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Vergesst Rousseau!

Jean-Jacques Rousseau war weder ein origineller Denker noch hat er der Freiheit einen Dienst erwiesen. Im Gegenteil. Dank seines süssen Gifts des «gemeinen Willens» landen offene Gesellschaften direkt im Kollektivismus. Wir sollten ihn endlich vergessen.

Vergesst Rousseau!

«Rousseau pour tous» – das ist der Slogan, mit dem die Stadt Genf die Volksbildungsfestivitäten bewirbt, mit denen sie den vor dreihundert Jahren dort geborenen Philosophen ehrt. Seinerzeit lag sie mit Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) eher über Kreuz. Seine beiden 1762 erschienenen Bücher «Emile ou De l’éducation» und «Du contrat social ou Principes du droit politique» wurden in der calvinistischen Stadt – nicht anders als in Paris – verboten; gegen den Autor erging ein Haftbefehl. Nicht nur aus später Genugtuung, auch inhaltlich hätte der Genfer Slogan Rousseau selbst, dem Erfinder des Gemeinwillens, womöglich gefallen. Schliesslich war das genau sein Thema: Eine entsprechend konzipierte Bildung und Erziehung sollte dafür sorgen, dass sich der individuelle Wille harmonisch in den Gemeinwillen fügt. Nur wäre es Rousseau kaum eingefallen, seinen Geburtstag feierlich zu begehen: «Ich kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück», schrieb er in seinen «Bekenntnissen». Es folgten noch viele weitere Malheurs. Rousseau führte ein unstetes Leben, war kränklich, ständig auf der Flucht, egozentrisch, innerlich zerrissen und eine notorisch gequälte Seele.

Die Ideen Rousseaus werden bis heute als grosser Wurf gefeiert, als Meilenstein der Philosophiegeschichte und des Liberalismus, gerade wieder in diesen Monaten. Die Begeisterung erfasste bereits Rousseaus Zeitgenossen. Der schottische Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith (1723–1790) bejubelte in Rousseau eine innovative intellektuelle Kraft, welche die moralischen Ungeheuerlichkeiten des Doktors Bernard Mandeville («Private Laster, öffentliche Vorteile») zurechtzurücken imstande sei; David Hume (1711–1776) lud den verfolgten Autor nach England ein und hielt ihn in seiner Gutmütigkeit auch finanziell aus, was ihm freilich nur Schmähungen eintrug. Immanuel Kant (1724–1804) liess sich im fernen Königsberg von ihm inspirieren. Wenig später konnte sich der stürmende und drängende junge Dichter Friedrich Schiller (1759–1805) vor Begeisterung kaum mehr halten, hiess Rousseau in einer (später wohl aufgrund besserer Einsicht drastisch gekürzten) Ballade «einen kühnen Reformator» und dichtete tränenreich: «Nicht für diese Welt warst du – zu bieder / Warst du ihr, zu hoch – vielleicht zu nieder – / Rousseau, doch du warst ein Christ. / Mag der Wahnwitz diese Erde gängeln! / Geh du heim zu deinen Brüdern Engeln / Denen du entlaufen bist.»

Das sind starke Worte von Denkern, deren freiheitliches Engagement ausser Zweifel steht und deren Bewertungen ernst zu nehmen man grundsätzlich durchaus geneigt ist. Und doch sind sie, mit der nötigen Distanz der Nachgeborenen betrachtet, einem monumentalen Irrtum aufgesessen. Rousseau sprach zwar von Freiheit, aber er meinte materielle Gleichheit; er romantisierte das Individuum, aber er erstickte es im Zwang des Kollektivs; er sprach von Volkssouveränität, aber er ebnete dem Totalitarismus den Weg. Von Rousseau führt der Weg nicht nur zum Umverteilungsstaat, zum aufgeblähten Wohlfahrtsstaat und zum Schuldenstaat von heute. Seine geistigen Erben heissen auch Karl Marx, Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin. Marx zum Beispiel hatte Rousseau in seinem Werk «Das Kapital» sogar mit dem höhnischen Satz zitiert: «Ich werde gestatten, sagt der Kapitalist, dass ihr die Ehre habt, mir zu dienen, unter der Bedingung, dass ihr mir für die Mühe, die ich mir mache, euch zu kommandieren, das wenige gebt, was euch bleibt.» Der Einschub «sagt der Kapitalist» allerdings stammte von Marx persönlich.

Wahrscheinlich war die politische Eskalation seines Denkansatzes in Richtung Totalitarismus mitnichten Rousseaus Absicht; und er stand auch beileibe nicht allein damit, die Fährnisse seiner Konstruktionen zu übersehen. Wer ihn so anbetete wie Schiller, der hatte wohl einfach so kraftvolle Sätze im Ohr wie: «Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten» oder «Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will». Es gibt allerdings auch andere Sätze, die einem freiheitlich gesinnten Menschen das Blut in den Adern gefrieren lassen: «Rückt die Meinungen des Volkes zurecht, und seine Sitten werden sich von selbst bessern.» Oder: «Der Eigentumsteufel vergiftet alles, was er berührt.»

Womöglich bezieht sich die Bewunderung für Rousseau auch schlicht auf dessen Beitrag zur Entdeckung des Individuums und dessen Gefühlswelt. Vor Rousseau hatte man im cartesianisch-rationalistisch geprägten und schon von der Aufklärung erfassten französischen Sprachraum vor allem auf die Vernunft gesetzt, die man scharf vom Gefühl schied. Rousseau nun ritt – zum Entsetzen seines einstigen Förderers Denis Diderot, der ihn in seiner «Encyclopédie» hatte schreiben lassen – einen Frontalangriff gegen die Aufklärung und ihre Betonung des vernünftig handelnden Menschen. Stattdessen postulierte der übersteigert empfindsame Denker eine Philosophie, nach der im Gefühl der unverdorbene Ausdruck menschlicher Güte zu erkennen sei. Damit zementierte er allerdings den cartesianischen Dualismus bloss von der anderen Seite. Das war eine anthropologische Engführung, der sich ausserhalb Frankreichs weder Adam Smith («Theory of Moral Sentiments») und David Hume («A Treatise on Human Nature») noch Friedrich Schiller («Über das Erhabene») anschlossen. Ihr Menschenbild war umfassender.

Von bleibender Bedeutung für die politische Philosophie war Rousseaus Ablehnung staatlicher Willkür, der Gedanke der Bindung an das Gesetz, die Idee der Volkssouveränität und die kontrakttheoretische Legitimierung des Staates. Es war dies sein Versuch einer Antwort auf die Grundfrage, wie eine freiheitliche Staatsordnung aussehen kann, und für alle seine Ansätze fand er im vorrevolutionär gärenden Frankreich damals den Boden bereitet. Der Ständestaat war längst nicht mehr tragbar – aber wie sollte das politische und gesellschaftliche Gefüge der Zukunft aussehen? Die Gedanken der Volkssouveränität und des Gesellschaftsvertrags waren indes beileibe nicht neu. Die Idee der – von Gott und dem Naturrecht abgeleiteten – Volkssouveränität findet sich schon im späten fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in den heute zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geratenen Schriften der Mönche der spätscholastischen Schule von Salamanca. Sie liegt ebenfalls dem Gesellschaftsvertrag zugrunde, mit dem das sonst einander bekriegende Volk in dem ungeschichtlichen Gedankenexperiment von Thomas Hobbes (1588–1679) alle Gewalt an den Staat als Leviathan abgibt und aus einer Gefangenendilemmasituation herausfindet. Dass Herrschaft überhaupt notwendig sei, hatte Hobbes eigener schmerzlicher Anschauung von Jahrzehnten des Bürgerkriegs in England entnommen. Doch die Herrschaft sollte nicht oktroyiert werden; freie Bürger sollten hierüber einen Konsens erreichen können.

Wie angesichts widerstreitender Interessen ein solcher Konsens in der Realität gefunden werden kann oder worin zumindest eine Annäherung bestehen mag, ist seitdem ein ungelöstes Dilemma der politischen Philosophie. Das Problem liegt darin, dass für jeden Bürger stets ein Anreiz besteht, für die Gemeinschaft sinnvolle Regeln zugunsten des eigenen kurzfristigen Vorteils abzulehnen. Partikularinteresse und Gemeinwohl drohen somit nicht zur Deckung zu kommen. Wie lässt sich das überwinden? Der Philosoph John Rawls überlegte sich 1971 in seiner «Theorie der Gerechtigkeit» dazu einen – ebenfalls freilich wieder nur fiktiven und nicht realisierbaren – «Schleier des Nichtwissens», hinter dem der Bürger sein Partikularinteresse vergisst. Wenn die Bürger keine Ahnung hätten, ob sie Mann oder Frau, arm oder reich, dumm oder intelligent, Europäer oder Afrikaner sind und wie es um ihre gesellschaftliche Position bestellt ist, so die Idee, dann könnten sie sich auf allgemeine Regeln einigen, die tatsächlich im gemeinsamen Interesse liegen. Der Ökonom James M. Buchanan fokussiert statt auf eine fiktiv herbeigedachte Einigung lieber gleich nur noch auf das Kriterium der Zustimmungsfähigkeit: Legitim sind dann nur solche staatlichen Einrichtungen und Handlungen, denen die Bürger aufgrund ihres Eigeninteresses wahrscheinlich zustimmen können.

Statt das Problem zu lösen, war Rousseau seinerzeit beherzt darüber hinweggegangen: Er postulierte einfach, dass es einen Zustand gebe, in dem zwischen den Menschen gar keine widerstreitenden Interessen mehr existierten. Woraus er folgerte: Wo dies dennoch der Fall sei, zeige dies bloss den schlechten Einfluss der Gesellschaft auf die Menschen. Mit Hilfe der Erziehung jedoch könne es gelingen, die Menschen wieder zum Naturzustand zurückzuführen und ihre Präferenzen so zu formen, dass sie in einem gemeinsamen Willen zusammenfänden: dem Gemeinwillen. Damit hätten sie zugleich ihre Freiheit gefunden, die für Rousseau nichts anderes bedeutet, als das zu wollen, was alle wollen, in seinen Worten: «Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat.» Wer vom gemeinen Willen abweicht, wird zur Freiheit gezwungen – mit Recht: denn er hat sich seiner guten Natur entfremdet. Um den Gemeinwillen durchzusetzen, dürfen selbst die Gewissensfreiheit, die Religionsfreiheit und die Redefreiheit der Bürger ausgesetzt werden. Diese schauerliche Konstruktion zur Legitimierung des Zwangs fusst auf einem sozialkritischen Befund, mit dem man noch heute am Stammtisch punkten kann. Die Hauptingredienzien lauten: Der Mensch ist eigentlich gut; doch Ungleichheit verdirbt den Charakter; Eigentum ist Diebstahl und zementiert die Ungleichheit; dagegen muss etwas geschehen – und notfalls mit Gewalt.

Wo Hobbes von einem «Krieg aller gegen alle» schrieb und davon, dass im Naturzustand das Leben «einsam, armselig, scheusslich, tierisch und kurz» sei, schwärmte Rousseau vom Naturzustand und hielt den Menschen an sich für gut. Er feierte den naturverbundenen «edlen Wilden» und betrachtete erst die pervertierenden Kräfte der Gesellschaft als Quelle der menschlichen Charakterverbiegung und Verkünstelung. Die einzig richtige Antwort darauf fand Voltaire, der in einem Brief an Rousseau böse spottete: «Noch niemand hat so viel Geist leuchten lassen wie Sie in dem Bestreben, uns wieder zu Bestien zu machen; man bekommt […] ordentlich Lust, wieder auf allen vieren zu gehen.»

Indem Rousseau das Gute im Menschen betonte, begründete er seine Ideen jedoch offenbar auf eine zumindest vordergründig sympathischere Weise, die bei den Idealisten und Romantikern des achtzehnten Jahrhunderts ebenso verfing wie bei ihren Nachfolgern von heute. Adam Smith beispielsweise muss es gefallen haben, dass Rousseau fest daran glaubte, dass jedermann mit einem Gewissen ausgestattet sei. «Es gibt im Innern der Seele ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und der Tugend, nach dem wir, unseren eigenen Grundsätzen zum Trotz, unsere Handlungen und diejenigen anderer als gut oder böse beurteilen», schrieb Rousseau, und Smith widmete dieser Beobachtung in einem Leserbrief an die «Edinburgh Review» viel Raum und lobende Worte. Nicht nur David Hume, auch Francis Hutcheson (1694–1746), der einstige Lehrer von Smith in Glasgow, hatte mit einem solchen angeborenen «moral sense» des Menschen gerechnet. Smith allerdings erkannte, dass ein solches axiomatisches Postulat unterkomplex und somit nicht zufriedenstellend ist. In seiner 1759 veröffentlichten «Theory of Moral Sentiments» hinterfragte er die Wurzeln der Tugenden, konstruierte zur Erklärung des Gewissens die Denkfigur des «unparteiischen Beobachters», die jeder in der eigenen Brust trage, und führte die Genese moralischer Überzeugungen auf einen Prozess gesellschaftlicher Rückkopplungen zurück. In unserer Reaktion auf­einander bieten wir einander ein fortwährendes Verhaltenskorrektiv: Wer über die Stränge schlägt, wird das schon erfahren. Zugleich verständigen wir uns so indirekt auf das, was innerhalb der Gemeinschaft als moralisch gelten soll.

Smith freilich war Empiriker; dass im gesellschaftlichen Miteinander jeder jedem den Spiegel vorhält, betrachtete er schlicht als normal und erkannte darin einen evolutionären Prozess. Für Rousseau jedoch war genau diese gesellschaftliche Existenz des Individuums ein widernatürliches Unheil, verschärft durch die Erfindung des Privateigentums, der Wurzel alles Bösen. Die Begründung des Privateigentums durch John Locke (1632–1704), der die Frucht der eigenen Hände Arbeit als Teil des Verfügungsrechtes am eigenen Körper versteht, überzeugte ihn nicht. «Der erste, der ein Stück Landes umzäunte, es sich in den Sinn kommen liess zu sagen: ‹Dies ist mein›, und einfältige Leute fand, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Greuel hätte der dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen […] hätte.» Dass die Notwendigkeit eines gesicherten Privateigentums auch im ökonomischen Phänomen der Knappheit begründet ist, erschloss sich ihm nicht. In der Rückschau nach Jahrzehnten des praktizierten Sozialismus wissen wir heute jedoch nur zu genau, dass Gemeineigentum nicht gerade zu Strebsamkeit und dazu anhält, mit knappen Ressourcen pfleglich umzugehen – mit dem Ergebnis, dass es jedermann schlechter geht.

Die Ungleichheit der Menschen wiederum, die angeblich von der Institution des Eigentums festgeschrieben wird, bedingt nach Rousseau nicht nur eine ungesunde Arbeitsteilung – ein Problem, das auch der grosse Theoretiker und Fürsprecher der Arbeitsteilung Adam Smith im Blick hatte, der sich durchaus um die damit einhergehende Verengung des Horizontes gerade in den unteren gesellschaftlichen Schichten sorgte. Doch anders als Smith erkennt Rousseau nicht, dass materielle Ungleichheit ein Fortschrittsmotor ist; die Idee, dass einmal ein Tellerwäscher zum Millionär werden könnte, war für ihn wohl zu verwegen. Für ihn führt Ungleichheit zu sozialen Spannungen und verursacht eine tiefe persönliche Zerrissenheit. Der Mensch, der sich laufend mit anderen vergleicht und nach Anerkennung giert, muss nach Rousseau permanent sein Ungenügen empfinden und unglücklich sein. Er steht in Abhängigkeit und Konkurrenz, und er nimmt Schaden an seiner Seele. Er kann gar nicht anders, als seinen Mitmenschen ständig etwas vorzuspielen – die charakterlichen Folgen sind Ichfixiertheit, Ehrgeiz, Koketterie, Eitelkeit und andere destruktive Leidenschaften; die gesellschaftlichen Folgen sind Hierarchien und Klassenkonflikte.

Man kennt das. Es ist aber leider nicht viel mehr als eine fehlgeleitete, aus billiger Küchenpsychologie hergeleitete Gesellschaftskritik. Es gehört nun einmal zur Natur des Menschen, auf andere zu schauen. Erst im Begreifen des anderen wurzelt das Bewusstsein des Selbst. Und der Mensch ist ein wettbewerbliches Wesen. Wenn er nicht nach materiellen Dingen streben darf, sucht er seine Mitmenschen anderweitig zu beeindrucken. Womit, ist dabei offen – durch besondere Wohltätigkeit oder Skrupellosigkeit, durch Frömmigkeit oder Macht. Das Streben ist dem Menschen eigen – und wenn es sich auf positive Werte richten darf, dann tut es ihm auch gut: Was ist denn mit der motivierenden und befreienden Wirkung des Erfolges? Mit dem verbindenden Erlebnis der Gemeinschaft, die hierfür die Folie bietet? Mit der gegenseitigen Fürsorge, die ohne den Erfolg einzelner nicht denkbar ist?

Anders als Smith glaubte Rousseau nicht, dass es zu einem natürlichen Gleichgewicht und zu einem zwischenmenschlichen Ausgleich kommen kann. Seiner Meinung nach lebt jeder einzelne im Zustand fortdauernder Lüge und entfremdet sich zwangsläufig seiner selbst; er ist innerlich gespalten. Der optimistische Fortschrittsglaube, der mit der Aufklärung einherging, macht nach Ansicht von Rousseau alles nur noch schlimmer. Aus freiheitlicher Sicht könnte er damit allenfalls dann recht haben, wenn Vernunft unweigerlich in Hybris münden müsste. Die Gefahr besteht zwar, wie gerade das Rousseausche Erbe verdeutlicht; aber zwingend ist das nicht: Die Vernunft ist auch dazu angetan, die Vernünftelei in Schach zu halten. Einer Gesellschaft vernunftbegabter Menschen, die um die Fehlbarkeit ihrer Spezies wissen, ist es aufgegeben, gesellschaftliche Einrichtungen zu finden, die mit diesen Begrenztheiten klarkommen. Und das ist eine einzigartige Chance.

Trotz oder vielmehr gerade wegen seiner sozialkritischen Miesepetrigkeiten wurde Rousseau vor allem mit den Ideen zur Volkssouveränität und zum Gesellschaftsvertrag immerhin zum Ideengeber der 1789 beginnenden und nach ganz Europa ausstrahlenden Französischen Revolution. Mit der Überwindung des feudalistischen Ständestaats und der Einführung individueller Freiheitsrechte macht die Französische Revolution in der Tat einen Meilenstein in der Geschichte der Freiheit aus. Allerdings verläuft die Geschichte nun einmal nicht linear; wo Licht ist, ist auch Schatten. Auf die erste hoffnungsvolle Phase der Französischen Revolution folgte mit der wüsten, schreckensreichen, undemokratischen und rechtlosen Zeit der «Terreur» ein fürchterlicher Rückschlag; eine Degenerationserscheinung, die Frankreich am Ende in die Arme des Usurpators Napoléon Bonaparte führte. Dass sich insbesondere der berüchtigte Maximilien Robes­pierre ausdrücklich auf Rousseau berief, muss nicht verwundern. Aus Rousseaus Legitimierung des Zwangs zur Bewahrung des Gemeinwillens folgte für Robespierre, dass die Gegner der Republik ihre Meinung ändern oder eben sterben mussten. Es verdeutlicht die Tatsache, dass in Rousseaus Gedankengebäude etwas Entscheidendes missraten war: Er spricht von Freiheit, doch in seiner Theorie ist finsterster Totalitarismus angelegt – mit Todesfolge.

Und überhaupt: schon allein der Ansatz, die postulierte innere Zerrissenheit des Menschen beheben zu wollen, indem dieser mit seinem ganzen Willen mit der Gemeinschaft verschmilzt, der er angehört, ist geradezu eine Einladung zur Manipulation des Individuums und zur organischen Überhöhung des Kollektivs. Demokratisch kann man das längst nicht mehr nennen: Demokratie ist als ein Verfahren zum Interessenausgleich gedacht; Rousseau will die Interessenunterschiede durch Verschmelzung ausradieren und die Menschen gleichschalten. In Kombination mit seiner Verteufelung des Privateigentums und der Ungleichheit führt dies ohne Umwege zu Umverteilung und Enteignung und immer weiter bis hin zur Zentralverwaltungswirtschaft, wie sie im real existiert habenden Sozialismus zu besichtigen war. Der Einladung in diese Richtung sind im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte allzu viele Geister gefolgt. Selbst in den Demokratien des Westens leiden wir noch heute unter den gravierenden Kollateralschäden dieser verfehlten Gedankenspielerei. In welche Sackgasse es führt, wenn sich Umverteilung, mangelnder Schutz des Privateigentums und eine unscharfe Begrenzung des staatlichen Radius verbinden, lässt sich derzeit gut beobachten: in den Schuldenstaat.

Da half es auch nichts, dass nach Rousseau schon bald Benjamin Constant (1767–1830) die Bühne der politischen Philosophie betrat, ein weiterer, weniger irrlichternder Schweizer. Constant erklärte, dass politische Freiheit nicht alles, sondern ohne persönliche Freiheit nichts sei, dass es Vorkehrungen gegen einen Abusus selbst der demokratisch legitimierten Staatsgewalt zu treffen und die Privatsphäre jedes Menschen vor Übergriffen zu schützen gelte. Doch das süsse Gift des Rousseauschen gemeinen Willens war nun schon in der Welt. Allzu viele Menschen hat es seither krank gemacht. Muss man das noch feiern? Es wäre vielmehr an der Zeit, Rousseau und seine Ideen nun endlich gründlich zu vergessen.

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