Keine Panik?
Massen von Sparern können per Mausklick enteignet, Aktiendepots übers Wochenende konfisziert und private Goldbestände plötzlich für illegal erklärt werden: Das alles ist zwar theoretisch möglich, aber im Norden Europas unrealistisch. Oder doch nicht?
«Die Enteignungen auf Zypern sind einmalig.» «Private Einlagen bis 100 000 Euro sind gesichert.» «Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau Lewinsky.» «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.» «Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.»
Diese Sätze hallen in unseren Ohren nach. Worte sind Schall und Rauch. Nichts gilt. Aber alles ist möglich.
Als zu Beginn der Zypern-Krise im März 2013 zum ersten Mal die Möglichkeit einer Teilenteignung der Sparer öffentlich diskutiert wurde, war klar, dass sie schon beschlossen war. Und als die Troika beschwichtigte, dies sei ein einmaliger Vorfall, war ebenfalls klar, dass nun Fakten mit Referenzwert geschaffen waren. Wurde hier ein neuer Standard etabliert – hochoffiziell, unter dem Blick der Öffentlichkeit?
Entscheidend war nie, ob Zypern in letzter Sekunde die Kleinsparer ausklammern oder wie hoch die endgültige Enteignung sein würde. Entscheidend war vielmehr, dass willkürliche staatliche Enteignungen über Nacht möglich und rechtens sind, unabhängig davon, ob es nun die Zwangsspargroschen von Rentnern oder die Milliarden von Kapitalflüchtlingen betrifft, die in Eigenverantwortung in hochverzinsten Risikoanlagen investierten.
Zypern ist überall
Gläserne Bankkunden, Steuer- und Grundbuchdaten, engmaschige Vernetzung der einzelnen Quellen und die europaweiten Bemühungen, das Bargeld abzuschaffen, werden es in Zukunft den Regierungen erlauben, Europas Bürger über Nacht zu enteignen. Denn wenn jeder Bürger seine Barbestände nur noch in digitaler Form auf einem Server hat, genügt ein staatlicher Klick auf die Maustaste, um den Bürger um einen Teil seines Vermögens zu erleichtern. Ein Bankenrun ist ausgeschlossen, denn frühmorgens beim Kaffee realisiert jeder, dass es bereits passiert ist. Wer jetzt glaubt, dies sei in einem Rechtsstaat nicht ohne weiteres möglich und es gelte die staatliche Einlagegarantie, erweist sich als leichtgläubig. Zypern ist überall.
Für die Begründung und rechtliche Legitimation stehen genügend Juristen bereit. «Der grösste Bankraub aller Zeiten» («Spiegel Online») wird einfach als einmalige oder zweimalige Sondersteuer deklariert. Marketing ist alles, auch in der Politik. Deshalb diskutieren mittlerweile Politiker in allen verschuldeten Ländern öffentlich über mögliche Enteignungen, weil Enteignungen neuerdings keine Enteignungen mehr sind, sondern «Sondersteuern» oder «Zusatzabgaben» oder «Solidaritätsbeiträge». Wer in Eigenverantwortung gespart hat, wird bitter bestraft werden. «Und das wird das Modell der Zukunft sein», verplapperte sich Junckers Nachfolger, der niederländische Sozialdemokrat Jeroen Dijsselbloem. Insgeheim sagte er aber wohl bloss die Wahrheit: Längst müssen alle erkennen, dass die Schuldenkrise nicht allein mit Sparmassnahmen oder Steuererhöhungen gelöst werden kann. Hier bekäme die Regierung schnell den Widerstand der Bürger zu spüren. Es gibt unscheinbarere, wenn auch nicht weniger schmerzhafte Wege: Enteignungen per staatlichen Mausklick oder durch Weginflationierung der Staatsschulden, was ebenfalls eine Enteignung ist.
Seit der Zypern-Krise werden in allen europäischen Ländern Modelle durchgerechnet, die eine radikale «einmalige» Enteignung («Zwangsabgabe») zur ultimativen Tilgung der Staatsschulden zur Aufgabe haben. Wie viele Prozente an Vermögen muss man den Bürgern nehmen, damit die Staatsschulden «saniert» sind? Bundesfinanzminister Schäuble lässt zu diesem Thema sogar ein bisschen Humor aufblitzen: «Bankeinlagen sind eine sensible Sache, daher macht man es am Wochenende.» Die Politiker geben sich in der Tat erstaunlich offen. Niemand wird nachträglich behaupten können, er habe von nichts gewusst. Jean-Claude Juncker, bis vor kurzem Chef der Eurogruppe, erklärt das erprobte Kommunikationskonzept so: «Wir beschliessen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob etwas passiert. Wenn es dann kein grosses Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.»
Matratzen mit eingeklebtem Tresor
Einige haben aber genau hingehört. Aufmerksame Sparer ziehen neuerdings eine plötzliche Enteignung übers Wochenende in Betracht. Viele von jenen, die in besonders gefährdeten, sprich verschuldeten Staaten leben, haben bereits ihre Guthaben abgehoben und zu Hause versteckt. In Spanien skandieren die Demonstranten: «Rettet euren Euro, holt ihn aus den Banken!» Das hat sich mittlerweile auch unter professionellen Einbrechern herumgesprochen. In den meisten europäischen Ländern ist die Einbruchswelle bereits um 25 bis 30 Prozent gestiegen. Raubversuche auf allen Ebenen. Nur Francisco Santos (nein, nein, kein Politiker) hat angeblich eine Lösung parat: Der einst arbeitslose Spanier produziert seit kurzem Matratzen mit bombenfest eingeklebtem Tresor und verdient damit gutes Geld.
Der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger kommentierte vielsagend: «Europas Bürger müssen nun um ihr Geld fürchten.» Die meisten Menschen in den Nordländern denken weiterhin nonchalant, dies betreffe nur die Südländer. Doch könnten sie sich täuschen. In den hochentwickelten Ländern drängt sich die staatliche Enteignung durchaus auf. Denn in diesen Ländern sind alle technischen Voraussetzungen bereits vorhanden – und den meisten Bürgern geht es weiterhin relativ gut, so dass sie kaum aufbegehren dürften, wie dies vermehrt in südlichen Ländern geschieht. Das sind geradezu ideale Voraussetzungen.
Also raus aus dem digitalen Geld? Können Sachwerte tatsächlich vor Enteignung schützen?
Wer ein Haus oder Land besitzt, wird es schwer haben, sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Ein Haus lässt sich nicht einfach eintüten. Er muss die Sondergesetze und Solidaritätsabgaben wohl oder übel über sich ergehen lassen. Historischen Anschauungsunterricht darüber, wie solche Übungen vonstattengehen, gibt es genug.
Goldbesitz unter Strafe
Die Schlauen, die planen, das gesamte Guthaben in Schweizer Bluechips umzuwandeln, weil Aktien und Edelmetalle in der Hektik bisher vergessen wurden, könnten sich ebenfalls wundern: Die Server der Online-Aktiendepots werden gleichzeitig mit der Ankündigung stillgelegt.
In allen ähnlichen Finanz-, Wirtschafts- und Verschuldungskrisen flohen die Menschen bisher in die Ersatzwährung Gold, die zwar keine Zinsen abwirft, aber werthaltig bleibt. Im Gegensatz zu Papiergeld kann der Wert nie auf null sinken.
Und wie hat der Staat bisher darauf reagiert? Mit einer Sondersteuer auf den Kauf und Verkauf von physischem Gold. Dann folgt meistens das Verbot, Gold zu besitzen, und die Pflicht, das Gold bei Regierungsstellen zu einem sehr tiefen Kurs einzutauschen. Die Liste all jener Länder und Regierungen, die in den letzten 2000 Jahren den Goldbesitz unter Strafe gestellt haben, ist lang. Bereits Julius Cäsar verbot vorübergehend den Goldbesitz. Als der französische Finanzminister John Law of Lauriston vor 300 Jahren unter Louis XIV den Besitz von Goldmünzen und -barren verbot, um die Akzeptanz des immer wertloser werdenden Papiergeldes zu erzwingen, flüchteten die Leute in Goldschmuck. Als John Law auch noch den Goldschmuck verbot, schmolzen die verzweifelten Menschen ihr Restgold ein und gossen goldene Kruzifixe, also wurden auch diese schliesslich verboten. Während der Französischen Revolution wurde der Goldbesitz mit einem Gang unter die Guillotine bestraft. Und zuletzt war es der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der im Jahre 1933 unter Berufung auf den «nationalen Notstand» den privaten Goldbesitz verbot – er wollte den Abfluss von Gold aus den USA verhindern. Und bewirkte selbstverständlich das Gegenteil.
Kein Geringerer als Alan Greenspan, von 1987 bis 2006 Vorsitzender der amerikanischen Notenbank, schrieb 1966 in einem Aufsatz: «Die Finanzpolitik des Wohlfahrtsstaates macht es erforderlich, dass es für Vermögensbesitzer keine Möglichkeit gibt, sich zu schützen. Dies ist das schäbige Geheimnis, das hinter der Verteufelung des Goldes durch die Vertreter des Wohlfahrtsstaates steht. (…) Gold beschützt Eigentumsrechte.» Er hat recht. Der Staat, eigentlich Eigentumsschützer, kann seine Zähne zeigen und zwischendurch zum Enteigner werden.
Diese Eskalation, dieses ewige Katz-und-Maus-Spiel geht jeweils Hand in Hand mit der Stigmatisierung «der Reichen» zum nationalen Feindbild. Es spielt dabei keine Rolle, wie das Vermögen erwirtschaftet wurde. Es genügt, vermögend zu sein, um zum Feind des Volkes zu werden – ausgenommen sind lustigerweise einzig reiche Sportler, Schauspieler und Popstars.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die opportunistische Politik die Rechnung oftmals ohne den Wirt gemacht hat. Wer über ein beträchtliches Vermögen verfügt, hat nämlich keine Mühe, das Land zu verlassen. Die Schadenfreude der Einheimischen wird daher nur von kurzer Dauer sein, denn der Steuerausfall wird kompensiert mit einer höheren Belastung des Mittelstandes. Bis eines Tages alle gleich wenig haben. Das führt dann in der Regel zu sozialer Unrast mit ungewissem Ausgang nach links- oder rechtsaussen.
Aber zurück zur Aktualität. Historiker dürften eines Tages den Versuch der willkürlichen staatlichen Teilenteignung im Jahre 2013 als Dammbruch in der europäischen Finanzmarktgeschichte bezeichnen. Von da an glaubte kein mit einer gesunden Portion Skepsis ausgestatteter Europäer mehr an Rechtssicherheit, Staatsgarantien, sichere Renten und den Schutz des Privateigentums. Von da an war Europa eine Bananenunion, und Staat und Finanzplatz hatten das Vertrauen verloren, für das sie jahrzehntelang so wortgewaltig warben.
Nach dem Dammbruch in Zypern trieb die Enteignungskultur auf allen Ebenen ihre Blüten. Niemand konnte mehr ausschliessen, dass eines Tages ein Nicht-EU-Land wie die Schweiz genötigt würde, ihre Bürger teilweise zu enteignen, um einen Beitrag an die «europäische Idee» zu leisten. Bekanntlich knickten die Bundesräte jeweils in vorauseilendem Gehorsam ein, wenn die EU es nur schon wagte, laut über etwas nachzudenken.
Die EU hat den Boden für neue zwischenstaatliche Konflikte gelegt, weil sie im Grunde genommen den dubiosen Finanzplatz Zypern zerstören wollte. Konflikte entstehen schneller, als man denkt. Es wäre kein abwegiger Verlauf, wenn ausgerechnet jene Romantiker, die eine einige EU anstrebten, um nach dem Zweiten Weltkrieg den Frieden in Europa für alle Ewigkeit zu sichern, mit genau dieser EU einen ernsthaften innereuropäischen Konflikt entfesselten.
Leider haben die wenigsten Menschen ein gutes Gedächtnis – wer es nicht trainiert, dem fehlt der historische Sinn. Was sich im Laufe ihres Lebens noch nie ereignet hat, halten die meisten für unmöglich. Dabei vergessen sie, dass es in der Geschichte der Menschheit kaum eine Generation gegeben hat, die nicht entweder von Seuchen, Kriegen, Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Finanz- und Wirtschaftskrisen heimgesucht worden ist.
Aber werden in Zukunft Enteignungen von Sparern und Privatanlegern ausreichend sein? Aufgrund der unaufhaltsam fortschreitenden Verschuldung und Verarmung Europas werden auch finanzielle Forderungen bzw. Enteignungen unter Staaten salonfähig werden. Jedes europäische Land in Finanznot kann uralte Forderungen ausgraben, wie es gerade die Griechen testweise mit Reparationszahlungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges gegenüber Deutschland versuchen. Deutschland wird nicht bezahlen. Aber wie sicher sind deutsche Vermögen in Griechenland?
Unter diesem Aspekt ist es durchaus relevant zu wissen, wo die einzelnen Nationalbanken ihre Goldreserven im Ausland geparkt haben. Vor dem Zweiten Weltkrieg bunkerten diverse Nationalbanken ihr Gold in sicheren Ländern, vor allem in den USA. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die in den USA lagernden Schweizer Goldreserven von Washington blockiert. Ohne Rechtsgrundlage. Gold im Wert von immerhin sechs Milliarden. Nach dem Krieg wollten einige Nationalbanken ihr Gold zurück. Aber die USA waren darüber nicht erfreut. Sie blockierten die Goldvermögen weiterhin. Charles de Gaulle schickte 1966 ein französisches Unterseeboot vor die amerikanische Küste und forderte ultimativ Frankreichs Gold zurück. Er hatte Erfolg und brachte das Gold nach Paris. Andere Länder wurden nicht bedient. Deshalb entstand die Theorie, wonach das physische Gold gar nicht mehr vorhanden sei. Genährt wurde sie in der Schweiz vom früheren Finanzminister Kaspar Villiger, der 2003 gegenüber dem Parlament verlauten liess: «Wo diese Goldbarren nun genau lagern, kann ich Ihnen leider nicht sagen, weil ich es auch nicht weiss, es nicht wissen muss und es nicht wissen will.» Vor kurzem wurde bekannt, dass der Grossteil des Schweizer Golds in der Schweiz lagern soll. Wie viel Gold die Amerikaner bunkern, ist hingegen weiterhin ein gut gehütetes Geheimnis.
Dass Länder in Finanznöten rechtsstaatliche Bedenken relativ rasch über Bord werfen, zeigen nicht nur die notorischen Firmenenteignungen in südamerikanischen Staaten, sondern auch die allgemeine Akzeptanz in Europa, gestohlene Steuer-CDs vom Staat aufkaufen zu lassen. Der Zweck heiligt die Mittel, und kaum jemand spricht vom Tatbestand der Hehlerei, wie es in unseren Gesetzgebungen eigentlich definiert wäre. Ist es nun abwegig, sich auszumalen, dass eines Tages eine ausländische Regierung ihr anvertrautes Schweizer Gold mit dem Argument beschlagnahmt, die Schweiz begünstige Steuerhinterzieher und vermindere somit das Steuersubstrat ihres Landes um einen hohen Milliardenbetrag?
Wer weiss schon, auf welche kruden Ideen Regierungen kommen, wenn sie von Schuldenbergen erdrückt und von neuen nationalistischen Bewegungen bedrängt werden? Vieles wird denkbar sein. Man stelle sich weiter vor, wie im Falle einiger Euro-Austritte die Länder sich gegenseitig mit Nachforderungen eindecken würden, um ihre ausstehenden Schulden zu verrechnen. Natürlich wird heute niemand zugeben, dass solche Szenarien bereits in den Hinterköpfen gären. Es wird weiterhin behauptet, dass Anlagen von Zentralbanken Immunitätsschutz geniessen würden. Aber welche Nationalbank traut der andern noch?
Wir haben keine Liquiditätskrise – wir haben eine Vertrauenskrise. Keiner traut dem andern, keiner leiht dem andern Geld, denn alle wissen, dass alle lügen.
«Wenn es ernst wird, muss man lügen», sagte der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker im April 2011 an einer Abendveranstaltung zur Eurokrise in Brüssel. Es ist deshalb verständlich, dass nun nicht nur die Schweiz, sondern auch Deutschland und Österreich daran sind, ihre im Ausland gebunkerten Goldreserven zurückzuholen. Das Erpressungspotential ist offensichtlich zu gross geworden.
Die Schweiz dürfte Glück haben, da angeblich bereits 70 Prozent der über 1000 Tonnen Gold der SNB in Schweizer Tresoren lagern. 20 Prozent liegen noch bei der Zentralbank von England und 10 Prozent bei der kanadischen Zentralbank. Aber Länder, die ihr Gold noch in den USA gelagert haben, könnten bitter enttäuscht werden. Denn in den US-Statistiken taucht das Fremdgold neuerdings nicht mehr als physisches Gold auf, sondern nur noch als «Goldforderung». Das wäre dann eine ironische Variante des Alchemismus. Aus Gold wurde Papier.