(1) Die Verletzlichkeit postheroischer Gesellschaften
Heroische Gesellschaften werden im Innern durch Ehre und Opfer zusammengehalten. Sie sind bei gewaltsamen Auseinandersetzungen erfahrungsgemäss erfolgreicher und robuster als postheroische, die sich durch Recht, Tausch, Streben nach Wohlstand und Friedfertigkeit auszeichnen. Darin besteht eine fundamentale Bedrohung friedlicher Zivilgesellschaften.
Postheroische Gesellschaften erkennt man am Verschwinden des Kämpfers, der sich durch hohe Opferbereitschaft Ehre erwirbt. Kein Zweifel, Amerikaner und Europäer, eingeschlossen die Schweizer, gehören zu den postheroischen Gesellschaften. Ihre Hochachtung gilt dem Händler, nicht dem Helden, so eine Unterscheidung Werner Sombarts. Postheroische Gesellschaften haben den zwischenstaatlichen Krieg zum Zweck der Streiterledigung überwunden, patriotische Opfer- und Leidensfähigkeit sind erodiert und halten sich nur mehr in Sonntagsreden und Ritualen. Ihre Soldaten sind Friedenssoldaten in humanitärer Mission, sie kämpfen, wenn sie denn kämpfen, ohne eigene Verluste. Ihre Regierungen beteuern immer wieder, das Leben der eigenen Soldaten niemals gefährden zu wollen. Ihre Tummelfelder sind Friedenssicherung und der asymmetrische Krieg aus der Position der Stärke. Der satellitengelenkte Marschflugkörper, die Rakete ab Unterseeboot, das Bombardement aus grosser Höhe sind ihre Werkzeuge. Die Chancen zu töten und zu sterben sind völlig ungleichmässig verteilt. Waffentechnische Überlegenheit ersetzt die Todesbereitschaft. Ehemals typisch militärische Aufgaben werden ausgelagert. Private, in rechtsfreien Räumen wirkende Militärfirmen, Söldner, greencard- soldiers (Ausländer, die nach einigen Jahren Militärdienst die Staatsbürgerschaft erwerben können), Freiwillige aller Art ersetzen den Bürgersoldaten. Freikauf-Mentalität: man zahlt und lässt andere schiessen. Die persönliche Waffe im Schrank des freien und mündigen Bürgers wird zum Schreckgespenst.
Zwei Erfahrungen führten uns auf diese postheroische Stufe: die ungeheuerlichen Opfer des Massenheroismus im ersten Weltkrieg und der Missbrauch der Begriffe «Ehre» und «Opfer», den totalitäre Regime im zweiten Weltkrieg getrieben haben. Dazu kommt die demographische Entwicklung. Ein- Kind-Familien haben ein ganz anderes Verhältnis zum Verlust von Söhnen im Dienste des Vaterlandes als Familien mit sechs und mehr Kindern und hoher Kindersterblichkeit.
Selbstzerstörung und Entheroisierung im Gefolge der beiden Weltkriege wirken nachhaltig. Wir sind glücklich darüber, den Frieden über alles zu stellen, das Menschenleben als höchstes Gut zu betrachten und den Wohlstand in globalisierter Offenheit anzustreben. Wir haben einen gewaltigen Lernprozess hinter uns. Ein Zurück kommt nicht in Frage. Der beste Fall, die Ausdehnung des europäischen Friedenswillens auf die ganze Welt, ist nicht eingetreten. Die wahrscheinlichsten Szenarien möglicher Entwicklung enthalten alle eine Fülle von Rivalitäten, Machtkämpfen, bewaffneten Konflikten und Kriegen. Ein besonders schlimmer Fall ist das Auftreten eines Feindes, der die technische Überlegenheit unterläuft und die friedvollen, das Leben liebenden Gesellschaften des Westens überwältigt. Die bange Frage lautet: Können postheroische Gesellschaften den Zusammenprall mit heroischen Gruppen überleben? Ist der neue Terrorismus Indiz für einen beginnenden worst case?
War einst der Partisan der typische Vertreter der asymmetrischen Schwäche, ist es heute der Terrorist, besonders der Selbstmordattentäter. Partisanenkrieg war defensiv, Terrorkrieg ist offensiv. Er findet auf dem Territorium des Feindes statt. Er braucht die Unterstützung der Bevölkerung nicht. Er nutzt die komplexe und leicht verwundbare Infrastruktur des Feindes und führt einen eigentlichen Verwüstungskrieg. Der neue Terrorismus zielt nicht auf Einzelpersonen, Politiker, Wirtschaftsführer und Ordnungskräfte, sondern auf die öffentliche Meinung, auf die psychische Struktur der Gesellschaft. Symbolträchtige Gebäude, Vorortszüge, Ferienhotels, Autobusse: die Zufälligkeit der Opferauswahl soll mit Hilfe sensationsbesessener Medien weltweit Angst und Schrecken (eben «Terror») verbreiten, Unsicherheit stiften, Zukunftsvertrauen zerstören, ermüden und zermürben. Nicht der Ermordete ist das Ziel, sondern der Überlebende, jeder von uns. Es zeugt von Unkenntnis des modernen Terrors, wenn behauptet wird, die Schweizer seien kein Angriffsziel. Auch unser Selbstvertrauen, unser Sicherheitsgefühl, unsere Psyche, ja sogar unser Wertschriftenportefeuille ist im Visier, wenn im Ausland Anschläge verübt werden. Das Internet ist heute das beliebteste Mittel für Rekrutierung, Führung und Ausbildung von Terroristen.
Der asymmetrisch Schwache, der Terrorist, hat ein ganz anderes Verhältnis zu Zeit und Raum als der Gegner. Dieser sucht ein definiertes Territorium zu beherrschen (Afghanistan, Irak, Libanon) und ist in Eile. Die Kosten seiner Kriegführung sind enorm, die Geduld der eigenen Bevölkerung ist beschränkt, ohne rasche Siege schwindet die Legitimität politischer und militärischer Führer schnell. Der asymmetrisch kämpfende Schwache kennt kein definiertes Territorium. Er ist als Netzwerk allpräsent. Er sitzt nicht mehr in Afghanistan, sondern in Pakistan, in den Hauptstädten der westlichen Welt, im islamischen Krisenbogen von Marokko bis Indonesien. Er hat Zeit und braucht wenig Geld, führt Nadelstiche und weicht jeder Entscheidung aus. Beschleunigung und Verlangsamung von Abläufen zeigen an, auf welcher Seite Vorteil und Nachteil liegen und wohin die Entscheidung neigt. Diese Kriege enden nicht mit Kompromissen und Friedensverträgen. Streitkräfte müssen die harte Lektion lernen, dass sie als technisch in jeder Hinsicht überlegene Partei alle Gefechte gewinnen und den Krieg trotzdem verlieren können. Es kommt, wie man spätestens seit Vietnam weiss, nicht auf taktische und operative Erfolge an, sondern darauf, dass man die strategischen Ziele erreicht.
Zum worst case kann die Terrorbedrohung parallel mit der raschen Entwicklung der Raketentechnik und dem langsamen Ende des Nuklearwaffensperrvertrags (NPT) werden. Strategische Vorsorge verlangt jetzt das Nachdenken über die Zeit nach dem NPT-Regime. Wir sind auf dem Weg in eine multipolare Welt-Unordnung mit zahlreichen grossen, kleinen und kleinsten Besitzern von Massenvernichtungswaffen. Das während Jahrzehnten stabile Nukleargebäude der fünf Atommächte und Sicherheitsratsmitglieder zerfällt. Nordkorea, Iran, Israel, Indien, Pakistan stehen im Zentrum des Interesses. Die Liste der Anwärter auf eigene Atomwaffen ist lang. Darunter befinden sich auch Schurkenstaaten, nichtstaatliche Akteure und Terrororganisationen. Gegenseitige Abschreckung durch mögliche Zweitschläge, die Stabilitätsgarantie des bipolar symmetrischen kalten Krieges, wird hinfällig. Die strategischen Vordenker fangen erst an, sich mit dieser neuen Welt zu befassen; Politik und Diplomatie bleiben weit zurück, und auch die Militärs beschäftigen sich eher mit Problemen diesseits des Kugelfangs. Wir brauchen neue regionale Überwachungssysteme, Raketenabwehr, Vorbereitungen für die Evakuation urbaner Ballungszentren, ein dichtes, gut ausgerüstetes Netz zur Strahlenmessung, Schutzräume (hat nicht die Schweiz eben erst auf weitere obligatorische Schutzbauten verzichtet?), gut ausgebildete Zivilschutzverbände, vorbereitete Sanitätsdienste, eine neue Rüstungskontrolle, und vor allem brauchen wir Respekt vor diesem neuen Bedrohungsbild – und Sachverstand. Wir brauchen keinen Alarmismus und keine künstliche Angstpsychose, sondern nüchterne Aufklärung und viel praktische Übung im Einsatz aller staatlichen Mittel zur Vorsorge und Nachsorge, und materielle Bereitschaft.
Eine sichere Raketenabwehr gibt es noch nicht. Nach jahrelanger, teurer Forschung und Entwicklung musste kürzlich ein Pentagonmitarbeiter feststellen: «Gegen Raketen kann man einfach nicht viel tun, ausser die Abschussgegend zu kontrollieren oder in den Bunker zu gehen.» Der Libanonkrieg war auch ein Raketenkrieg. Die unpräzisen Kurzstreckenraketen des Hisbollah wurden zu Unrecht belächelt. Sie erfüllten exakt ihren Zweck. Nicht Punktziele sollten getroffen werden, sondern zufällig anwesende unbeteiligte Zivilpersonen. Die psychische Verfassung Israels wurde getroffen und – über die bewusst gesteuerten Medien – die ganze Welt. Europa muss aufwachen. Nordkorea ist weit weg, aber die iranische Rakete steht vor der Haustür. Der Handel mit Raketentechnik ist strikte zu unterbinden. Der Dialog der Völkerrechtler bleibt hinter der Entwicklung zurück. Das Raketenarsenal (Luft-Luft, Luft-Boden, Boden-Luft, Boden-Boden, mobil auf Lastwagen und Schiffen, Lang-, Mittel-, Kurzstreckenraketen, Gefechtsköpfe mit konventioneller Ladung oder mit Massenvernichtungswaffen, Mehrfachsprengköpfe, ferngesteuerte Raketen, Hochgeschwindigkeitsdrohnen und vieles mehr) ist gross und vielfältig und so weit verbreitet, dass die Streitkräfte gut daran tun, ihre Doktrin, Organisation und Ausrüstung anzupassen. Militärflugplätze und Logistikzentren sind Raketenziele, noch mehr gefährdet ist die Zivilbevölkerung.
Es gibt im Umgang mit schlimmstmöglichen Fällen keinen Grund zur Verzweiflung. Die aktuellen strategischen worst cases sind immer noch harmloser, als was wir hinter uns haben. In einem umfassenden Nuklearkrieg zwischen Nato und Warschauer Pakt wären innerhalb von 24 Stunden 160 bis 180 Millionen Menschen umgekommen (die Zahlen stammen von Zbigniew Brzezinski, der damals an der Quelle stand). Die Chance, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, ist verschwindend klein. Hauptgefahr ist der Verlust des Zukunftsglaubens, der Selbstgewissheit, der Freude an der Mitgestaltung. Strategische Überlegungen zum worst case sind keine Prognosen, sondern Denkhilfen für die Vorsorge.
Auch postheroische Gesellschaften brauchen einen Grundbestand an heroischen Werten. Ohne Opferbereitschaft, ohne Helden überleben auch solche Systeme nicht, die gewohnt sind, Dienstleistungen mit Geld zu kaufen. Der Milizsoldat schweizerischer Prägung ist neben Polizei, Feuerwehr und Zivilschutz Träger dieser Idee. Man trage Sorge zu ihm. Nicht der Sold ist sein Lohn, sondern die Anerkennung und Aufmerksamkeit. Mit der Wehrhaftigkeit verlören wir die Überlebensfähigkeit als Kleinstaat. Der Anschluss an Grosse, an Bündnisse, an anonyme Grossorganisationen ist zu jeder Zeit verlockend, aber falsch. Man glaubt, Freiheit gegen Sicherheit einzutauschen, wird aber hineingezogen in die Abenteuer anderer. Die Nato in Afghanistan, die EU im Kongo, die Uno im Sudan: wer hinter die Kulissen blickt, sieht Abgründe. Der Wahn, überall auch einige nichtkämpfende Schweizer Soldaten mitzuschicken, führt nicht zu mehr Ansehen, sondern zu Geringschätzung.
Mit den neuen Kriegsbildern fordert die radikal veränderte strategische Lage auch ein neues Soldatenbild. Die Anzeichen häufen sich, dass wieder mehr «echte Soldaten» (Ehud Olmert) und «real soldiers» (Condoleezza Rice) gefordert werden. Der miles protector muss ersetzt werden durch den miles pugnator, den Kämpfer. Auch der zivile Bürger muss umstellen. Er muss wissen, dass er Angriffsziel von Anschlägen ist, selten physisch, immer psychisch. Er muss sich eine grosse Gelassenheit aneignen; eine «heroische Gelassenheit», wie sie im Anschluss an die Londoner Anschläge genannt wurde. Anschläge lohnen sich nicht, wenn die Bürger ruhig und gelassen reagieren, wenn die Wirtschaft sich nicht ins Bockshorn jagen lässt und die Medien Mass halten. Die physischen Schäden lassen sich durch kluge Vorsorge vermindern, durch bauliche Massnahmen, Bewachung, Dezentralisierung, Redundanz, Delegation von Verantwortung. Gutgeführte Unternehmen, Organisationen und Verwaltungen sind auf Anschläge vorbereitet.
Wir brauchen Gelassenheit, Entschlossenheit, Spezialkräfte mit adäquater Ausrüstung auf hohem Trainingsstand, und Verantwortungsträger im Bund, in den Kantonen und Gemeinden, die ihre Aufgaben und Kompetenzen im Verbund kennen. Die Gefahr von Raketenkriegen und Massenvernichtungswaffen ist zu durchdenken, in Übungen durchzuspielen, den Verantwortungsträgern und den Bürgern in aller Nüchternheit darzustellen und dann anzupacken. Dem Kleinstaat ist derzeit nur der passive Schutz möglich. Fehlt dieser, wird das Vertrauen schon beim ersten Zwischenfall erschüttert. Die eingangs gestellte Frage nach der Überlebensfähigkeit postheroischer Gesellschaften im Zusammenprall mit heroischen Gruppen lässt sich beantworten: ja, sie werden überleben – wenn sie fähig sind zu Opfern, wenn sie gelassen und entschlossen bleiben, wenn sie sich vorsehen und vorbereiten, wenn sie den Willen zu Selbstbehauptung, Freiheit und Unabhängigkeit nicht verlieren.
Literaturhinweise:
Herfried Münkler, «Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie». Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2006.
Stephen Peter Rosen, «After Proliferation. What to Do If More States Go Nuclear». New York: Foreign Affairs, Sept./Oct. 2006, S. 9 ff.
Niall Ferguson, «The War of the World. History’s Age of Hatred». London: Allen Lane, 2006.
Michael Stürmer, «Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben?» Hamburg: Murmann, 2006.
Edward Luttwak, «Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden». Lüneburg: Dietrich zu Klampen, 2003.