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Appetizer für den Text

Der Fotograf Andri Pol

Appetizer für den Text

Fotografieren wie die Profis. Dank vollautomatischer Digitalkamera. Mit High-Definition-Optik für High-Definition-Fotos, einem Super-Weitwinkel-Objektiv mit 5-fach Zoom, einem optischen Bildstabilisator, intelligenter ISO-Kontrolle sowie automatischer Auswahl des Motivprogramms. Und schwindelerregend vielen Megapixeln. Dutzende von Bildern pro Sekunde. Das Gehäuse in Schwarz, Silbern oder Sweetpink. Manche Kameras werben sogar damit, Gesichter wiederzuerkennen und vorteilhaft ausleuchten zu können. Selbstverständlich vollautomatisch. Anschalten, draufhalten, auf den Auslöser drücken. Fertig ist das Foto. Eigentlich fehlt nur noch die Automatikeinstellung «künstlerisch wertvoll».

Andri Pol ist Fotograf. Ein erfolgreicher, dessen Fotos in Monographien publiziert werden und den viele Magazine für eine Bildstrecke anheuern. Er müsste doch eigentlich ein Künstler sein. Nein, sei er nicht, sagt er. Er sei nichts weiter als ein Fotojournalist. Und mache nichts Besonderes. Auch interpretiere er nicht, wenn man davon absehe, dass ein Foto an sich als Interpretation verstanden werden könne. Daher soll er auch auf diesen Seiten nicht interpretiert werden. So wie er anderen mit seiner Kamera gegenübertritt, bekommt er stattdessen das Mikrophon eines digitalen Aufnahmegeräts vorgehalten. Ein Wort-Ausschnitt von Andri Pol, Appetizer für seine Bilder in dieser Ausgabe:

«Fotografieren ist wie eine grosse Expedition. Ich mache den Job, um meine Neugier zu stillen. Weil mich alles interessiert, was ich nicht kenne, was nicht meine Welt ist. Die Fotografie ist ein Vorwand, ein Mittel zum Zweck. Meine eigene Welt, auch meine Familie, fotografiere ich nur selten.

Ich interpretiere nicht, was ich sehe. Schon klar, es ist alles immer aus meiner Sicht aufgenommen. Aber die Basis ist immer das, was mir angeboten wird. Bevor ich beginne, stelle ich mir die Frage: Wer sind die Leute? Was machen sie? Und warum machen sie es? Beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, entsteht ein Bild. Ich entscheide über den Ausschnitt, den möglicherweise kein anderer Fotograf so wählen würde. Und dieser Ausschnit formuliert sich aus dem Inhalt, aus dem, was ich sehe und was mir die Leute so erzählen.

Ich will beim Fotografieren aus dem, was ich vorfinde, nichts Eigenes machen. Ich betrachte meine Motive nicht als Rohmaterial, das ich noch inszenieren und dem ich einen künstlerischen Mehrwert hinzufügen müsste.

Nehmen wir etwa dieses Bild hier1. Die Landsgemeinde in Appenzell. Ein Ereignis, das schon sehr oft abgebildet wurde. Ich will nicht ein weiteres hübsches Bild produzieren, davon gibt es zigtausende. Mir sticht bei der Landsgemeinde ins Auge, dass der Kanton mit sich selbst beschäftigt ist, dass es hier noch ein Stimmrecht per Handheben gibt und bis vor kurzem die Frauen noch nicht abstimmen durften. Und doch liegt Appenzell gleichzeitig mitten in Europa. Ich habe mich gefragt, wie ich diese Relation, diesen Kontrast in ein Bild bringen kann. Und da habe ich diesen Raum gefunden, in dem die Europafahne, die sonst draussen hängt, reingenommen worden war. Damit sie nicht stört. Die Fahne liegt jetzt vor dem Fenster auf dem Boden, und zum Fenster hinaus sieht man die Versammlung der Landsgemeinde. Gestellt habe ich dabei nichts.

Unterschiedliche Welten, die scheinbar nebenbei und wie selbstverständlich aufeinandertreffen. Das ist in vielen Bildern mein Thema. Dabei fotografiere ich immer aus dem Moment heraus. Abgesehen von Porträts. Aber auch hier habe ich nur wenig Ausrüstung dabei. Meine Kamera, manchmal Blitzgeräte. Alles andere lenkt nur ab. Stört mich und mein Vis-à-vis. Am liebsten ist mir, wenn auch ich vergessen werde, wenn ich für die anderen nicht mehr präsent bin. Das ist sehr wichtig. Ich bin für die Leute da, nicht die Leute für mich.

Meine Vorbereitung ist keine technische oder logistische, sondern eine inhaltliche. Ich möchte wissen, was mich erwartet. Ich möchte Präzision. Ich gehe nicht irgendwohin, lasse alles auf mich einwirken und schau dann mal, was es so zu fotografieren gibt. Ich recherchiere daher zuvor, wie es an dem Ort aussieht und was die Leute dort tun. Auf diese Weise gewinne ich ein Bild, bevor ich zu fotografieren beginne. Das ist der Unterschied zwischen einem Laien und einem professionellen Fotografen. Sicher, es gibt das Glück, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Doch ich kann das Glück auch durch das beeinflussen, was ich weiss und was ich suche.

Wenn ich an dem Ort bin, wo ich fotografieren möchte, dann muss ich mich gehen lassen. Ich kann ja nicht davon ausgehen, dass es so sein wird, wie ich es gelesen habe. Meine vorangehende Recherche ist das Fundament, das zusammen mit den Eindrücken des Ortes dann ein Gefüge ergibt, in dem die Bilder entstehen können.

Ich sehe mich als Fotojournalisten, nicht als Künstler. Ich bin ein Dienstleister. Wenn ich für eine Zeitschrift fotografiere, dann ist mein Auftrag, den Lesern den Einstieg in den Text zu ermöglichen. Ob etwas gelesen wird oder nicht, hängt ja entscheidend von der optischen Einladung ab. Wenn die spannend ist, dann hat man Appetit auf den Text. Wenn sie öde oder klischiert ist, dann lässt man das Lesen lieber bleiben. Man könnte daher auch sagen, meine Bilder sind Appetizer für den Text.»

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