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Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich

1956 bis 2006: das Thomas-Mann-Archiv in Zürich – Schatzkammer und Forschungsstätte – feiert dieses Jahr sein fünfzigjähriges Bestehen. Auf dem Jubiläumskongress «Thomas Mann in der Weltliteratur» waren Gäste geladen, die den Dichter unter dem Aspekt des Kosmopoliten in den Mittelpunkt ihrer Erinnerungen und Reflexionen stellten. Nach einer Einführung zur Geschichte
und Gegenwart des Archivs drucken wir zwei der Vorträge in gekürzter Fassung ab.

Was nun? Der Dichter war tot, und sein Nachlass eine Kalamität. Die Familie brauchte Unterstützung, durch den Staat und die Wissenschaft. Beides bot die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich. Von ihr hatte Thomas Mann, wenige Wochen bevor er am 12. August 1955 im Zürcher Kantonsspital starb, das Ehrendoktorat der Naturwissenschaften entgegennehmen dürfen. Ihr, der Hochschule der Schweiz, wo er zweimal in Lebenskrisen Zuflucht gefunden hatte, wollten seine Erben den Nachlass schenken.

Man kann nicht sagen, dass die Behörden enthusiastisch reagierten. Der mit dem Geschenk verbundene Aufwand schreckte sie, und so brachten sie die Etablierung einer von der ETH unabhängigen Stiftung ins Gespräch. Der Zufall wollte es jedoch, dass der damalige Rektor ein Thomas Mann verbundener Germanist war: Karl Schmid. Ihm war es zu verdanken, dass es dann doch zu der Schenkung kam. Nicht ohne Schwierigkeiten. «Motto: Thomas Manns Werke schreiben: allerhand! Sie der ETH vermachen: mehr, schwieriger, ungeheuer!» schrieb Schmid dem Familienfreund Richard Schweizer. «In diesem Sinne verschone ich Dich mit einem Referat über die neueste Kapelle auf dem Stationenweg, der ad montem sacrum confœderationis Helveticæ führt». Im August 1956 konnte Bundesrat Philipp Etter dann der Witwe Katia Mann mitteilen: «Es ist uns Freude und Ehre, Ihnen im Namen des Bundesrates, der in seiner Sitzung vom 27. Juli 1956 die Schenkung entgegengenommen hat, den verbindlich-sten Dank auszusprechen. Mit besonderer Genugtuung erfüllt uns, dass gerade unsere grosse schweizerische Bildungsstätte in Zürich bedacht und ausgezeichnet wird. […] Sie wird es sich angelegen sein lassen, dem Vermächtnis seines Geistes ein verantwortungsbewusster Wächter und Verwalter zu sein. Das Thomas Mann-Archiv wird das geistige Leben unseres Landes, dem der Dichter persönlich und durch den Gehalt seines Werkes in mannigfacher Hinsicht eng verbunden war, wesentlich bereichern.» Die Schenkung umfasste über 700 Manuskripte, darunter solche von Hauptwerken wie «Doktor Faustus», «Joseph» oder «Krull»; umfangreiche Sammlungen von Notizen, Entwürfen und Arbeitsmaterialien; Thomas Manns Bibliothek von über 2’000 Bänden mit zahlreichen handschriftlichen Bemerkungen und Anstreichungen; rund 2’500 Briefe von und an Thomas Mann; Andenken, Diplome und andere Ehrenzeichen; Photos und Graphik; das Mobiliar seines letzten Schreibzimmers in Kilchberg samt den Kunstgegenständen und Bildern, die sich darin befanden; eine grosse Sammlung von Zeitungsausschnitten.

Es erwies sich als zweckmässig, den Nachlass zunächst in den Räumen der ETH-Bibliothek unterzubringen. Nach und nach begann das junge Archiv Tritt zu fassen, als dessen erster Leiter Bibliotheksdirektor Paul Scherrer amtierte. Die Bestände wurden inventarisiert, geordnet, katalogisiert, gelagert, vermehrt. Bald kamen zahlreiche Besucher aus verschiedenen Kontinenten, bald auch Benutzer und schriftliche Anfragen. Das Archiv musste sich seinen Platz erkämpfen. Scherrer sprach von einer «gefährlichen Konkurrenz von Ost-Berlin, Princeton und der Yale University Library». Intern war es für ihn von grösster Bedeutung, das Archiv zu einer Spezialabteilung seiner Bibliothek zu machen. Einen Eindruck von den Schwierigkeiten, denen das Archiv sich zu dieser Zeit ausgesetzt sah, gibt eine Aktennotiz Karl Schmids:

«Archive. Mitte zwischen verstaubtem Museum und einem hektischen, monomanischen Kult! […] Der würdige Stil ist zu sichern

– gegen aussen: Pamphletär Hyänen, Irre

– gegen innen: die Magie der Identifikation, die Fafner-Gestalten

– gegen die Familie, die stilisieren möchte.»

Als definitive Unterbringung stand im Frühjahr 1960 das zweite Stockwerk des Bodmerhauses an der Ecke Schönberggasse 15/Doktor-Faust-Gasse fest. An der Eröffnungsfeier vom 25. Februar 1961 führte Paul Scherrer aus: «Nichts liegt uns ferner, als eine Kultstätte aufzubauen, worin Wahrheit unterdrückt und […] ein Götzenbild errichtet würde. Jede einseitige Stilisierung des Thomas-Mann-Bildes bleibt uns fremd. […] [Das Archiv] will für die luftigen Konstruktionen, die unsere wortfreudige Periode um und über Thomas Mann aufgebaut hat, den verlässlichen und sondierbaren Grund schaffen, will die wissenschaftlich beweisbaren Tatbestände ermitteln und sichern ? ein Bestreben, das von der modernen Geisteswissenschaft aus ihrem Hochflug der Gedanken zuweilen mit Skepsis betrachtet und Positivismus oder gar Philologie gescholten wird. Um so tiefer aber ist es dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Geist unserer Hochschule und ihrem Realitätssinn gemäss.» Als Vertreter der Familie unterstrich Golo Mann die tiefe innere Beziehung seines Vaters zur Schweiz und meinte weiter: «Es ist kein blosses Archiv, was wir heute eröffnen, es ist ein kleines Museum, wie es schöner, würdiger, sinniger überhaupt nicht gedacht werden kann. Schon heute ist der Besitz der Stiftung um ein Bedeutendes umfangreicher, als er ursprünglich war, und wenn auch einiges anderswo in fester Hand ist, wenn vieles den Zeitläuften und menschlichem Versagen leider unwiederbringlich zum Opfer fiel, so ist doch die Hoffnung berechtigt, dass die grosse Masse dessen, was bleibt, in dem Hause an der Doktor Faust-Gasse mehr oder weniger vereinigt sein wird.»

Im In- und Ausland wurde von der Eröffnung berichtet. Dabei wurde auch der Umstand thematisiert, dass Zürich als Archivort gewählt worden war. Man bezeichnete es in der Münchner Zeitschrift «Die Woche» als «Misstrauensvotum letzter Hand gegen den Ungeist deutscher Geschichte, die sich auch nach 1945 nicht zum Besseren wendete. Weder Lübeck, der Geburtsort, noch München, wo er vierzig Jahre lang lebte, vermöchten heute den Anspruch zu erheben, das nachgelassene Werk hegen und pflegen zu dürfen. Denn dieses Werk ist in seiner humanistisch-demokratischen Gesinnung, in seinem fortschrittlich-weltoffenen Geiste (bei allem konservativen Einschlag) den herrschenden Tendenzen dieses Deutschlands so entgegengesetzt, dass man es sich dort schwerlich angesiedelt denken kann.» Die Basler National-Zeitung wies darauf hin, dass «kein Dichter der Schweiz: weder Albrecht von Haller noch Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf, Jacob Burckhardt oder C.F. Ramuz […], sich eines so ausgedehnten und wohldokumentierten Heimes rühmen» könne wie Thomas Mann.

Kurz nach dieser Eröffnungsfeier trat Paul Scherrer, der sich mit seinen Anliegen nicht hatte durchsetzen können, von der Archivleitung zurück. 1962 folgte ihm der Germanist Hans Wysling. Gleichzeitig wurde das Archiv aus der organisatorischen Bindung an die Hauptbibliothek gelöst und zu einem selbständigen Institut der ETH. Mit Hans Wysling, der 1971 auch Professor an der Universität Zürich wurde, begann wissenschaftlich eine neue Ära, nämlich, wie er es 1986 selbst genannt hat, die «positivistische Explorationsphase der sechziger Jahre». Wyslings Arbeit steht ursächlich für die Veränderung des Thomas-Mann-Bildes als Folge profunden Quellenstudiums. 1967 begann das Archiv mit einer eigenen Publikationsreihe, den Thomas-Mann-Studien (TMS). Sie sollten, wie Wysling schrieb, «dazu beitragen, die Thomas-Mann-Forschung auf eine solidere Grundlage zu stellen. Strukturanalysen, Interpretationen, geistesgeschichtliche Versuche setzen die genaue Erforschung der Quellen, der werk- und lebensgeschichtlichen Zusammenhänge voraus; vor allem sind sie auf kritische Ausgaben von Texten angewiesen. Umgekehrt zeigt es sich, dass quellenkritische und editorische Arbeiten ohne gewisse theoretische Vorannahmen nicht auskommen. Am ehesten sind sie ihrem Gegenstande dann angemessen, wenn es gelingt, archivalische Akribie zu jener ‹zarten Empirie› zu verfeinern, auf die Goethe in den Maximen und Reflexionen hingedeutet hat.»

1975 war für das Archiv ein ausserordentliches Jahr – der hundertste Geburtstag Thomas Manns. Das Archiv zeigte im Zürcher Helmhaus eine grosse Ausstellung zu Leben und Werk. In einem Zwischenbericht hielt Wysling fest: «Seit Bestehen des Archivs haben über tausend Thomas-Mann-Forscher aus aller Welt hier gearbeitet. Zwei Hauptthemen stehen dabei im Vordergrund. Das eine ist die von Thomas Mann entwickelte Technik der Montage, das andere sein Verhältnis zu Mythos und Psychologie. Der Entstehungsprozess eines Werkes lässt sich mit Hilfe des Archivmaterials nun wesentlich genauer beschreiben als zuvor. Dass es sich dabei nicht um eine blosse Quellen- und Parallelenjagd handeln kann, zeigen die bis jetzt vorgelegten Arbeiten. Es geht ja nicht nur darum, zu zeigen, woher Thomas Mann sein umfassendes Wissen und seine Motive im einzelnen hat, sondern was er daraus macht. Abzuklären ist weniger die Herkunft der Zitate als die Art ihrer Integration. Aufgrund der Quellenstudien lässt sich das assoziative Geflecht eines Werkes und damit dessen schillernder Bedeutungsreichtum besser durchschauen und erfassen. Eine zweite Frage ist die nach Thomas Manns Verhältnis zur ‹Wirklichkeit›, zu dem riesigen angelesenen und ausgelesenen Stoff, den er sich vor und während der Niederschrift eines Werkes bereitstellt. Drittens ist zu fragen, wie es ihm angesichts dieser Häufung des Faktisch-Authentischen gelingt, seine eigene Thematik sich behaupten zu lassen. Und viertens fragen wir, unter welchen Einflüssen und Umständen diese Thematik sich wandelt, wie etwa an die Stelle der Geisteshelden der Frühzeit – Tonio Kröger, Schiller, Gustav von Aschenbach – die Erwählten der späteren Zeit treten – Joseph, Goethe, Gregorius.»

1993 wurde in Lübeck das Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum im Buddenbrookhaus eingeweiht. Es wurde schnell zu einem Literaturzentrum, in dem Ausstellungen, Lesungen, Tagungen und Workshops stattfinden, die sich nicht nur Heinrich und Thomas, sondern der ganzen Familie Mann widmen. Durch die Geburt einer weiteren Mann-Institution ergab sich für das Zürcher Archiv die sogleich wahrgenommene und seither kontinuierlich fortgeführte Möglichkeit der Kooperation.

Ende 1993 übergab Hans Wysling die Archivleitung dem Verfasser. Nach Golo Manns Tod 1994 wurde verschiedentlich die Frage eines Umzugs des Archivs nach Kilchberg gestellt. Seine Erben wären grundsätzlich bereit gewesen, das Haus an eine institutionell der Kultur verpflichtete Käuferschaft abzutreten. Eine umfassende Beurteilung der Lage ergab aber, dass für einen Wechsel keine hinreichenden Gründe bestanden.

1995 wurde eine neue Werkausgabe initiiert. Sie führte zum Projekt der Grossen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), deren erste Bände in Zusammenarbeit mit dem Archiv im Frühjahr 2002 erschienen. Im Jahr 2000 nahm das Archiv den 125. Geburtstag Thomas Manns zum Anlass, zusammen mit der Thomas Mann-Gesellschaft den Kongress «Das Unbewusste in Zürich. Sigmund Freud, Thomas Mann und C.G. Jung. Literatur und Tiefenpsychologie um 1900» zu organisieren.

Die Aufgaben des Archivs, im Schenkungsvertrag vorgegeben, sind in erster Linie archivalisch-wissenschaftlicher Natur. Es sollte Arbeitsstätte sein, weniger Museum, und schon gar nicht Kultstätte. So liest sich die Liste seiner Benutzer in der Tat wie eine Ahnengalerie der Thomas-Mann-Forscher. Das kleine Archiv ist kein erstrangiger Standortfaktor und steht nicht im Zentrum der touristischen Kalküle von Stadt und Land. Auch wenn es sich an den einander immer dichter folgenden Jubiläen beteiligt, und auch wenn es regelmässig an Kongressen mitwirkt – der Fokus wird nicht auf Betrieb gelegt. Das Archiv hat für grössere publikumswirksame Vermittlungsaktivitäten weder die räumlichen noch die finanziellen und personellen Kapazitäten. Es hat sich den modernen Bedingungen unserer Dienstleistungsgesellschaft angepasst: Einsatz der modernen Medien, Einbezug von Kooperationspartnern, erleichterte Benützung, erhöhte Visibilität und Transparenz. Es bedient die Massenmedien, sucht sie selbst aber nur nach Bedarf und strebt nicht an, seine Bestände, Neuzugänge, Aktivitäten und Publikationen in Schlagzeilen umzusetzen. Seine «klassischen» Hauptaufgaben werden sich wohl auch in Zukunft nicht grundsätzlich ändern. Hierher gehören die Aufbewahrung, Erfassung und Ordnung, Ergänzung sowie Präsentation seiner Bestände; die Betreuung der Benutzer, die Herausgabe von Publikationen und Editionen. Ausserdem werden Vorträge, Lehrveranstaltungen und Kongresse organisiert. Aus Anlass des 50jährigen Bestehens des Thomas-Mann-Archivs und der Thomas Mann-Gesellschaft führten die beiden Institutionen vom 8. bis 10. Juni 2006 im Kunsthaus Zürich den Kongress «Thomas Mann in der Weltliteratur» durch.

Thomas Sprecher, geboren 1957, ist Rechtsanwalt in Zürich. Er ist ausserdem Leiter des Thomas-Mann-Archivs (www.tma.ethz.ch).

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