Der Sozialstaat erhält sich selbst
Neuere Studien zeigen: wer in einem Wohl-fahrtsstaat sozialisiert wird, will auf staatliche Wohlfahrt nicht mehr verzichten. Das Selbst-verständnis der Bürger wandelt sich.
«Neo-Liberalismus» kann auf eine steile Karriere als politischer Kampfbegriff zurückblicken. Meist sind es zwei Politiker, die mit Wohl und Übel dieser umstrittenen Ideologie assoziiert werden: Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Sie beide waren es, die in den 1980er Jahren einer Politik des Staatsabbaus, der Privatisierung und der Steuersenkung ihr Gesicht und ihre Stimme liehen – zum Teil gegen massive öffentliche Widerstände. Beide bezogen sich in ihren Reden gerne auf namhafte liberale Ökonomen, wie Friedrich A. von Hayek oder Milton Friedman. Die Entschiedenheit, mit der etwa Thatcher den öffentlichen Ideologiestreit ausfocht, bescherte ihr gar den Beinamen der eisernen Lady.
Eine jüngst erschienene Studie der französischen Ökonomen Roland Bénabou und Jean Tirole* lässt nun diese demonstrative politische Entschiedenheit in einem neuen Licht erscheinen und möglicherweise den einen oder anderen aktiven Politiker aufhorchen. Die Autoren haben den Versuch unternommen, den Zusammenhang zwischen der tatsächlichen sozialen Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit einer Gesellschaft und ihrem politischen Drang nach Freiheit oder Gleichheit zu untersuchen. Sie kamen dabei zu einer auf den ersten Blick vielleicht überraschenden Erkenntnis: der gesellschaftliche Wunsch nach «sozialer Gleichheit» nimmt bei steigender Umverteilungstätigkeit des Staates nicht ab, sondern zu.
Bénabou und Tirole erklären sich diesen Zusammenhang mit den Anreizstrukturen, die durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilungen erzeugt werden. Wenn der Staat ein soziales Netz aufspannt, das mögliche «Verlierer» auffängt und so soziale Risiken reduziert, dann können Eltern ihren Kindern ruhigen Gewissens den hohen Wert sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit lehren. Fehlt hingegen ein solches staatliches Sicherheitsnetz, tun Eltern gut daran, ihren Nachkommen Werte wie Eigeninitiative und Selbstverantwortung zu predigen. So beeinflussen die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen eines Landes die Gesellschaftsmoral, indem sie gewissermassen selbstverstärkend wirken: je mehr Umverteilung stattfindet, desto mehr Umverteilung wird gefordert.
Es ist nun äusserst interessant, das Gesagte mit den Ergebnissen zu vergleichen, die eine Untersuchung der britischen Forscher Andreas Georgiadis und Alan Manning** zutage gefördert hat. Sie haben die Entwicklung der öffentlichen Meinung im Grossbritannien Margaret Thatchers unter die Lupe genommen. Tatsächlich stieg nach den gängigen Massstäben die soziale Ungleichheit auf der Insel in den 1980er Jahren spürbar an. In der Folge gewannen auch Positionen an Popularität, die eine verstärkte wohlfahrtsstaatliche Aktivität der Regierung forderten. Weder die konservative Regierung noch die sozialdemokratische Nachfolgeregierung gingen jedoch auf diese öffentliche Präferenz ein. Zu tief hatte sich offensichtlich die «neo-liberale» Rhetorik der Thatcher-Jahre in das Bewusstsein der handelnden Politiker eingeprägt. So kam es, wie es nach Bénabou und Tirole kommen musste: die Bürger erkannten die Notwendigkeit der Eigenvorsorge, und der öffentliche Wunsch nach staatlicher Umverteilung entwickelte sich nachweisbar zurück.
Im Falle Grossbritanniens bleibt umstritten, wie stark der Einfluss der Einkommensstrukturen auf die öffentliche Meinung tatsächlich war. Es wäre auch denkbar, dass die Bürger hier schlicht den Vorgaben der führenden Politiker sowie der sympathisierenden Medien folgten. Hier treffen wir auf die nicht zu unterschätzende Sprengkraft der zitierten Studien. Was, wenn tatendurstige Politiker aus den beschriebenen Zusammenhängen die naheliegende Maxime ableiten: zuerst handeln, dann fragen? Zwar wird Prinzipientreue in der Politik meist begrüsst. Doch sollte eine solche Prinzipientreue gleich so weit gehen, dass die öffentliche Meinung durch Manipulation der staatlichen Anreizstrukturen beliebig verschoben wird?
Im Falle der Schweiz erlaubt das System der direkten Demokratie glücklicherweise nicht jenen politischen Handlungsspielraum, wie ihn die Gestaltung der sozialen Strukturen über die Köpfe der betroffenen Bürger hinweg erfordern würde. Das «Abstimmungs-Veto» würde solche politische Experimente, wenn nicht verhindern, so doch in ihrer Wirksamkeit relativieren. Ungeachtet dieser Einschränkung und ungeachtet der Komplexität unserer Gesellschaft zeigt sich: wollen etatistische Kreise ihren politischen Einfluss erhöhen, so müssen sie schlicht auf den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates drängen. Kreise hingegen, denen an der Verteidigung liberaler und marktwirtschaftlicher Prinzipien liegt, sollten sich hüten, sozialstaatliche Kompromisse einzugehen. Jeder Ausbau des Sozialstaates untergräbt faktisch ihr eigenes politisches Fundament.
* Roland Bénabou, Jean Tirole:
«Belief in a Just World and Redistributive Politics». In: Quarterly Journal of Economics, Mai 2006, Vol. 121, No. 2, 699–746.
** Andreas Georgiadis and Alan Manning:
«Spend It Like Beckham? Inequality and Redistribution in the UK, 1983–2004». CEP Discussion Paper No. 816, August 2007.
CHRISTIAN P. HOFFMANN, geboren 1978, hat Betriebswirtschaft studiert und ist Assistent an der Universität St. Gallen.