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Das Europa Benjamin Constants hat sich in ein Europa Machiavellis verwandelt

Die EU ist im Geiste Benjamin Constants entstanden, der an die zivilisierende Kraft des Handels glaubte. Doch heute kehren wir zu einer Logik der Macht zurück, die überwunden schien. Das hat auch Auswirkungen auf die Schweiz.

Das Europa Benjamin Constants hat sich in ein Europa Machiavellis verwandelt

Lesen Sie den englischen Text hier.

Der Titel dieses Essays ist ein bewusst anachronistisches Spiel, er vergleicht sozusagen Äpfel mit Birnen. Er kontrastiert den Florentiner Niccolò Machiavelli, der als Begründer der modernen Politikwissenschaft gilt, mit Benjamin Constant, einem Lausanner, der in Schottland studierte und zum bedeutendsten Vorkämpfer des Liberalismus in der französischsprachigen Welt wurde. Machiavelli und Constant lebten drei Jahrhunderte auseinander, in unterschiedlichen Welten.

Machiavelli hatte eine Vision moderner Staatskunst in dem Sinne, dass er, um Jacob Burckhardt zu zitieren, bestrebt war, den Staat «als ein Kunstwerk» zu bauen. Für Burckhardt waren die Städte der italienischen Renaissance, besonders Florenz, das Treibhaus der Moderne. Während geniale Handwerker Gemälde und Skulpturen schufen, die später als Meisterwerke bewundert werden sollten, bestand Machiavellis Handwerk in der «Konstruktion eines ganzen politischen Systems».

Burckhardt sah in der Renaissance die Geburt des modernen Individuums. Zum ersten Mal wollte der Mensch sein eigenes Schicksal bestimmen. Das war für ihn die eigentliche Entdeckung dieser Epoche.

Der Name Machiavelli steht jedoch für mehr als blosse Staatskunst. Er betont in seinen Schriften, keine Geschichten über «erdachte Republiken und Fürstentümer» erzählen zu wollen. Er will dem Leser die «verità effettuale della cosa», die wirksame Wahrheit der Sache, zeigen. Seine Haltung ist die des Realismus. Realisten nehmen die menschliche Natur, wie sie ist, als oberstes Datum der Politik.

Menschen, schreibt Machiavelli in den «Discorsi», seien ehrgeizig, rivalisierend und bisweilen hasserfüllt und deshalb gefährlich. Sie kämpften auch ohne Anlass, aus schierer Geltungssucht. Manche nennen das die tragische Natur des Menschen: ein Wesen voller Begierde und Mangel.

Daraus folgt ein bestimmtes Verständnis internationaler Angelegenheiten. Die Machiavellisten glauben, Menschen machten Jagd auf Menschen, Staaten auf Staaten. Zu meinen, Menschen oder Staaten liessen sich durch Moral oder Vernunft von ihren Impulsen abbringen, ist eine Illusion. Menschen fügen sich nicht von selbst in Ordnung, denn sie entsteht nicht spontan aus dem Chaos. Ordnung muss ihrem Wesen nach durch Menschen geschaffen werden, durch Zwang. Sie ist ein Artefakt.

Die «Welt Machiavellis» ist eine Welt, in der Menschen einander gefährlich sind. Nur Gewalt kann ihre Aggression begrenzen. Ordnung entsteht nicht von selbst. Sie muss bewusst geschaffen werden.

Eine Stimme gegen die Willkürherrschaft

Zu Machiavellis Zeiten war Florenz, ganz zu schweigen von der italienischen Halbinsel als Ganzem, kein friedlicher Ort. Doch dasselbe gilt auch für das Europa zur Zeit Benjamin Constants. Constant war 22, als die Bastille gestürmt wurde. Er lebte damals in Braunschweig und war noch nicht politisch tätig. Einige Jahre später veröffentlichte er seinen ersten Essay, als in Frankreich das Direktorium an der Macht war. Constant erklärte, jede Institution, die sich durch willkürliche Macht zu etablieren suche, sei «selbstmörderisch», sie säe den Samen ihres eigenen Untergangs. Willkürherrschaft ist eine abschüssige Bahn, eine willkürliche Entscheidung gebiert die nächste und eine launenhafte Macht lässt sich nicht wirksam zügeln.

Constant wandte sich gegen Bonaparte, obgleich er während der «Herrschaft der Hundert Tage» kurz mit ihm kokettierte, in jener Phase, in der Napoleon aus dem Exil auf Elba zurückkehrte, um die Macht zurückzugewinnen, nur um dann bei Waterloo endgültig geschlagen zu werden. Später unterstützte Constant die Julimonarchie von 1830. Sein grosses Projekt war das, was wir heute als klassischen Liberalismus bezeichnen.

Constant hatte keine naiv optimistische Sicht auf die menschliche Natur. Sein Bestseller war nicht ein politischer Essay, sondern ein Roman, «Adolphe», ein schmerzliches Zeugnis der Selbstbeobachtung und der bittersüssen Natur der Liebe. Constant schrieb zu einer Zeit, als der Utilitarismus in Mode kam. Für die Liberalen, denen er zuneigte, war der individuelle Nutzen, was für die Machiavellisten die aggressive Natur des Menschen war: ein Generalschlüssel, der jede Tür öffnet.

Für Constant war die menschliche Natur vielschichtig – und auf Freiheit angewiesen, um sich zu entfalten. Anders als viele Aufklärer hielt er an der Bedeutung der Religion als Quelle von Sinn und Selbstprüfung fest.

Benjamin Constant schrieb viel. Am bekanntesten ist vielleicht eine kleine Vorlesung von 1819, in der er interpretierte, was dreissig Jahre zuvor geschehen war. Die französischen Revolutionäre waren aufrichtig von der Freiheit begeistert. Doch dieses Wort, Freiheit, kann Verwirrung stiften. Derselbe Begriff kann zwei sehr verschiedene Dinge bedeuten: politische Teilhabe oder persönliche Unabhängigkeit. Die Revolutionäre verwechselten das eine mit dem anderen und stürzten ihr Land in eine anachronistische Revolution.

In der Schweiz ist politische Teilhabe ein substanzieller Teil des bürgerlichen Erbes. Die Schweizer sind insofern in einer besonderen Lage. Aber im übrigen Westen stimmte Constants Feststellung, dass die wachsende Grösse politischer Gemeinwesen eine professionelle Verwaltung erforderte. Gleichzeitig gab ein immer grösseres und stärker vernetztes wirtschaftliches System den Menschen neue Möglichkeiten, sich durch Austausch ein Leben aufzubauen. Das bedeutet die Freiheit zu wählen, als Konsument, und die Freiheit, ausgewählt zu werden, als Unternehmer oder Arbeiter. In einer Marktgesellschaft finden mehr Menschen relativ leicht eine Arbeit, die ihrem Talent und ihren Ambitionen entspricht. Sie ist aber auch eine Gesellschaft, in der Menschen leichter etwas finden, das ihnen gefällt, da sie über Mittel verfügen, zu konsumieren, was sie begehren.

Für Constant war Sparta ein Kasernenkloster, die moderne Welt das Gegenteil davon. Krieg und Handel führen zum gleichen Ziel: Menschen wollen etwas haben, durch Gewalt oder durch Tausch. Handel ist der friedliche Weg, dieses Ziel zu erreichen.

Das heisst, für Constantianer, wenn wir sie so nennen dürfen, ist Ordnung nichts, was den Menschen übergestülpt werden muss. Menschen sind von Natur aus bedürftig und begehrlich, sie wollen Dinge, darum sind sie aggressiv. Aber sie können auch friedlich handeln. Ob sie Krieg oder Frieden wählen, hängt weitgehend von den Anreizen ab, denen sie ausgesetzt sind.

«Follow the money»

Warum erzähle ich all dies im Kontext einer Unterhaltung über die Schweiz und Europa? Einer der ältesten Streitpunkte unter Menschen, die sich mit Politik beschäftigen, ist die Frage, was politische Ereignisse antreibt. Karl Marx gab eine klare Antwort: ökonomische Interessen. «Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.» Der Überbau – darunter verstand Marx Institutionen, Staat, Sitten und Religion – spiegelt aus seiner Sicht die Kräfte und Verhältnisse der Produktion. Daher «dient der kapitalistische Staat als geschäftsführender Ausschuss der Bourgeoisie». Wenn sich die Produktionsverhältnisse wandeln, wandelt sich auch die Politik.

Es braucht keinen Marxisten, um die Bedeutung von Interessen in der Politik zu verstehen. Der epistemologisch bescheidenere Rat «Follow the money» ist oft hilfreich, um zu begreifen, wie bestimmte Interventionen oder Gesetze zustande kamen. Dennoch glaubt kaum jemand, Politik werde ausschliesslich durch ökonomische Interessen geformt.

Denn selbst diejenigen mit eigennütziger Agenda rahmen sie typischerweise in Gemeinwohlüberlegungen. Das ist Propaganda, gewiss, spiegelt aber auch eine verbreitete Haltung. Rein eigennütziges politisches Handeln gilt als unmoralisch. Politische Ideen treten als breite Deutungen dessen auf, was das Gemeinwohl ist. Irgendwie brauchen wir alle sie, um zu verstehen, was wir selbst für unser Interesse halten, es einzurahmen in das, was wir für legitim, politisch plausibel und möglich halten.

Politische Ideen können als grosse Programme wirken, die Handlungen auslösen. Sie können aber auch unser Verständnis der Welt formen. Sie liefern die Brille, durch die wir deuten, wie Dinge passieren, wie und warum andere handeln, und denken konsistent voraus, wie unser eigenes Handeln sich entwickeln kann.

Die machiavellistische und die constantianische Sicht sind aus meiner Sicht in erster Linie grosse Konstellationen von Ideen darüber, wie die Welt funktioniert, bevor sie konkrete politische Projekte sind.

Handel statt Krieg

Wenn wir die Europäische Union betrachten, scheint mir klar, dass nahezu alles, was sie erreicht hat und was in ihr funktioniert, mit einem constantianischen Denken vereinbar ist. Der Kontext ist bekannt. Zwar kursierten Träume von den «Vereinigten Staaten von Europa» über Jahrzehnte in Nischen, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die europäische Idee Schwung. Die Notwendigkeit, nach der Verwüstung des Krieges Versöhnung zu fördern, ging Hand in Hand mit dem Ehrgeiz, das grösste Problem der vorausgehenden siebzig Jahre zu überwinden: die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich.

Dieses Projekt entspricht genau dem, was Constant antizipierte. Statt Krieg gab es Handel. Wachsende wirtschaftliche Verflechtung sollte die rivalisierende Haltung der Staaten in fruchtbaren Wettbewerb im Dienste des wirtschaftlichen Fortschritts überführen. Liest man die ersten Zeilen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957, sieht man, dass die unterzeichnenden Nationalstaaten sich zu Expansion, Stabilität, Fortschritt und einer rascheren Verbesserung des Wohlergehens ihrer Bürger bekannten. Dies sei zu erreichen durch engere wirtschaftliche Verflechtung und eine breitere internationale Arbeitsteilung.

Ich behaupte nicht, dass dies das einzige Motiv der Gründer war. Gewiss hielten manche eine Welt, ja einen Kontinent von Nationalstaaten für gefährlich und waren überzeugt, man müsse die Institution des Nationalstaats überwinden. Doch diese Idee, dieser Traum, umfasste eine weitere Idee, einen weiteren Traum: den einer politischen, wirtschaftlich und kulturell integrierten Gemeinschaft, die kein Staat im engen Sinne sein sollte. Manche dachten an eine demokratische, republikanische Variante des Habsburgerreichs, andere entwarfen der Schweiz vergleichbare konföderative Zukünfte. Sie dachten aber nicht daran, den Nationalstaat auf europäischer Ebene zu replizieren, als grössere Version Frankreichs oder Italiens – das wäre ein eher machiavellistischer Gedanke.

Weil die menschliche Natur aus Sicht der Machiavellisten nicht nur fehlerhaft, sondern konstant ist, vertrauen sie darauf, dass ein fixes institutionelles Werkzeug in sehr verschiedenen Situationen funktioniert. Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts waren Frieden und Sicherheit ständig bedroht. Das universelle Ethos des Christentums war durch die Reformation verdrängt, die, verbunden mit den politischen Ränkespielen lokaler Machthaber, einen neuen Partikularismus befeuerte. Wie wurde dieses Problem gelöst? Durch die Schaffung des Nationalstaats: einer Institution mit Gewaltmonopol auf einem Territorium, die konkurrierende Loyalitäten tilgte.

Der Motor hinter der Entstehung von Staaten war, wie Charles Tilly oft betonte, der Krieg. Die Konzentration militärischer Macht wurde durch die Furcht vor einem äusseren Feind erleichtert. In der Tat verstand Machiavelli die Furcht als grossen politischen Antrieb. Der Fürst soll besser gefürchtet werden als geliebt, denn Furcht ist ein verlässlicheres Fundament für Institutionen.

Liberale Erfolge

Als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entstand, war die Sowjetunion eine Realität und die Landkarte Europas in Jalta geteilt worden. Doch in Westeuropa herrschte etwas vor, das wir eine constantianische Haltung nennen können. Grosse Staatsmänner glaubten, der Krieg lasse sich überwinden, wenn die Anreize richtig gesetzt würden. Der Vorrang moderner Politik, so nahmen sie an, sei materielles Wohlergehen und Wohlbefinden der Bürger. Aus Europa eine einheitliche Wirtschaft zu machen, war ihr unmittelbares Ziel.

Von einer einheitlichen europäischen Idee zu sprechen, ist schwierig, denn es gab stets mehrere Varianten. Die liberal-marktwirtschaftliche war vielleicht nie die populärste, kann jedoch die grössten Erfolge der EU für sich beanspruchen: den Binnenmarkt und die gemeinsame Währung. Beides sind komplexe politische Artefakte mit vielen Zutaten. Der Binnenmarkt wuchs nicht allein aus dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, sondern nährte im Laufe der Zeit eine immer hungrigere Bürokratie. Der Euro war nach einem ersten Jahrzehnt als paneuropäische Mark zunehmend von diskretionärer Notenbankpolitik geprägt, vielleicht im Widerspruch zu seinen Grundannahmen. Gleichwohl waren beide erfolgreich, nicht weil sie den Mitgliedstaaten auferlegten, etwas zu tun oder mehr zu tun, sondern weil sie implizit verlangten, aufzuhören damit, bestimmte Dinge zu tun.

Der Euro war der Versuch, Geld von politischer Einmischung zu befreien. Seine Architektur gründet auf der Idee, dass Geld unabhängig von erfahrenen Fachleuten verwaltet wird und nicht den Finanzbedürfnissen der Schatzämter dient. Man kann streiten, wie weit das gelang, doch das war das Grundprinzip. Der Binnenmarkt überstand viele Bedrohungen, vielleicht am sichtbarsten bei Covid-19. In einer Pandemie überrascht es nicht, wenn Staaten Barrieren errichten. Aber Europa entfernte innere Zollstellen, auch physische Barrieren, es schaffte Orte ab, an denen Waren beim Grenzübertritt angehalten, kontrolliert und besteuert wurden. Auch hier war das Ergebnis nicht perfekt, viele Barrieren bestehen fort, doch es war ein grosser Schritt.

Der constantianische Geist zeigte sich in der Betonung von Handel, Tausch und der Erweiterung von Chancen durch Fortschritt. Erinnern wir uns: Constant sah den Fehler der französischen Revolutionäre darin, dass sie die antike und die moderne Freiheit verwechselten. Zumindest teilweise wollten die Baumeister Europas diese Verwechslung vermeiden und taten, was sie konnten, um die moderne Variante antiker Freiheit zu überwinden: den Nationalismus, der Freiheit auf politische Unabhängigkeit reduziert.

Ihre Bemühungen waren nur mässig erfolgreich. Die meisten europäischen Nationen sind künstlich, kaum älter als ein Jahrhundert, gebaut durch Tilgung lokalerer Identitäten. Doch die deutsche Idee, eine Nation bilde sich über Sprache, war überall wirkmächtig, vielleicht mit der Ausnahme der glücklichen Schweizer Mehrsprachigkeit. Die europäischen Institutionen aber blieben im Grossen und Ganzen dem constantianischen Geist treu.

Ich verstehe gut, dass die EU in der Schweiz nicht übermässig populär ist, besonders unter denen, denen Freiheit hier am meisten bedeutet. Dennoch möchte ich die alte europäische Idee gegen die neue verteidigen. Diese alte europäische Idee, welche die Union zu dem machte, was sie heute ist, ging freilich mit einer paradoxen Wendung der constantianischen Sicht einher. Die Idee, Krieg durch Handel zu überwinden, öffnete die Tür zur Annahme, man könne auch die Aussenpolitik auf Handel aufbauen. Die EU meinte, das Verhalten anderer Staaten, auch ihre Geschäftspraktiken, beeinflussen zu können, weil sie die grösste Handelsmacht sei. Daher schuf sie Regulierungen und bisweilen Zölle, um andere Länder zur Übernahme eigener Standards zu bewegen. Unsere Standards seien überlegen, sicherer, ethischer; indem wir unsere Märkte für Produzenten schlössen, die sie nicht erfüllten, verbessere sich die Produktion weltweit. Eine Reihe europäischer Regelwerke passt in dieses Klischee, von der Chemikalienverordnung REACH bis zum CO2-Grenzausgleichsmechanismus.

Militarisierte Rhetorik

Nun jedoch ändern sich die Dinge. In der europäischen Öffentlichkeit dominiert zunehmend die Ansicht, die constantianische Vision sei überholt und man müsse in einen machiavellistischen Rahmen zurückkehren. Nachrichten aus aller Welt, angefangen mit dem, was in Gaza geschieht, bezeugen die Fehlbarkeit des Menschen. Besonders in gebildeten Schichten wächst eine neue Furcht vor der russischen Aussenpolitik, sie erzeugt Unsicherheit und den Drang zur Mobilisierung. Jüngste Beispiele wirken zugleich paradox und beunruhigend. In einem Schreiben an regionale Gesundheitsbehörden ersuchte das französische Gesundheitsministerium die Spitäler, sich bis März 2026 auf ein «grösseres militärisches Engagement» vorzubereiten. Und nachdem die Europäische Zentralbank über Jahre die Entmaterialisierung des Geldes gepredigt und uns zur Kartenzahlung angehalten hatte, hat sie im «Economic Bulletin» ein Loblied auf Bargeld veröffentlicht. Dieses sei «ein wesentlicher Bestandteil nationaler Krisenvorsorge». Sollte der Krieg uns erreichen und elektronische Zahlungssysteme zusammenbrechen, sollten Haushalte Banknoten vorrätig halten.

Wie gesagt: Politische Ideen sind nicht nur als Programme bedeutsam, sondern auch als Rahmen, sie können eine politische Einheit in diese oder jene Richtung lenken. Der machiavellistische Blick zeigt sich klar in der jüngsten Rede von Ursula von der Leyen zur Lage der Union. Sie sprach kaum über Themen, für die sie zuständig ist, aber ausführlich über Verteidigung und Krieg, die in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen. Das zeigt, wie stark sich die Rhetorik der EU militarisiert hat.

In einem Vortrag forderte der frühere EZB-Präsident Mario Draghi jüngst «Veränderungen» in Europa von der Grössenordnung des Binnenmarkts oder der gemeinsamen Währung. Ein solcher Vergleich überzeugt nicht. Bei diesen Schritten mussten die Mitgliedstaaten, wie wir gesehen haben, aufhören, etwas zu tun. Aus Europa einen Nationalstaat zu machen, wie dies von der Leyen und Draghi anstreben, erfordert einen ganz anderen Kurs. Barrieren abzubauen, damit ein grösserer Markt gedeihen kann, ist mit der constantianischen Vision vereinbar. Aus einer Konföderation einen Einheitsstaat zu formen, erfordert, ihr eine künstliche Ordnung überzustülpen – das ist die machiavellistische Idee.

Der Siegeszug des Machiavellismus über den Constantianismus zeigt sich nirgends deutlicher als im Umgang der EU mit Russland. In den zwanzig Jahren vor dem Ukrainekrieg war der europäische modus operandi durch und durch constantianisch, Frau Merkel und Herr Berlusconi unterschieden sich in vielem, teilten jedoch die Idee, dass man die Russen an den Tisch bringen müsse und der Schlüssel dazu der Handel sei. Heute vergeht kaum ein Tag ohne scharfe Worte europäischer Politiker gegen Russland.

Was immer man über den Krieg denkt: Will Europa an seinem Ende Anteil haben, so bleiben zwei Wege. Entweder werden wir Kriegspartei, kämpfen mit Bodentruppen und versuchen, Moskau zu schlagen, oder wir beteiligen uns an einem Friedensprozess, wofür es Hebel braucht. In der EU herrscht weitgehend Einigkeit darin, Handelsrouten mit Russland zu schliessen, und zwar dauerhaft. Niemand erwägt, dass die Wiederherstellung des Handels ein Mittel zur Beendigung des Krieges sein könnte.

Die Vorherrschaft des machiavellistischen Denkens signalisiert, welchen neuen Ansatz man für die europäische Einigung wählt. Sie soll nun dank eines gemeinsamen Feindes – Russland – gelingen, und weil der alte Verbündete der Europäer, die Vereinigten Staaten, weniger verlässlich sei als früher. Diese Umstände nähren Hoffnungen auf neue, massive öffentliche Ausgaben, um Europa «aufzurüsten». Bisher passiert das auf Ebene der Nationalstaaten, und es ist zweifelhaft, dass die EU diese Aufgabe bald übernehmen könnte. Gleichwohl wird die Aufrüstung als erster Schritt zu einer europäischen Armee präsentiert.

Die machiavellistische und die constantianische Sicht werden eher in Schichten der Redenden und Regierenden geteilt als vom Volk. Es ist daher schwer abzuschätzen, inwiefern der durchschnittliche Bürger tatsächlich befürchtet, russische Panzer könnten bald auf den Champs-Élysées auffahren. Ein europäisches «Aufrüsten» erfordert Technologien (die bislang aus den USA kommen), und sie braucht Menschen – europäische Menschen. Ein Teil der Entwicklung europäischer Staaten bestand in der Rekrutierung breiter Schichten junger Menschen. Sind wir sicher, dass die europäische Jugend bereit ist, nicht nur für Gaza oder Kiew zu demonstrieren, sondern auch mit einer Waffe in der Hand ihr Leben aufs Spiel zu setzen?

Wenn nicht, bleibt die naheliegende Alternative, ein Söldnerheer anzuwerben. Das könnte der Deal zwischen Europa und der Ukraine sein, die rasch und überzeugend eine effiziente Armee aufgebaut hat. Die Union öffnet der Ukraine die Arme und gibt ihr Geld, im Gegenzug sichern die Ukrainer die Ostgrenze.

Die Schweiz sollte wachsam bleiben

Ich bin skeptisch, ob Russland tatsächlich eine Bedrohung für Europa ist. Der Machiavellismus sieht das anders. Und es gibt viele, durchaus verständliche Gründe, warum er heute über den Constantianismus siegt.

Obwohl die Globalisierung Milliarden von Menschen aus der Armut geführt hat, gilt sie seit der Finanzkrise als gescheitert. Migration hat das Gefühl der Gleichartigkeit erschüttert, das den Bürgersinn einst nährte. Nicht die Zahl der Einwanderer zählt, sondern die Geschwindigkeit des Wandels, der Schock der Multikulturalität. Covid-19 hat Spuren in der Politik hinterlassen, die Polarisierung verstärkt und alte Schemata von links und rechts aufgelöst. Last but not least markiert Donald Trumps Rückkehr ins Weisse Haus eine Phase, in der die Sprache der Politik durch und durch machiavellistisch wird. Ältere Werte internationaler Kooperation, Frieden und Brüderlichkeit weichen einer Rhetorik von «mors tua, vita mea».

Ich verwende bewusst den Begriff «Rhetorik», denn ich glaube, die Praxis ist stets komplexer. Die constantianische Sicht war, wie wir gesehen haben, auch ein Produkt von Krisenzeiten. Aber sie hallte stark wider im lokalen und internationalen Handel und entwickelte robuste Ketten von Kooperation und gegenseitigem Interesse, die schwerer zu zerschlagen sind, als Politiker meinen. Die Europäische Union jedoch, einst Bollwerk einer Weltsicht, die sich von der machiavellistischen abhob, tritt in ihre machiavellistische Phase.

Wird das funktionieren? Schwer zu sagen. Ich vermute, vielleicht hoffe ich, nein. Das dominierende Merkmal der europäischen Führung ist heute ein Drang zur Mobilisierung, genährt von dem Gefühl überwältigender äusserer Feindseligkeit und dem Wunsch, eine Ordnung aufzupfropfen, die es nicht gibt. Dabei übersieht man die Erfolge unserer constantianischen Vergangenheit und ist begierig, sie über den Haufen zu werfen. Die Kommission unter von der Leyen war die interventionistischste, an die wir uns erinnern, hat aber wenig getan, um Vertragsverletzungen gegen den Binnenmarkt zu ahnden. Europa ist unzufrieden mit sich selbst und will etwas anderes sein. Wir mögen uns noch als Athener stilisieren, doch unsere Werte dienen als Vorwand für kriegerische Sitten.

Wie wird sich das in unserem Verhältnis zur Schweiz spiegeln? Ich weiss es nicht, doch mein Eindruck ist, dass proeuropäische Schweizer ihre Sicht auf die EU revidieren werden. Die Faszination für die Union war verständlich, solange diese ein grosser, friedlicher Handelsblock war. Nun will sie etwas anderes werden.

Wachsamkeit, nicht Euphorie, scheint heute die klügere Haltung. Wenn dieser Rat machiavellistisch klingt, ist das vielleicht ganz passend.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Lukas Leuzinger.

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