Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX
14 Bücher, vorgestellt in der dreissigsten Folge der «Schweizer Autoren
in Kurzkritik».
1 Schweizergeschichte – definitiv?
Die letzte Schweizergeschichte, der man das Attribut umfassend zuerkennen darf, erschien 1986 und war eine Gemeinschaftsleistung mehrerer Autoren unter dem Titel «Geschichte der Schweiz und der Schweizer». Es war noch die Zeit des Kalten Krieges, und die Polarisierung von Rechts und Links suchte sich auch des Geschichtsbildes zu bemächtigen. Besonders die Schlusskapitel zur Zeitgeschichte nach 1914 waren es, die damals Kritik herausforderten und zugleich frühe Anzeichen eines Generationenkonflikts bei der Wahrnehmung unserer jüngsten Vergangenheit erkennen liessen.
Die dieses Jahr erschienene Gesamtdarstellung «Die Geschichte der Schweiz» von Thomas Maissen hat nicht mehr mit dem Widerstreit kontroverser Beurteilung zu rechnen. Das liegt zum Teil an den veränderten Zeitumständen und daran, dass sich die Debatte um den Bergier-Bericht beruhigt hat. Es liegt aber auch an den Qualitäten der vorliegenden Arbeit. Problembewusst, aber unpolemisch, gestützt auf eine solide Kenntnis des heutigen Wissensstandes und doch nicht detailversessen, abwägend im Urteil und sorgfältig differenzierend in seiner Sprache, hat Maissen ein Werk geschaffen, das dem Bedürfnis nach zuverlässiger Information zu entsprechen vermag. Der bilderstürmende Gestus der Mythenverächter findet sich hier ebensowenig wie das militante Pathos der Mythenbeschwörer. Zur Gründungsgeschichte wird nüchtern ausgeführt, dass es den Gegensatz zwischen frühdemokratischen, freiheitsdurstigen Kommunen und tyrannischen adligen Vögten so nicht gab. Zugleich aber vergisst Maissen nicht, die geschichtsbildende Kraft der Mythen zu würdigen, wie sie von den Chronisten und Humanisten überliefert wurden.
Der Autor legt das Hauptgewicht seiner Darstellung auf die Konfliktsituationen, denen die Schweiz in ihrer Geschichte aussenpolitisch, aber vor allem innenpolitisch ausgesetzt war. Oft, wenn auch nicht immer, hat das Land seine Probleme selber zu lösen vermocht; zuweilen hatte es schlichtweg Glück. Maissen vermag im Geschiebe des geschichtlichen Wandels immer wieder Kontinuitäten sichtbar zu machen. Und immer wieder löst die Lektüre beim Leser Staunen aus – Staunen darüber, dass es dieses vielgestaltige und heterogene Land überhaupt noch gibt, das sich mit dem Begriff der «Willensnation» nur unzulänglich definieren lässt.
Thomas Maissens Buch ist keine Einführung und bewegt sich auf einer anspruchsvollen Reflexionsebene, ohne in schwerverständlichen Fachjargon zu verfallen. Es ist auch kein Handbuch, das Daten der Ereignisgeschichte aufführt und durch ein Register erschliesst. Das Buch verzichtet zu Recht auf Anmerkungen, enthält gutausgewählte Illustrationen und zwei Karten sowie eine, freilich recht knappe, kommentierte Bibliographie. Thomas Maissens Werk könnte sehr wohl auf Jahre hinaus die massgebende Darstellung der Geschichte unseres Landes sein. Könnte – denn es sind, wie man hört, weitere «Schweizergeschichten» im Entstehen begriffen, die sich an Maissens Darstellung werden messen müssen.
vorgestellt von Urs Bitterli, Prof. em. für Geschichte, Gränichen
Thomas Maissen: «Geschichte der Schweiz». Baden: Hier + Jetzt, 2010
2 Streuli am Broadway
Man mag seinen Augen kaum trauen, doch am Westufer des Zürichsees, bei Horgen, stehen riesige Redwoods, typisch kalifornische Mammutbäume – die hat der Emil mitgebracht. Damals waren sie natürlich noch kleiner. Sie wissen schon, der Emil von der Seidenmanufaktur Streuli. War ja vier Jahre in Manhattan, Kaufmannsgehilfe beim Seidenimporteur Aschmann in der Vesey Street, Nähe Broadway. Hat sich in die Stadt New York schlichtweg verliebt. War da noch jünger, aber auch schon pummelig und sehr spendabel beim Geldausgeben, das er nicht selbst verdient hatte. Noch immer keine Erinnerung? Emil Streuli: unpatriotischer Weinkenner («konnte aus seinen starksauren Eigenschaften schliessen, dass selber Wein vom Zürichsee stammte»), guter Klavierspieler und Möchtegernentrepreneur, der mit seiner Firma Gas Generating auf die Nase fiel… – fällt der Groschen? Es sind natürlich doch schon 150 Jahre her. Aber vieles hat sich nicht verändert. Damals wie heute war es verpönt, auf der Jersey-Seite des Hudson zu leben, waren die Strassen von Manhattan hoffnungslos verstopft – wenn auch mit Droschken –, so dass der New Yorker fast alle Wege zu Fuss erledigte, war alles zehnmal grösser als zu Hause und zehnmal teurer, reihte sich am Broadway schon Theater an Theater und ging, wer etwas auf sich hielt, nur in die angesagtesten Restaurants – 1859 das Austernparadies Delmonico’s mit Speisekarten in Perlmutter, und was heute in ist, hiess damals «dandy».
Wer sich also an Emil nicht mehr erinnert und alles nochmals nachlesen will – der emsige Historiker Hans Peter Treichler hat die zehn handgeschriebenen, lange in einem Wandschrank vergessenen Tagebücher Streulis sprachlich überarbeitet, thematisch zusammengestellt, kurzweilig erläutert und schwungvoll verbunden. Entstanden ist ein individuelles Porträt New Yorks der Jahre 1858 bis 1861, nämlich bis Emil – übrigens ein Gegner der Sklaverei – vor dem drohenden Sezessionskrieg zurück nach Horgen reiste.
Treichler ist kein kritischer Begleiter – immerhin ist er den Streuli-Nachkommen verpflichtet, die ihn die privaten Konvolute durcharbeiten liessen; aber er stimmt auch kein schlichtes Hohelied auf den reisefreudigen Jungunternehmer an. Vor allem ist er kein staubtrockener Historiker mit Faible für endlose Fussnoten. Er begleitet Emil Streuli mit lebendiger Freude durch das damalige New York und zeigt ohne erhobenen Zeigefinger und Brille auf der Nasenspitze, was aus den Häusern und Strassen wurde – neben Vesey Street liegt heute Ground Zero –, in denen Emil handelte, wandelte, anbandelte und scheiterte.
vorgestellt von Michael Harde, Lehrer & Eifel-Bauer, Schalkenbach
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
Hans Peter Treichler: «Ein Seidenhändler in New York. Das Tagebuch des Emil Streuli 1858–1861». Zürich: Verlag NZZ, 2010
3 Undogmatischer Hoffnungsglaube
Als Theologe macht man gelegentlich die Erfahrung, dass religionskritische Gesprächspartner anregender sind als solche, die sich als Gläubige bezeichnen. Zweifler, Skeptiker, Agnostiker oder Atheisten fordern heraus und zwingen dazu, sich selbst in Frage zu stellen und das Christentum aus der Aussenperspektive zu betrachten. Das bereichert und hält lebendig.
So steht es auch mit dem Aargauer Robert Mächler (1909–1996), während Jahren Journalist beim «Bund» und beim «Badener Tagblatt». Bekannt wurde er als Robert-Walser-Forscher und Autor einer unentbehrlichen Walser-Biographie. Seine übrigen Schriften sind nach wie vor eher ein Geheimtip. Ein treuer Freundeskreis kümmert sich heute um seinen riesigen Nachlass, aus dem seit seinem Tod viel beinahe oder ganz Verschollenes neu herausgegeben worden ist.
Der hier anzuzeigende Auswahlband, nicht nur mit Briefen Mächlers selbst, sondern auch seiner Korrespondenten, dokumentiert ein Beziehungsnetz, das seinesgleichen sucht. Offensichtlich gelang es ihm, die Anteilnahme vieler zu wecken; um nur wenige zu nennen: Thomas Mann, Hermann Hesse, Leonhard Ragaz, Hermann Levin Goldschmidt, Karl Barth, Kurt Marti, Walter Robert Corti, Eduard Stäuble, Adolf Muschg und Arnold Künzli. Eine zentrale Bedeutung für Mächler hatte der Religionskritiker Karlheinz Deschner, dessen «Kriminalgeschichte des Christentums» einer der Auslöser dafür war, dass er 1963 aus der Kirche austrat. Während längerer Zeit hatte Mächler vorher Karl Barth nahegestanden, in dem er so etwas wie eine Vaterfigur sah.
Ein grosser Teil der hier edierten Briefe ist religionsphilosophisch orientiert. Es wird um die Gottesfrage gerungen. Der traditionelle Glaube war Mächler abhandengekommen. Und doch schreibt er: «Trotz der manchmal als erdrückend empfundenen Argumente gegen den Gottesglauben» habe er ihm «nie ganz abgesagt». Zu lebhaft sei sein Bedürfnis, «an Wert und Sinn und an deren Ursprung im Weltgrund zu glauben». Die «Entstehung sinnbedürftigen Menschengeistes aus geist- und sinnlosem Atomgewimmel» halte er «für unwahrscheinlich». «Gültige Sinngebung» müsse aber trotzdem «wohl von einem irgendwie übernatürlichen, weltüberlegenen, ‹jenseitigen› Geist» herkommen. Wer sich «als Agnostiker der unüberwindlichen Denkschwierigkeiten der Gottesfrage» bewusst sei, dem sei es freilich unmöglich, sich zu einer «lehrmässigen Religion» zu bekennen.
Und so schreibt Mächler in immer neuen Variationen von seinem existentiellen «Sinnbedürfnis». Er möchte an einem «undogmatischen Hoffnungsglauben» festhalten, da er nur so den Kopf über Wasser halten könne, und beschreibt ihn als «undogmatisch-religiösen, in moralibus christlich, besser gesagt jesuanisch getönten Agnostizismus». Mit dem prominenten «Freidenker» Adolf Boss-hart überwarf er sich. Dessen Intoleranz – mit der dieser sich etwa weigerte, in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift auch Pantheisten zu Wort kommen zu lassen – war ihm zu dogmatisch.
Wer sich für das Geistesleben der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert, greife nach diesem Buch. Die Herausgeberin Gabriele Röwer traf nicht nur eine gute Auswahl, sondern sie trägt mit ihren kenntnisreichen Einleitungen und den gelehrten Anmerkungen Entscheidendes dazu bei, dass sich das Buch fast wie ein Roman liest. Wo ich ihre Angaben nachprüfen konnte, etwa bei Karl Barth, sind die von ihr mit Akribie gesammelten Informationen zuverlässig und hilfreich.
vorgestellt von Frank Jehle, Theologe, St. Gallen
Gabriele Röwer (Hrsg.): «‹Arme Teufel sind wir alle…›. Briefe von und an Robert Mächler über Gott und die Welt.» Bern: Haupt, 2010
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
4 Am Ende eine Plattensammlung
Siebzig Langspielplatten umfasst die Diskographie, die Hansjörg Schertenleibs Roman «Cowboysommer» abschliesst. Walter Roth, genannt Boyroth, hat sie seinem Jugendfreund Hanspeter vererbt. Kennengelernt haben sich die beiden im Sommer 1974, da waren sie siebzehn. Hanspeter erlernt den wenig später aussterbenden Beruf des Schriftsetzers, während Boyroth bei der Post jobbt. Da gibt’s «zwölfhundert im Monat», kein Wunder also, dass er sich all die Platten leisten kann, die unsereiner nur im Laden bestaunt. Die Zusammenstellung ist eklektisch, aber interessant. Alice Cooper und Larry Corryell, Iggy Pop und Grateful Dead, Jethro Tull und T. Rex. Sein spätes Urteil, bis auf «Dark Rose» gebe es nur Mist auf der ersten LP der niederländischen Band Brainbox, deshalb habe er das frühere Objekt der Begierde längst verkauft, spricht für Kennerschaft. Doch da befinden wir uns bereits im Jahr 2010, als Hanspeter, der Schriftsteller geworden ist, ihn an einem Imbissstand hinterm Bahnhof wiedertrifft. Heruntergekommen sieht er aus: «Er hatte einen zotteligen Bart mit Silbersträhnen und schulterlanges Haar, trug Jeans und einen grünen Parka.»
1974 sind Boyroths Haare noch länger. Hanspeter trifft ihn beim Fussball und weiss sofort: «Wenn ich ein Mädchen wäre, würde ich mich auf der Stelle in dich verlieben.» Eine Erkenntnis, die er sofort verdrängt. Tatsächlich ist es Boyroth, der die Initiative ergreift, indem er seinem neuen Freund sofort einen anderen Namen verpasst: «Etwas dagegen, wenn ich dich Gönggi nenne?»
Eine seltsame Beziehung entwickelt sich hier. Denn Boyroths Charisma beruht nicht zuletzt darauf, dass er für Hanspeter, der uns diese Geschichte erzählt, nur schwer zu durchschauen ist. Zumal er unglücklich in die Schwester seines Freundes verliebt ist, ohne mit ihm darüber sprechen zu können. Das bedeutet Macht. Und sich dieser zu entziehen, kann ausgesprochen schmerzhaft sein, wie Hanspeter erfahren muss, als er in den Ferien zu einer langgeplanten Interrail-Tour nach Skandinavien aufbricht, während Boyroth in Zürich bleibt. «Interrail! Wie all die andern. Nie.» Vielleicht soll der verächtliche Kommentar nur Stärke simulieren, aber das wird Hanspeter nie erfahren. Als er in die Schweiz zurückkommt, hat ein Unfall alles verändert.
Auf dem Umschlag dieses Romans finden sich zwei Fotos des Autors. Das eine zeigt Hansjörg Schertenleib heute, einen sympathischen bärtigen Herrn um die fünfzig. Auf dem andern ist ein Jugendlicher zu sehen: lange Haare, Jeanshemd und ein skeptischer Blick durch die grosse Brille. Man kann sich vorstellen, dass dieses Bild auf Schertenleibs Schreibtisch lag, während er an seinem Buch arbeitete, über dessen autobiographischen Anteil hier nicht spekuliert werden soll. Mit dem Blick auf das frühere Ich beginnt die Rekonstruktion einer Zeit, als man in einem Zitat von Leonard Cohen oder Bob Dylan noch die ganze Welt erklärt fand. Und das Leiden an der «selbstgewählte(n) Einsamkeit» durchaus geniessen konnte, wenn man jemanden fand, der sie mit einem teilte. Jemanden wie Boyroth eben. Auch wenn am Ende nicht viel mehr bleibt als die Erinnerung. Und eine Plattensammlung.
vorgestellt von Joachim Feldmann, Lehrer und Redaktor, Recklinghausen
Hansjörg Schertenleib: «Cowboysommer». Berlin: Aufbau, 2010
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
5 / 6 Fluffy Fluffi
Leise, leise! Hört ihr ihn nicht? Den Ruf der Heimat… nein, nicht das Alphorn… also bitte… wir sind im 21. Jahrhundert. Heutzutage ist es das traute Rattern der Bergbahn. Und da fährt auch die Journalistin Flurina Filli in ihr Heimatdorf und trifft die Adelina und den Gian, das sind ihre fastvergessenen Bekannten, doch wie früher hat sie mit der doofen Adelina Zank und Sex mit dem süssen Gian. Zank – nicht Sex – hat sie ausserdem mit ihrem knorrigen Vater und grossen Teilen des rotbackigen, restlichen Dorfes. Auweia, sogar eine Sünde ihrer Kindheit – nicht Sex – wird enthüllt. Ja, so funktioniert der schlichte Krimi «Alpenrauschen», in dem die liebenswerte, aber unerbittliche Flu Filli mit dem Bummelzug zum Tatort tuckert und dort – nicht nur beim Sex – spitze Schreie ausstösst: «Ich will es aber wissen! Sofort! Auf der Stelle!»
Wenn Fluffi – wie wir sie nennen – nicht ermittelt, geht’s bei Sabina Altermatt gleichermassen hinauf in die Berge. Erneut ist dort oben nicht alles eitel Sonnenschein, vielmehr wabert der Nebel und die spitzsteinigen, steilen Wege sind tückisch. Kurz vor dem Ende des Weges, an einer Klippe, wäre es sogar beinah einmal spannend geworden. Aber nicht erschrecken: das emotional aufgeheizte Klassentreffen, um das herum die in Chur aufgewachsene und in Zürich lebende Autorin ihren jüngsten Roman «Fallhöhe» anrichtet, endet ebenso watteweich im plüschigen Happy-end wie das vorangehende «Alpenrauschen» – wie, übrigens, rauschen Alpen? In den Bergen der Heimat ist Hass nicht von Dauer – und Sex diesmal nur rückblickend ein Thema. Die Handlung plätschert ungetrübt wie ein Bergquell hüpfend und sprudelnd zu Tal, trägt ein paar sanfttänzelnde Ästlein mit sich, die hier und dort aneinanderstossen, hier und dort sogar ein wenig knicken – aber brechen… nein, brechen werden sie nicht. Der Nebel wird sich lichten, die Bergbahn wird rattern – manchmal ist es auch der Helikopter der Bergrettung – und alles, alles, alles wird gut.
vorgestellt von Michael Harde, Lehrer & Eifel-Bauer, Schalkenbach
Sabina Altermatt: «Alpenrauschen». München: Piper, 2009
Sabina Altermatt: «Fallhöhe». Zürich: Limmat, 2010
7 Experiment of Living
Wer möchte eigentlich nicht in seinem Leben einen Neuanfang wagen? Gewagt hat ihn Hermann Hesse, als er nach dem Ende des Ersten Weltkrieges versuchte, sich nochmals dem «Engel zu stellen». Gewagt haben ihn auch Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings, als sie nach der Beendigung des Dada-Experimentes um 1920 in das Tessin zogen. Das experiment of living, um einen Ausdruck von J. St. Mill zu verwenden, ist bei Hermann Hesse erfolgreich ausgegangen und wurde 1946 mit dem Nobelpreis und 1955 mit der Aufnahme in den Orden «Pour le Mérite» gekrönt. Hugo Ball dagegen starb bereits 1927 mit vierzig Jahren an Speiseröhrenkrebs; seine Frau überlebte ihn um rund 20 Jahre und starb wohl an Erschöpfung, nachdem sie ihren Lebensunterhalt – nicht zuletzt auch in einer Tabakfabrik – verdient haben soll.
Eveline Hasler zeichnet nun die Begegnung der drei aussergewöhnlichen Menschen in den zwanziger Jahren nach. Sie stützt sich dabei auf Originalquellen, die sie im Anhang anführt, allerdings ohne Nachweis der jeweiligen Seitenzahlen. Dazwischen fingiert sie, was sich zwischen diesen drei Personen, in deren Gesprächen und deren Gedanken, abgespielt haben könnte, wie unter anderem eine unerfüllt gebliebene Liebe Emmy Balls zu Hermann Hesse, homoerotische Neigungen Hugo Balls und nicht zuletzt auch eheliche Spannungen zwischen Hugo und Emmy Ball, die diese zu langen Fluchten nach Italien veranlassten. Insbesondere aber zeigt die Autorin, dass das experiment of living der Balls vorwiegend ein Kampf ums physische Überleben war.
Das schlecht lektorierte Buch weist eine Reihe stilistischer Mängel auf; von einem «akribischen Quellenstudium», wie Klara Obermüller es der Autorin auf dem der FAZ entnommenen Klappentext attestiert, kann in dieser Publikation schwerlich die Rede sein.
Den besten Eindruck in diesem Buch macht wohl Hermann Hesse, der trotz eigener schwieriger Lebenssituation Hugo und Emmy Ball nicht nur moralisch unterstützt, sondern sich auch für deren materielles Überleben tatkräftig eingesetzt hat. Der Autorin ist für die Wahl des Sujets und ihr Einfühlungsvermögen zu danken, auch wenn ihre Mischung aus «Dichtung und Wahrheit» Fragen nach der faktischen Wahrheit, insbesondere in ihrer Darstellung der Balls, offen lässt. Zuverlässigere Informationen finden sich in dem heute vergessenen Werk Richard Huelsenbecks, der «Reise bis ans Ende der Freiheit. Autobiographische Fragmente», das 1984 aus dem Nachlass herausgegeben wurde von U. Karthaus und H. Krüger.
vorgestellt von Rafael Ferber, Professor für Philosophie, Luzern
Eveline Hasler: «Und werde immer Ihr Freund sein». Zürich: Nagel & Kimche, 2010
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
8 Schrittweise dem Alphabet entlang
Die Anziehungskraft der Kurzgeschichte, die in der Literatur der Schweiz vor allem im Werk Peter Bichsels prominent vertreten ist, gehe «von ihren nicht idealisierten Figuren – Durchschnittsmensch oder Aussenseiter – und der suggestiven, andeutenden Gestaltungsweise aus, also von ihrem strukturbildenden Komprimierungsprinzip», schreibt Leonie Marx, eine Expertin dieser Prosaform, in Walther Killys Literaturlexikon. Die Anziehungskraft der 100 Kurzgeschichten, die Gianni Kuhn unlängst vorgelegt hat, beruht noch auf einigen anderen Qualitäten – zum Beispiel auf der erstaunlichen Vielseitigkeit ihrer Sprachgestalt. Ausserdem war es eine wirklich gute Idee, die 100 Kurztexte in der alphabetischen Folge ihrer Titel zu präsentieren. Auch wenn, wie sollte es anders sein, nicht alle Geschichten gleichermassen überzeugen, liest man sich mit wachsendem Vergnügen durch von «Arbeitslos» bis «Zu Besuch». Nach dem Titel des mit dem fast klassischen Satz «An diesem Morgen geschah es» beginnenden Text Nummer 94 ist der Band benannt: «Wie atmet ein Fahrradfahrer?».
Den Überschriften kommt bei dieser Prosaform besondere Bedeutung zu. Ein Titel wie «Das Erdbeben» verrät fast schon zuviel. Charakteristisch für die Kurzgeschichte seien, sagt Marx, «knappe Einblicke in das Spannungsverhältnis zwischen scheinbar gewöhnlichen kleinen Konflikten oder Krisen des Alltags und der besonderen, vielleicht sogar tiefgreifenden existentiellen Bedeutung, die sie für das Leben eines Menschen annehmen können». Gianni Kuhns «Erdbeben» beginnt so: «Oben auf dem Dach des Spielcasinos stand Marietta, ein Glas Champagner in der Hand, die Flasche neben sich. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, war sie nun auf der Seite der Glücklichen.» Und der letzte Satz lautet: «Noch im Fallen sah sie die untergehende Sonne, die sich drehte wie eine Roulette-Kugel.» Wirkt das nicht wie eine bewusste Illustration der akademischen Definition des Genres, das mit diesem Buch eine variantenreiche und eindrucksvolle Wiederbelebung erfährt?
Dass Kuhn kein Dialogschreiber ist, zeigt sich einmal mehr, und die Helvetismen, mit denen er sich auch in diesem Buch den Weg zum grossen Erfolg jenseits der Landesgrenzen schwer macht, sind Legion. Ob «vor dem Eindunkeln», «ein freies Parkfeld» oder «hornte der Krankenwagen um die Ecke» – Gianni Kuhn will Schweizer Dichter bleiben, auch wenn seine Geschichten in Berlin, Wien, Venedig, Rom, London, Japan oder Island spielen. Die meisten Texte aber verzichten auf einen konkreten Schauplatz, der auch nicht nötig ist, wenn es, wie recht oft, um Existentielles geht, um Leben und Tod, um Arbeit, Freundschaft, Krankheit, Einsamkeit oder Schuld. Der Autor setzt den Leser einem rasanten Wechselbad zwischen harter Realität und romantischem Tagträumen aus. Immer wieder spürbar ist der melancholische Grundgestus, die Trauer über die Vergänglichkeit alles Irdischen.
Es ist ein abwechslungsreicher, reifer Kurzgeschichtenband, mit dem Kuhn seine Leser beschenkt, ein Buch voller Lebensweisheit und doch kein cooles, abgeklärtes oder allzuglatt poliertes Werk. Und ein Buch, für das sich auch Menschen erwärmen könnten, die glauben, nie Zeit zu haben, und die Literatur, wenn überhaupt, nur in kleinen Portionen zu sich nehmen. Gianni Kuhns 100 Textbissen werden ihnen munden.
vorgestellt von Klaus Hübner, Germanist und Redaktor, München
Gianni Kuhn: «Wie atmet ein Fahrradfahrer? 100 Kurzgeschichten». Eggingen: Edition Isele, 2010
9 Vom Clinch zwischen Politik und Kultur
Sieht man von der forcierten Originalität der graphischen Gestaltung ab, die die Lesbarkeit erschwert und die Illustrationen verunstaltet, liegt mit der Jubiläumsschrift der Pro Helvetia zu deren 70. Geburtstag eine wertvolle Publikation vor. Von Historikern der Universitäten Zürich (Jakob Tanner) und Freiburg (Claude Hauser) angeleitet, hat ein Forschungsteam von fünf Dissertanden die Geschichte, das Wirken und die Ziele der Kulturstiftung aus unterschiedlichem Blickwinkel untersucht. Alle Beiträge sind erhellend und lesenswert. Sie zeigen, dass die kulturelle Förderung in einem so vielfältigen Staatswesen wie der Schweiz, das über keine Nationalkultur verfügt, grundsätzlich eine konfliktreiche Aufgabe ist.
Auch ist die Schweiz ein Land, in dem sich Politik und Kultur seit je, um es mild zu formulieren, wenig freundlich begegnet sind. Eine kulturpolitische Harmonisierung und einen Konsens anzustreben, wäre ein unmögliches und auch kontraproduktives Bemühen, vermitteln doch gerade Gegensätze und Reibungen kreative Anreize, auf die nicht verzichtet werden darf. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft in ständigem Wandel ist und die Kultur sich neuen Herausforderungen stellen und neue Wirkungsmöglichkeiten erproben muss; man denke nur an die Erweiterung des Kulturbegriffs oder an die Globalisierung, die die Schaffung neuer Aussenposten nötig machte. Zu solchen und ähnlichen Fragen vermittelt die vorliegende Publikation viele Einsichten und Anregungen.
Das Buch ist nicht frei von Einseitigkeit, was zwischen den Zeilen auch eingestanden wird. Die Autoren vertreten einen entschieden links-intellektuellen Standort, der den provokativen, innovativen und emanzipatorischen Aspekt der Kultur betont. Die Vorstellung, dass Kultur auch der Traditionspflege, der Besinnung und der Selbstvergewisserung dienen könnte, ohne dass gleich militanter Nationalismus und geistige Landesverteidigung zu fürchten wären, ist den Autoren offensichtlich wenig vertraut. Doch das könnte sich mit ihrem zunehmenden Alter ändern.
Im Anhang des Buches findet sich ein Verzeichnis der Stiftungsräte, eine Zeittafel und eine zweckdienliche Bibliographie.
vorgestellt von Urs Bitterli, Prof. em. für Geschichte, Gränichen
galerie Caro Niederer
«Schafherde», Öl auf Leinwand, 210 x 150 cm, 2009 (Privatsammlung)
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
Jakob Tanner, Claude Hauser & Bruno Seger (Hrsg.): «Zwischen Kultur und Politik. Pro Helvetia 1939 bis 2009». Zürich: NZZ Libro, 2010
10 Denn deine Sprache verrät dich
Als sich Simon Petrus daran machte, in der Höhle des Löwen Jesus Christus zu verleugnen, war ihm seine Sprache nicht eben dienlich. «Und über eine kleine Weile traten die hinzu, die dastanden, und sprachen zu Petrus: Wahrlich, du bist auch einer von denen; denn deine Sprache verrät dich.» Simon stammte wie Jesus aus Galiläa und war an seiner Sprache als Galiläer erkennbar.
Ja, man sagt einen Satz und ist geliefert, auch hier und heute, mit der alten Methode linguistischer Fahndung geographisch ins Bünderische, Oberwalliserische oder Berner Unterländische verortet, alles Leugnen verschlimmert das Elend noch, und man kann sich höchstens noch retten durch wunderbare Täuschung, durch kunstvolle Verstellung der Akzentfreiheit.
Der «Kleine Sprachatlas der deutschen Schweiz»» gibt nun einem breiteren Publikum ein hervorragendes Fahndungsmittel in die Hand. Man schenkt jemandem ein Bonbon, und ob er dann für das «Zältli», «Zückerli», «Möckli» oder «Täfeli» dankt, lässt erkennen, aus welcher Gegend er stammt, und schon ist der Sprecher gestellt. Man kann es je nach lebensweltlicher Angemessenheit auch mit «Quetschflecken», «Kuss» oder «Stalljauche» versuchen.
Grundlage für die 120 farbigen Sprachkarten bildet der 1962 bis 1997 erschienene «Sprachatlas der deutschen Schweiz», der 1’548 Karten enthält und für den zwischen 1939 und 1958 an Hunderten von Orten Daten erhoben worden sind. Sollten die dialektkundigen Leser nicht in jedem Fall die erwarteten Einträge vorfinden, so erklärt das Vorwort im «Kleinen Sprachtatlas», sei dies wohl mit dem zeitlichen Abstand zu den Befragungen zu erklären. In der Tat, wiederholt werden Aussagen gemacht, die mit der Zürichdeutsch-Erfahrung des Rezensenten nicht mehr übereinstimmen und denen die Zeit eine deutliche sprachmuseale Färbung zugefügt hat. Auch werden Begriffe wie «Abäisi» oder «Hambitzgi» (für Ameise) angeführt, die bei aller Farbigkeit doch eher einem Kapitel «vergangene Sprachwelten» zuzuschlagen wären. Dies zeigt aber auch, dass die Dialekte − die nach einem gängigen, hier präzisierten Stereotyp auf einem Sprachstand verharren sollen, der jenem des Mittelhochdeutschen entspricht − doch einem steten, vielleicht neuerdings sogar beschleunigten Wandel unterliegen.
Da es um Vollständigkeit ohnehin nicht gehen kann, leistet der «Kleine Sprachatlas» ebensogute Dienste wie sein grosser Bruder. Er ist viel mehr als ein blosser Atlas. Das sehr sorgfältig hergestellte Buch bietet Einblick in den Variantenreichtum der ihrerseits nicht zählbaren Deutschschweizer Dialekte − für «Fangen spielen» etwa werden weit über hundert Ausdrücke aufgeführt − und zeigt die Vielfalt des schweizerdeutschen Wortschatzes und die lautliche Verschiedenheit der Dialekträume. Auf der Grundlage des «Schweizerischen Idiotikons» erklärt es anschaulich, vergnüglich und informativ unzählige Dialektwörter und beschreibt grammatikalische Feinheiten. Eine ungemein interessante Einführung, ebensolche Kapiteleinführungen und zahlreiche Kästchen vermitteln viel Wissenswertes zur Sprachwissenschaft und zur Sprache überhaupt, zum dialektalen Wortschatz, aber auch zu Lauten und Formen, zu Volksetymologien, zu sprachgeschichtlichen Hintergründen der viersprachigen Schweiz oder zum Sprachleben in der Deutschschweizer Diglossie. Auch der Anhang mit Personen- und Literaturverzeichnis sowie Glossar ist nützlich. Dem Buch ist weite Verbreitung zu wünschen.
vorgestellt von Thomas Sprecher, Rechtsanwalt, Zürich
Helen Christen, Elvira Glaser & Matthias Friedli: «Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz». Frauenfeld: Huber, 2010
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
11 Lügen in New York
Banden im Hafenviertel und in der Stadtverwaltung; feinste Küche, erlesene Weine, Brandkatastrophen, freie Wirtschaft und ein florierender Kunsthandel, manche Bilder sind sogar echt; gesellschaftliche Aufstiege, Kriminalprozesse, zuweilen Morde, und die Einsamkeit der Erfolglosen; Liebesgeschichten, Verführungsgeschichten, Bordellgeschichten; Zahlen über Zahlen, Einzelschicksale; Stadtpläne, Statistiken, Zeichnungen, Gemälde, Rezepte, die Geschichte eines Schweizer Auswanderers im New York des 19. Jahrhunderts und die Frage, was von all dem stimmt.
Denn ein Buch, das «Schnee im August?» heisst, erweckt ein gewisses Misstrauen. Tatsächlich ist jener Heinrich oder Henry Simens, dessen Lebensgeschichte aufgrund hinterlassener Papiere von seinem Urgrossneffen René Simmen erzählt wird… Oder vielmehr jener vom Autor René Simmen ausgedachte Onkel, der… Wie auch immer, ist dieser art worker, der von Theaterdekorationen, Innenarchitektur, Organisation von Festen und nicht zuletzt von Gemäldefälschung lebt, ein talentierter Schwindler.
Damit haben wir ein Buch, das seine Lügenhaftigkeit ausstellt (ein schönes Kapitel über die Unwahrheit ist auch drin) – und gleichzeitig ein Buch, in dem Unmengen historischen Mate-rials reproduziert sind. Wir haben auf fast 300 grossformatigen Seiten das Nebeneinander von Fiktion und geschichtlichem Beleg.
Von Alexander Kluges Prosasammlungen, die in dieser Hinsicht vergleichbar sind, geht eine produktive Verunsicherung aus: was hat sich wirklich so zugetragen, was ist erfunden? Wer schreibt Geschichte, wer kontrolliert die Erinnerung? Es ist dies ein herrschafts- und ideologiekritischer Zugang, der bei Simmen keine Entsprechung hat. Sein – so der Untertitel – «biographischer Roman» weist ein Ineinander von Biographie und Roman auf. Das Erfundene trägt wie das Gefundene zu einem Epochenbild bei, das letztlich das Positive in den Mittelpunkt stellt. Simmen verschweigt nicht das Schicksal der Verlierer, das Los der Armen, die trotz fleissiger Arbeit nicht weiterkommen. Er stellt die Kosten eines einzigen Kleids dem Monatslohn einer Näherin gegenüber, er berichtet über die gewaltsame Unterdrückung von Gewerkschaften. Die Freude am Fabulieren, die Lust an der Fülle des Materials überdecken jedoch solche Konflikte.
Weniger als von Problemen handelt der Roman von der Vitalität der Menschen in einer Stadt, die sich schnell entwickelt. Der Tod gehört dazu, nachlassende Kraft ist sein Vorbote. Das Buch, das das Leben und seine Kämpfe feiert, bringt gleichzeitig bewegende Geschichten vom Sterben, etwa Lorenzo Delmonicos, eines Napoleon-Verehrers und Chefs einer Kette von Restaurants, in denen die gehobene Gesellschaft sich feiert, vor allem aber das Sterben von Simens selbst, der irgendwann nicht mehr up to date ist, die Grossstadt New York verlässt und in irgendeiner Provinz in Reue verkümmert – bis ganz zuletzt die Gestalten seines Lebens prachtvoll erscheinen.
Elan vital und Verlöschen, Tod und Verklärung: das ist die Wende zum 20. Jahrhundert, an dessen Beginn Simens stirbt. Die Weltsicht der Reichen jener Zeit einerseits, das neuere soziale Bewusstsein anderseits – diesen Konflikt führt der Roman nicht durch. In ihm wird die Welt weniger gedeutet als in ihren verschiedenen Aspekten vorgestellt. Überwältigt von der Unmenge an kulturhistorischem Material, das der Autor zusammengestellt hat, fragt man sich manchmal, wozu das alles. Doch gibt es immer wieder bewegend erzählte Abschnitte und setzt sich die Erzählung gegen die blosse Freude am Sammeln durch.
vorgestellt von Kai Köhler, Germanist, Seoul
René Simmen: «Aber Simens, Schnee im August? Ein biographischer Roman». Zürich: Salis Verlag, 2010
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
12 Langeweile unter Palmen
Exotische Inseln sind seit je mit der Vorstellung einer neuen, besseren Welt verbunden. Je deutlicher die eigenen zivilisatorischen Mängel wahrgenommen werden, desto mehr wächst die Sehnsucht nach einem noch unberührten irdischen Paradies. Rolf Lappert knüpft in seinem neuen Roman an diesen Topos an, kehrt ihn aber radikal um. Gleich zwei Protagonisten schickt er nacheinander auf eine winzige philippinische Insel, auf der eine düstere Endzeitstimmung herrscht. Dabei geht es Lappert keineswegs um eine effektvolle Abenteuerkulisse. Vielmehr entwirft er in seinem Roman ein apokalyptisches Szenario, das sich durchaus als Parabel auf eine verkommene und dem Untergang geweihte Zivilisation lesen lässt.
«Auf den Inseln des letzten Lichts» erzählt die Geschichte der Geschwister Megan und Tobey O’Flynn, die auf einer schäbigen Farm im Südwesten Irlands aufwachsen. Die Mutter hat die Familie bereits früh verlassen. Der Vater, ein missmutiger Trinker, überlässt Hof und Kinder ihrem Schicksal. Mit achtzehn geht Tobey nach Dublin und beginnt eine erfolglose Karriere als Punkgitarrist. Megan nimmt ein Studium der Tiermedizin auf, das ihr von einem Praktikum in einem Schlachthaus allerdings gründlich verleidet wird. Eine Zeitlang kämpft sie als militante Tierschützerin, heiratet den falschen Mann und flüchtet schliesslich nach Manila, wo sie Gelegenheitsarbeiten für einen australischen Ethnologieprofessor erledigt. Von ihm erfährt sie von einer Gruppe internationaler Wissenschafter, die auf einer abgelegenen philippinischen Insel Primatenforschung betreiben. Megan gelangt auf das namenlose Eiland, das auf keiner Karte verzeichnet ist. Bei ihrer Ankunft befindet sich die Forschungsstation allerdings bereits im Zustand fortgeschrittener Auflösung. Die Primaten laufen als kostümierte Zirkusnummern umher, und die wenigen verbliebenen Wissenschafter geben sich gar nicht erst die Mühe, irgendeine Forschungstätigkeit vorzutäuschen. Nach Wochen trägen Nichtstuns findet Megan heraus, dass auf einer beinahe identischen Nachbarinsel ein grosses Labor existiert, in dem im Auftrag skrupelloser Pharmakonzerne mit tödlichen Viren experimentiert wird und dazu Hunderte von Menschenaffen in engen Käfigen gehalten werden. Noch grösser ist das Entsetzen, als sie in einem der Käfige ein völlig verwahrlostes und offenbar vertiertes Mädchen entdeckt, das ebenfalls Teil des zynischen Forschungsprogramms ist. Von Lebensekel überwältigt, flieht Megan den Ort des Schreckens und schwimmt hinaus aufs Meer.
Der hier geradlinig skizzierte Plot wird im Roman in einer Art doppelter Zeitschleife erzählt. Megans Erlebnisse auf der Insel bilden den zweiten, spannungsgeladenen Teil der Geschichte. Im ersten, zeitlich jedoch nachfolgenden Teil, wird von Tobeys Suche nach seiner Schwester erzählt, die bei seiner Ankunft auf der Insel bereits tot ist. Die Umkehrung der Chronologie mag erzählerisch reizvoll sein, erweist sich aber für den Leser als überaus quälend. 250 Seiten lang folgt er Tobeys Anstrengungen, irgendetwas über Megans Schicksal in Erfahrung zu bringen, um am Ende mit nicht mehr als dem falschen Grab und ein paar Briefen und Zeichnungen dazustehen. Zudem sind in den Text zahllose Hinweise und Nebenhandlungen eingeflochten, die in einem diffusen Ungefähr verbleiben und die Geschichte zusehends zerfransen lassen. Wenn es Lapperts Absicht war, mit der wie in Zeitlupe sich entfaltenden Handlung die drückende, lethargische Atmosphäre auf der Insel wiederzugeben, so ist ihm das zweifellos gelungen. Nur ist zu befürchten, dass bis zum spannenden Schluss nicht wenige Leser auf der Strecke geblieben sind.
vorgestellt von Georg Deggerich, Übersetzer, Krefeld
Rolf Lappert: «Auf den Inseln des letzten Lichts». München: Hanser, 2010
13 Im Ministerium für Paradiesverteidigung
«Ihr seid doch keine Menschen, ihr seid doch feuchter Lehm! Geformt hat man euch wohl, doch etwas einzuhauchen vergass man!» So brüllt einer, der eigentlich Schutz sucht, vor einem Schreibtisch der Einwanderungsbehörde. «Derweil richtet Petrus die Dinge auf seinem Schreibtisch fein säuberlich aus – als wollte er, Tischvorsteher sozusagen, die Parade seiner Bleistifte und Zahnstocher abnehmen. Er kriegt die Zeit bezahlt. Keine Eile. Petrus ist ein ordnungsliebender Mensch.»
Seit 1995 lebt der russische Autor Michail Schischkin in Zürich. Längere Zeit hat er als Dolmetscher für das Migrationsamt gearbeitet. Und wie er, ist auch der Erzähler seines Romans «Venushaar» Immigrant und Übersetzer. Doch beim Übersetzen der fremden Geschichten, des erlebten Leids, der gespannten Hoffnungen und der schreienden Verzweiflung legt sich dem Erzähler die eigene Lebensgeschichte wie eine zweite Schicht um das Übersetzte, wickelt sich wie eine dritte, vierte, fünfte, x-te Schicht um das, was gerade in einem Büro der Schweizer Behörde protokolliert wird. Dadurch hat der Leser nicht nur reale Szenen und Fragen dieses Amts vor sich, wie: «Sag mir doch mal, mein Bester, wie viel Kilometer sind es von deinem Kaff bis in die Hauptstadt?» (was per Handbuch überprüft wird), sondern zunehmend trifft er auf solche Dialoge: «Welche Sprache wird im Königreich der Chaldäer gesprochen?» – «Akkadisch!», kommt die Antwort. «Und wie heisst der Tempel für den Gott Marduk in Babylon?» – «Esagil!» – «Und der Turm daselbst?» – «Etemenanki.»
Auf faszinierende Weise erzählt Schischkin, wie nebenher, ein Jahrhundert russischer Geschichte und Ungeschichte (etwa Vorfälle aus einem der berüchtigten Gefängnisse der Sowjet-zeit: «Ich zerschlug die Glühbirne und schlitzte mir die Bauchdecke auf. Die Schnitte muss man so legen, dass die Därme austreten; in solchen Fällen ist den Haftärzten das Risiko zu gross, die Sache selbst in die Hand zu nehmen…») und bettet ausserdem das Leben des Dolmetschers durch Verweise in einen Kosmos der gesamten Weltkultur ein. Der Erzähler in «Venushaar» übt eben nicht nur seine Aufgabe auf dem Amt für Migration aus, sondern ist zugleich angestellt als «Dolmetsch in der Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung».
Ja, «Venushaar» ist tatsächlich eine vielstimmige Parabel auf das verlorene Paradies. Vor allem ist der Roman virtuos komponiert. In etlichen Bereichen übertrifft er wohl sogar Nabokovs «Bastardzeichen», das ebenfalls mit mehreren Schichten einer Lebenswelt und einer möglichen Emigration spielt.
vorgestellt von Dominik Riedo, Schriftsteller, Luzern
galerie Caro Niederer
«Appenzellerland», Öl auf Leinwand, 210 x 150 cm, 2010
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXX
Michail Schischkin: «Venushaar». München: DVA, 2011
14 Was hat das mit mir zu tun?
Flughafen Zürich, ich warte auf meinen Abflug nach Priština, Kosovo. Umgeben von Menschen, deren Sprache ich nicht verstehe, sie hingegen die meine schon. Fremd und unbehaglich fühle ich mich in ihrer Mitte, habe den Eindruck, beobachtet zu werden. Unwillkürlich muss ich an kosovarische Jugendliche denken, deren Geschichten mir aus den Gerichtsakten bekannt sind: Kriminelle, Leute, vor denen man sich besser in acht nimmt. Solche mir bis anhin unbewussten Vorurteile gegenüber zuvor noch nie gesehenen Personen erstaunen mich.
Bei der Lektüre von Eva Burkards «balkan-kids» erinnere ich mich an dieses Erlebnis. In den persönlichen Texten 13 gut integrierter und in der Ausbildung befindlicher Jugendlicher aus dem Balkan und der Türkei erhalten die fremdklingenden Namen ein Gesicht und eine Geschichte. Da berichtet Sajma davon, wie schwierig es für sie war, in der Schweiz mit der Ungewissheit über den Verbleib ihrer Familie aufzuwachsen und alle sechs Monate aufs neue um die Verlängerung des Flüchtlingsausweises zu bangen. Zvonimir erzählt davon, dass er die Schweiz als heile Welt erfährt, in der alles schon so fertig und überkorrekt ist, dass es sich für nichts mehr zu kämpfen lohnt. Und Eren kann besser mit Migranten über Sehnsucht oder Vertrautheit sprechen als mit Schweizern, die das Gefühl des Hin- und Hergerissenseins nicht kennen.
Die Träume der Jungendlichen von einem zukünftigen Leben in der oft idealisierten Heimat ähneln sich, in die sie jeweils im Sommer für einige Wochen zurückkehren. Das Pendeln zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen erschwert die Suche nach einer eigenen Identität. Ganz zugehörig fühlen sie sich nur unter ihresgleichen, unter Menschen, die auch das Los der Auswanderung teilen. Wenn die Medien das Bild des «serbischen Rasers», des «albanischen Schlägers» oder des «türkischen Messerstechers» hervorrufen, so gelingt es Eva Burkard mit diesem Buch, diese Migrantengruppen in ein differenzierteres, wenn auch auf andere Weise einseitiges Licht zu rücken. Denn leider werden die familiären Spannungen ausgeblendet, die durch den Zusammenstoss zweier unterschiedlicher Mentalitäten entstehen können.
Ich denke über meine eigene Beziehung zum Fremden nach, denke wieder an meinen Flug nach Priština. Nach meiner Ankunft erkundigte sich an der Gepäckausgabe ein junger Mann neben mir freundlich auf Schweizerdeutsch, weshalb ich seine Heimat besuche. Ich lächelte, fühlte mich mit meinen Vorurteilen ertappt. Etwas Vergleichbares bewirkt das Buch.
vorgestellt von Fabienne Schwyzer, Juristin, Zürich
Eva Burkard: «balkankids». Frauenfeld: Huber, 2010