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Franz Böni, illustriert von Pipin Pabisangan.

Zu Lebzeiten verschwunden

Über das Leben des Schweizer Autors Franz Böni ist fast nichts bekannt – nicht einmal, ob er in diesem Juni seinen 70. Geburtstag feierte. Sein Werk verbindet Modernität und Anachronismus, Weltläufigkeit und Ortsgebundenheit.

 

Es ist nicht meine Aufgabe, mich mit Journalisten zu treffen und wertvolle Stunden zu verlieren.» – «Als freier Künstler zu leben, heisst, Ausgestossener, von der Gesellschaft Ausgespuckter zu sein, ein Aussätziger, ein Geächteter.» – «Zielpublikum? Ich schreibe für die Arbeiter, aber die lesen keine Bücher.» – «Man kann keine Bücher schreiben, wenn man an die denkt, die sie falsch verstehen.» Diese Selbstauskünfte von Franz Böni, die der Publizist Fredi Lerch 1988 für die «Wochenzeitung» zusammengetragen hat, könnten das Missverständnis befördern, Böni gehöre neben Thomas Bernhard und Franz Kafka zu den grossen Solitären der Moderne: schroff gegen Bewunderer wie gegen Verächter, nur seiner eigenen Sache verpflichtet, kompromisslos und einsam den Zeitläuften trotzend. Doch Böni ist nicht nur ein weiteres Exempel für die einsamen Schriftsteller der Moderne. Vielmehr verbindet er in seinen Werken Modernität und Anachronismus, Weltläufigkeit und Ortsgebundenheit in einer Weise, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur singulär ist.

 

«Böni behauptet gar nicht, im Namen der Ausgestossenen und
Geächteten zu schreiben, sondern er diagnostiziert, dass derjenige,
der schreibt, ohne daraus einen Beruf zu machen, als Ausgestossener
und Geächteter leben muss.»

 

Dabei zeigen die Zitate, dass die Dinge schwieriger liegen: Böni behauptet gar nicht, im Namen der Ausgestossenen und Geächteten zu schreiben, sondern er diagnostiziert, dass derjenige, der schreibt, ohne daraus einen Beruf zu machen, als Ausgestossener und Geächteter leben muss. Den Journalisten verweigert er sich nicht, weil er sich über ihrem Niveau wähnt, sondern weil er durch sie für sein Schreiben «wertvolle Stunden» verlieren würde. Dass er für «die Arbeiter» schreibt, bringt keine altbackene Klassensolidarität zum Ausdruck – die Arbeiter «lesen keine Bücher» –, sondern es formuliert eine genuin moderne Aporie, einen ungelösten Widerspruch: Der moderne Autor wendet sich an eine Allgemeinheit, die ihm selber fern ist und die er gerade deshalb adressiert, die aber, wegen dieser Ferne, die Hinwendung des Schriftstellers nicht bemerkt. Der Faden zwischen Autor und Adressat ist gerissen, die Kommunikation grundlegend gestört. Weder von Heroismus noch von Geniepathos zeugen Bönis Selbstauskünfte, sondern von einer profanen, unheroischen Verlorenheit.

Weil diese Verlorenheit zur Lebenswirklichkeit des Schriftstellers gehört, wird dieser seinem abwesend-gegenwärtigen Publikum am ehesten gerecht, wenn er beim Schreiben nicht daran denkt, ob er verstanden wird. Böni hat sich an diese Maxime gehalten, indem er ihr in Treue zuwiderhandelt. Obwohl er sich bei Lesungen unwohl fühlt, ist er immer wieder öffentlich aufgetreten; obwohl er ungern mit Journalisten spricht, hat er ihnen Interviews gegeben. Und obwohl er sich als «Ausgespuckter» sieht, hat er Teile seines Nachlasses zu Lebzeiten dem Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach überantwortet: nicht weil er sich für einen Grossschriftsteller hielte, der sein Werk für die Nachwelt sichern muss, sondern damit es nicht mit ihm zusammen verschwindet. Zu schreiben bedeutet, Spuren zu hinterlassen, selbst wenn kein Lebender weiss, wer sie entziffern wird.

Dank Autorenangaben in Klappentexten, dem Munzinger Biographischen Archiv und Literaturlexika sind einige lebensgeschichtliche Daten über Böni bekannt, die bei einer solchen Spurensuche helfen: Am 17. Juni 1952 in Winterthur geboren, zog er als junger Mann nach Zürich, wo er Mitarbeiter der Kreditanstalt wurde. Mit 16 Jahren hat er seinen ersten, unveröffentlicht gebliebenen Roman geschrieben. Nachdem er die Lohnarbeit aufgegeben hatte, um sich ganz dem Schreiben zu widmen, verdiente er seinen Lebensunterhalt als fahrender Händler, Gelegenheitsarbeiter und Schnorrer. Zeitweise mittellos, übernachtete er in Abbruchhäusern und lebte als Obdachloser. Mehrere Jahre lang hat er kein Wort gesprochen, sondern nur geschrieben und gelesen, was er in seinem autobiografischen Text «Warum ich schreibe» mit den Worten kommentierte: «Das Schweigen ist zu meinem Lebensinhalt geworden. Ich las jedoch immer Bücher und sehe die Autoren als meine Freunde.» Seit sein Debüt, der Erzählungsband «Ein Wanderer im Alpenregen», 1979 bei Suhrkamp erschien, erhielt er Werkstipendien und Förderpreise, aber abgesehen vom Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, der ihm 1980 verliehen wurde, kaum eine renommierte Auszeichnung.

Auf dem Weg in die Selbstprovinzialisierung

In den späten 1980ern verlieren sich nicht nur Bönis Spuren, auch seine Veröffentlichungspraxis ändert sich. In den Jahren nach seinem Debüt erschienen seine Bücher – der Roman «Schlatt», die Erzählungen «Hospiz» und «Der Knochensammler» (alle 1980), der Prosaband «Alvier» (1982) und die Aufsatzsammlung «Die Fronfastenkinder» (1985) – alle im Suhrkamp-Verlag. Der Roman «Die Residenz» erschien 1988 bei Ammann, wie zuvor schon «Sagen aus dem Schächental» (1982), eine Sammlung von Prosa-, Dramen- und Lyrikminiaturen, sowie der Band «Das Zen­trum der Welt» (1987), der Eindrücke einer Amerikareise verarbeitet. Seit 1989 bei Suhrkamp «Am Ende aller Tage», ein Band mit «Erzählungen aus fünfzehn Jahren», erschien, hat Böni seine Texte nur noch in Kleinstverlagen (im Berner Erpf-Verlag, dem IPa-Verlag in Vaihingen) veröffentlicht. Die Selbstprovinzialisierung, die sich im Wechsel von renommierten Literaturverlagen zu Kleinverlagen anzeigt, ist weder Ausdruck von Resignation noch von einer hochmütigen Distanz zum Literaturbetrieb. Vielmehr handelt es sich um eine inwendige Auswanderung: um den Versuch, am Schreiben und Publizieren festzuhalten, indem es an bedeutungslose Orte umgesiedelt wird.

Dieser Umsiedlung zum Trotz ist die Welt von Bönis Büchern über Jahrzehnte hinweg erstaunlich gleich geblieben. Ihre Ikonografie, ihr Figuren- und Motivrepertoire sind von beklemmender Monotonie: Durch eine menschenfeindliche Alpenlandschaft, in der es nur Schattierungen von Grau zu geben scheint, ziehen moderne Streuner, die in manchem an den Autor selbst erinnern: Wanderarbeiter, Hausierer, Obdach- und Arbeitsuchende mit unklarem Ziel. «Die Alpen», 1983 der erste Band der Romantrilogie um den Reisenden Adrian Nowak, beginnt mit den Worten:

«Ich kam an in einer düsteren Zeit, und düster ist mir die Stadt auch später erschienen. Ich besass keinen Rappen, denn meine letzten Mittel waren auf der langen Anreise aufgebraucht worden. Ich schlich durch die dunklen Strassen, im Kopf eine Adresse, wo ich auf Kredit würde schlafen können. Dicke uniformierte Beamte standen geschützt vor dem Schneefall in Nischen; es waren Kontrolleure der städtischen Verkehrsbetriebe.»

Die Passage ist nicht nur beispielhaft für Bönis Prosa, weil sie den orientierungs- und mittellosen Wanderer den Repräsentanten einer allgegenwärtigen, aber merkwürdig nutzlos gewordenen Ordnungsmacht gegenüberstellt, sondern auch wegen ihrer widersprüchlichen Verschränkung von Modernität und Archaismus.

Orientierungslos Reisende

Einerseits sind die Handlungsreisenden und Wanderarbeiter, die Bönis Texte bevölkern, Relikte einer verblichenen Vor- und Frühmoderne, andererseits verkörpern sie eine Art provinziellen Kosmopolitismus: Wurzellos Versprengte, sind sie jeder neuen Erfahrung gegenüber offen und bereit, Ort und Eigentum zugunsten von Unbekanntem aufzugeben. Indes kommt dieser Bereitschaft in der Wirklichkeit, die Böni beschreibt, nichts entgegen. Für dieses Verschlossensein der Gegenwart stehen die Ordnungshüter – Polizisten, Grenzbeamten, Kontrolleure –, die in Bönis Erzählungen Regeln und Verbote repräsentieren, die so allgegenwärtig und unbegreiflich sind. Die widersprüchliche Verbindung von Ortsgebundenheit und Wurzellosigkeit findet ihren beeindruckendsten Niederschlag in den Landschaftsbeschreibungen, die in Wahrheit Entstellungen sind. In «Hospiz», wo das Verfahren der beschreibenden Entstellung am schärfsten ausgeprägt ist, berichtet der Erzähler:

«Endlich hatte der Zug das Meer und eine Stadt erreicht, die sich weiss wie eine Festung erhob. […] Die Stadt war sehr gross, eine breite Dammstrasse zog sich zwischen Meer und Stadt hin. Ein Marktplatz erschien, wo eine Karussellstadt aufgebaut war. […] Eine Kanalstrasse teilte die Ferienstadt, bunte Schiffe lagen angebunden am Damm. […] Aus dem Meer ragte ein schlanker Leuchtturm auf. […] Der Zug fuhr weiter und in der nächsten Station, einem hässlichen Nest mit einer riesigen Raffinerie und anderer Indus­trie, leerte sich der Zug bis auf wenige Plätze.»

Meer und Bergland, ikonische Fragmente aus Mittelalter und Industrialisierung, deren Entfernung und topografische Lage zueinander undeutlich bleibt, werden wie in einer kubistischen Collage auseinandergerissen und ineinanderverschoben, bis sich die Suggestion anschaulicher Beschreibung selbst dementiert.

Was und wer sich wo befindet, wie lange es von einem zum anderen Ort dauert, wie die Orte, Menschen und Gegenstände zueinander in Beziehung stehen – alle Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster, die dem Reisenden und Streuner traditionell Orientierung in der Fremde gewährt haben, sind bei Böni aufgehoben. Die Beharrlichkeit, mit der sein Werk solche Motive und Verfahrensweisen bis heute eher wiederholt als entwickelt, ist Ausdruck der Erfahrungsarmut und Orientierungslosigkeit, die Gegenstand seiner Bücher sind. Vielleicht ist diese Armut, dieses Schwinden von Möglichkeiten der eigenmächtigen Welterschliessung, auch ein Grund für Bönis Entscheidung, sich lebend und schreibend immer weiter aus der Welt zurückzuziehen, in der und über die er schreibt. Das letzte unter seiner Autorschaft verzeichnete Buch, das Reisejournal «Bisons im Winter», ist vor elf Jahren im Novum-Verlag (Neckenmarkt/Österreich) erschienen. Was Böni seither geschrieben oder nicht geschrieben hat, wie er lebt, ob und wo er im Juni seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, ist unbekannt. Dass es ihn aber offenkundig noch gibt, verleiht seinem Verstummen einen Akzent von Hoffnung.

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