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Meine Grossmutter, die Angst und ich

Wie das Leben besser wurde – und warum es trotzdem fragil bleibt. Eine kleine Geschichte zum Fortschritt.

Meine Grossmutter, die Angst und ich
Arbeitsalltag im Emmental, ca. 1950. Quelle: Staatsarchiv des Kantons Bern

Die Armen spinnen wie die sehr Reichen die Fäden ihres Lebens fremden Adressen entlang.

Als meine Grossmutter 23 Jahre alt war, tat sie das Ehrgeizigste, was ihr möglich war: Sie zog nach Nyon und heuerte als Hausmädchen bei einer wohlhabenden Familie an. Davor hatte sie im Zürcher Oberland Brot ausgetragen und Kaffee verkauft. Jetzt wollte sie Französisch lernen. «Ich war so wissensdurstig», sagte sie mir viele Jahrzehnte später. «Eine Lehre machte man damals nicht als Mädchen. Also beschloss ich, wenigstens Sprachen zu lernen. Ich wollte in die Welt!» Nach einigen Monaten in Nyon war meine Grossmutter fast am Ziel. Sie hatte sich die Anschrift einer Familie in Paris beschafft, und bald würde sie fahren. Bald.

Es sollte anders kommen.

Das war im Jahr 1947. Die Menschen in der Schweiz arbeiteten durchschnittlich 47 Stunden in der Woche, Mägde und Knechte noch deutlich mehr. Alter oder Witwenschaft bedeutete für die meisten Menschen Armut – erst in jenem Sommer beschlossen die Bürger die Gründung der AHV. Zu der Frage äussern durften sich nur die Männer. Es sollte noch über 20 Jahre dauern, bis Schweizer Frauen das Stimmrecht bekamen. 

«In einer Ehe muss man einander sagen, was einen stört», sagte mir meine Grossmutter einst. «Man muss alles sagen. Aber freundlich.» Sie fragte mich nie, ob und wann ich heiraten würde. Sie fragte mich nie, warum es gerade diese Kleidung sein müsse, jenes Essen, die Raucherei. «Geht es dir gut in der Stadt?», fragte sie, ihre Hand auf meinem Arm. 

An der Hintertür der Nyoner Herrschaftsvilla lieferte der Metzger jede Woche den Rindsbraten für das Sonntagsessen an. Er war ein kräftiger Mann mit seegrünen Augen. Meine Grossmutter mochte ihn. Sie wurde schwanger, den Zettel mit der Pariser Adresse in ihrer Kammer versteckt. Und zog statt nach Paris auf einen Hof im Emmental.

Fortan half sie der Schwiegermutter, wusch im Brunnen vor dem Haus und lernte als neue Sprache den alten Dialekt der Einheimischen. Sie gebar sechs Kinder, drei Mädchen und drei Jungen. Die teilten sich je ein Bett, und im Winter starrten sie die Eisblumen am Fenster an.

Als ich 23 Jahre alt war, fühlte ich mich jeden Morgen fremd. Ich studierte, als erste in der Familie, als einzige aus meiner früheren Primarschulklasse. Es fühlte sich unpassend an. Militärisch. Eng. Ich war ein Kind der Felder und Wiesen. Ich hatte neben der Schule gearbeitet wie alle, die ich kannte: Kartoffelernte, Marktstände, Fabrik. Ich hatte Angst. Und ich begriff, dass diese Angst stets das Urproblem von uns Menschen sein würde; Unfreiheit nur die Folge davon. Ich litt an der Uni, aber ich schrieb gute Noten.

Das war im Jahr 2003. Die Schweiz war gerade dabei zu wachsen. Jedes Jahr 2 Prozent mehr Output, jedes Jahr 1 Prozent mehr Einwohner. Die gesamte Wirtschaftsleistung pro Kopf hatte sich seit dem Nyoner Jahr meiner Grossmutter fast verdreifacht. Man arbeitete durchschnittlich noch 41 Stunden in der Woche, und die AHV zahlte seit langem nicht nur Grundrenten, sondern in Härtefällen auch Ergänzungsleistungen. Fast die Hälfte aller Studierenden an den Hochschulen waren Frauen.

Auf den Gängen der Uni stolperte ich in eine andere junge Frau. M. litt wie ich, kämpfte wie ich und bockte wie ich. Wie ich stammte sie ausserdem aus dem Emmental. Wir taten uns zusammen und hielten durch bis zur Abschlussfeier. Aber es sollte bei beiden noch einige Jahre dauern, bis wir die Furcht verloren. 

«Werde etwas demütiger; das ist die Hauptsache, die dir fehlt», schreibt Jeremias Gotthelf. 

Fortschritt verläuft nicht geradlinig. Menschen bewegen sich in Schlaufen ans Licht, und die Gesellschaft in Spiralen. Prognosen sind schwierig. Ein paar Erkenntnisse aber gibt es, was ein Land aufblühen lässt. Zuallererst funktionierende Institutionen, also gut kontrollierte Macht. Ein Rechtsstaat. Respekt, Widerstandsgeist, Ausgleich. Neugierige, freie Unternehmer. Gute Löhne für gute Arbeit. Kurz: ein System, das den Menschen vertraut. Und natürlich Glück – das unsichtbare Glück, von Katastrophen verschont zu bleiben.

Am Anfang allen Wachstums steht ein Entscheid. Jener gegen die Angst. Und gegen alle, die die Angst lieben, sie schüren und nähren und von ihr leben – auf dass die Menschen nie frei sein würden. 

«Geh hinaus», schreibt Maya Angelou, «und pack die Welt am Kragen.»



Olivia Kühni ist Redakteurin dieser Zeitschrift.


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