Wissen. Bild: ChatGPT

Das Vorsorgesystem ist eine der zentralen Errungenschaften des schweizerischen Sozialstaats – und zugleich eine der grossen Baustellen der kommenden Jahrzehnte. Während sich Politiker, Experten und Lobbygruppen an technischen Parametern wie Umwandlungssätzen, Rentenalter oder Beitragsstrukturen abarbeiten, bleibt ein Aspekt unterbeleuchtet: das individuelle Wissen und Verständnis der Menschen über ihre eigene Altersvorsorge. Im Fachjargon: die Financial Literacy.

Das System ist für viele undurchschaubar

Die Schweizer Altersvorsorge beruht auf dem 3-Säulen-Prinzip. Doch obwohl es das Rückgrat der sozialen Absicherung bildet, ist es den meisten nur in Umrissen bekannt. In einer repräsentativen Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften von 2022 wussten nur 39 Prozent der Befragten, wie die drei Säulen konkret funktionieren. Und weniger als ein Drittel konnte den Begriff «Umwandlungssatz» korrekt erklären, obwohl dieser entscheidend für die Höhe der eigenen Pensionskassenrente ist.

Der Wissensstand in der Bevölkerung liegt somit weit unter dem Anspruch, den ein System stellt, das auf Eigenverantwortung beruht.  Die Folgen davon sind Passivität, falsche Entscheidungen und übertriebene Erwartungen an den Staat.

«Viele Menschen wissen nicht, wie hoch ihre künftige Rente ausfallen wird oder weshalb es sinnvoll sein kann, in die dritte Säule einzuzahlen.»

Unwissen macht abhängig

Eine funktionierende Altersvorsorge lebt von mündigen Bürgerinnen und Bürgern. Wer jedoch nicht versteht, wie das System funktioniert, delegiert die Verantwortung an andere – an Arbeitgeber, an Versicherungen, an die Politik. So wird nicht nur die Selbstbestimmung untergraben, auch das Vertrauen in die Institutionen erodiert. Wer seine Pensionskasse nicht versteht, neigt dazu, ihr zu misstrauen. Und wer glaubt, die AHV sei eine «sichere Bank», ohne deren Umlageverfahren zu durchschauen, wird irgendwann von der Realität überrollt.

Ein konkretes Beispiel: In einer von Inter-Pension durchgeführten Strassenumfrage konnten viele Passantinnen und Passanten nicht erklären, wofür die zweite Säule eigentlich steht. Einige meinten, sie sei lediglich ein «Sparkonto für die Rente», und wussten nicht, dass sie auch Leistungen bei Invalidität oder im Todesfall abdeckt. Besonders überraschend: Selbst Erwerbstätige, die seit Jahren einzahlen, konnten die Informationen auf ihrem Vorsorgeausweis nicht einordnen. Dies zeigt: Das Informationsdefizit ist real. Kommt man aber ins Gespräch, ist das Interesse, mehr zu erfahren, gross.

Financial Literacy ist deshalb keine rein private Angelegenheit. Sie ist ein öffentliches Gut – mit volkswirtschaftlicher Relevanz. Empirische Erhebungen zeigen, dass Menschen mit höherer finanzieller Bildung und aktivem Sparverhalten ihre Konsumentscheidungen gezielter treffen. Sie vergleichen mehr, verschulden sich seltener und treffen nachhaltigere Entscheidungen. Kurz: Wer spart, konsumiert bewusster.

Dasselbe dürfte auch für unser Vorsorgesystem gelten. Wer versteht, wie Kapitalerträge zur Rente beitragen, hat eine andere Sicht auf das Zinsumfeld und auf die Rolle der Kapitalmärkte. Und wer sich mit dem eigenen Vorsorgeausweis auseinandersetzt, trifft bessere Entscheidungen – für sich selbst und für die Gesellschaft.

Die Politik duckt sich weg

Die Politik setzt seit Jahren auf Symbolpolitik. Sie emotionalisiert die Altersvorsorge und macht sie zu einem ideologischen Spielball zwischen Generationen. Die zweite Säule wird mit verzwickten Kompromissen reformunfähig gemacht, während die Leistungen der eigentlich sanierungsbedürftigen AHV munter ausgebaut werden. Dabei wäre die Lösung einfacher, als man denkt:

«Statt die Vorsorge weiter zu verkomplizieren, müssten wir sie besser erklären.»

Ein Beispiel: Weshalb lernen junge Menschen in der Schule nicht, wie die Rente ihrer Grosseltern zustande kommt? Weshalb erfahren Lernende mehr über Photosynthese als über den Vorsorgeausweis? Diese Fragen sind nicht zynisch gemeint – sie zeigen die Schieflage im Bildungsauftrag.

Der Handlungsbedarf ist offensichtlich. Laut einer Swiss-Life-Studie von 2023 fühlt sich mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen in der Schweiz nicht ausreichend über ihre Altersvorsorge informiert. Besonders ausgeprägt ist diese Unsicherheit bei jungen Erwachsenen unter 35 und bei Personen mit tieferem Bildungsstand – also genau jenen Gruppen, die langfristig die Folgen falscher Entscheidungen tragen müssen.

Eigenverantwortung ermöglichen

Ein liberales Vorsorgesystem lebt von Eigenverantwortung. Doch diese kann nur greifen, wenn die Menschen auch befähigt werden, Verantwortung zu übernehmen. Dazu braucht es einfache Informationsangebote, digitale Vorsorgetools, verständliche Kommunikation – und endlich ein verbindliches Finanzbildungsprogramm in Schulen und Betrieben.

Insbesondere bei Letzterem ist der Staat gefordert. Er muss die Rahmenbedingungen schaffen, damit finanzielle Bildung systematisch vermittelt wird. Gleichzeitig stehen aber auch Pensionskassen, Arbeitgeber und Verbände in der Pflicht: Sie müssen Komplexität abbauen, verständlich kommunizieren – und den Dialog mit ihren Versicherten führen. Unser Verband hat deshalb im vergangenen Jahr eng mit dem Verein Finance Mission zusammengearbeitet, um Vorsorgewissen in Schulen auf spielerische Weise zu fördern.

Die demografischen Herausforderungen sind real. Der Reformbedarf ist gross. Doch alle technischen Anpassungen werden ins Leere laufen, wenn das Fundament nicht stimmt: das Verständnis für das System, seine Logik – und die Rolle des Einzelnen darin.

Financial Literacy ist keine Wunderwaffe. Aber sie ist die Voraussetzung dafür, dass das Vorsorgesystem langfristig stabil, fair und tragfähig bleibt. Die grösste Herausforderung unserer Altersvorsorge liegt nicht im Finanzierungssystem, sondern im Bildungssystem.

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