Die Altersvorsorge muss aus den Fängen der Bürokraten befreit werden
Das Regulierungskorsett in der zweiten Säule wird immer enger, es schadet den Versicherten. Die Bilanz einer Karriere in der beruflichen Vorsorge.
Nach einem Berufsleben in der beruflichen Vorsorge bin ich dieses Jahr in Pension gegangen. In diesem Alter zeigt sich gewöhnlich eine gewisse Altersmilde – Stabilität, Vertrauen, Gelassenheit. Diese Charakteristiken sollte nach Jahrzehnten der Entwicklung eigentlich auch die berufliche Vorsorge zeigen. Stattdessen hat sie eine Phase der Überregulierung erreicht, die eher an jugendlichen Übereifer erinnert als an weise Reife.
Die Überregulierung ist selten böswillig gemeint. Sie entsteht durch ein Zusammenspiel mehrerer psychologischer, politischer und institutioneller Mechanismen.
1. Politische Risikovermeidung
Politiker und Behörden wollen Fehler vermeiden – vor allem solche, die öffentlich sichtbar werden. Tritt irgendwo ein Missstand oder Skandal auf, ruft man sofort nach strengeren Regeln. Das Resultat ist Symbolpolitik: Statt das Vertrauen in bestehende Mechanismen zu stärken, schafft man neue Vorschriften. Nur um zu zeigen, dass man «etwas tut».
2. Kontrollillusion und Misstrauenskultur
Eine strenge Regulierung vermittelt das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. In komplexen Systemen – wie der beruflichen Vorsorge – leidet aber die Eigenverantwortung unter der zunehmenden Regulierung, weil das Wirken des eigenen Handelns nicht mehr absehbar ist.. Die Folge: Statt auf Professionalität und Selbstregulierung zu vertrauen, versucht man, jede Eventualität abzusichern, was zu immer detaillierteren Regeln führt.
3. Komplexität erzeugt Komplexität
Je mehr Regeln es gibt, desto mehr Ausnahmen, Übergangsbestimmungen und Spezialfälle entstehen. Das System wird dadurch selbstreferenziell – jede neue Regel dient dazu, Lücken der alten zu stopfen. Die Bürokratie erhält sich so selbst.
4. Interessenpolitik und Druck von Lobbys
Verbände, Aufsichtsbehörden und Beratungsfirmen haben oft ein Eigeninteresse an mehr Regulierung, weil sie dadurch ihre Relevanz, Macht oder Geschäftsfelder ausbauen können. Regulierung schafft neue Aufgaben – und erhält damit ganze Branchen (zum Beispiel Compliance, Audit, Reporting).
5. Kultur der Fehlervermeidung
In westlichen Gesellschaften – besonders in Westeuropa – herrscht eine Null-Fehler-Kultur: Jedes Risiko soll ausgeschlossen, jede Verantwortung klar geregelt sein. Das führt zu einer Verrechtlichung des Vertrauens: Wo früher gesunder Menschenverstand genügte, braucht es heute Paragrafen.
6. Fehlender Mut zum Loslassen
Regeln und Vorschriften werden leicht geschaffen, aber kaum je abgeschafft. Keine Aufsicht will auf Kompetenzen verzichten, kein Politiker will Verantwortung übernehmen, falls danach etwas schiefgeht. So wächst der Regulierungsbestand wie ein dichter Wald, in dem sich niemand mehr zurechtfindet.
Pensionskassen in Sippenhaft
Das folgende Beispiel zeigt, wie das Fehlverhalten weniger Verantwortlicher in einem Einzelfall ein tadellos funktionierendes System unter Generalverdacht stellte:
Anfang 1996 wurden die Vera/Pevos-Sammelstiftungen wegen Überschuldung zwangsliquidiert. Mit einer aggressiven Expansionsstrategie erwarben die Stiftungen zahlreiche Liegenschaften in der ganzen Schweiz, teils überbewertet, teils mit hohem Fremdkapital finanziert. Das Vorsorgevermögen war kaum diversifiziert – der grösste Teil des Stiftungsvermögens floss in Immobilien. Die damaligen Anlagevorschriften gemäss der Verordnung über die berufliche Vorsorge (BVV 2) mit einem erlaubten Immobilienanteil von maximal 50 Prozent wurden massiv verletzt. Zudem führte eine mangelhafte Governance zu unheiligen Verflechtungen zwischen Stiftungsräten, Verwaltern und den Immobiliengesellschaften.
Obwohl die Causa Vera/Pevos klar als Einzelfall und isolierter Governancefehler erkennbar war, intensivierte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) als zuständige Aufsicht die Kontrollen und verschärfte die Meldepflichten. Der Bundesrat reduzierte die erlaubte Immobilienquote per 2009 von 50 auf 30 Prozent.
Überschreitet eine Pensionskasse die Begrenzung von 30 Prozent, muss sie dies im Anhang ihrer Jahresrechnung schlüssig begründen. Der Begriff «Überschreitung» suggeriert aber den Stiftungsräten unbegründet ein fehlerhaftes Vorgehen, weshalb sie die Immobilienquote lieber vorsichtig tiefer halten. Der aktuelle Durchschnitt liegt bei knapp 25 Prozent.
Wie aber die Pensionskassenstudie 2025 der Swisscanto zeigt, weisen die Pensionskassen mit der besten Performance einen überdurchschnittlichen Immobilienanteil von 29,9 Prozent auf. Die Low-Performer haben dagegen eine Quote von lediglich 20,4 Prozent. Zwischen 2020 und 2024 erreichten die Top-Performer kumuliert eine um fast 15 Prozentpunkte höhere Rendite als die Low-Performer. Das sind Erträge, die den Versicherten letztlich auf ihren Vorsorgeguthaben fehlen.
Die zunehmenden Eingriffe des Regulators führen zu Unsicherheiten bei den Pensionskassenverantwortlichen, die in der Folge ihre Risikobereitschaft trotz vorhandener Risikofähigkeit reduzieren und somit ihre Renditepotenziale ungenutzt lassen. Der Leidtragende ist wieder der Versicherte.
Die Regulierung schafft die Gestaltungsfreiheit ab
Das Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) feiert dieses Jahr sein 40-Jahr-Jubiläum. In dieser Zeit hat sich das BVG-Rahmengesetz mit seinen rund 40 überblickbaren Artikeln zu einem wahren Paragrafenmonstrum mit über hundert Bestimmungen und Verordnungen entwickelt. Im Vergleich zu anderen Bundesgesetzen zeigt sich, dass die Umsetzung notwendiger Anpassungen in der zweiten Säule alles andere als trivial ist. Fachlich, technologisch und zeitlich stehen die Verantwortlichen vor ständigen Herausforderungen. Besonders knifflig wird es, weil oft nicht eindeutig ist, welche Anpassungen wirklich zwingend sind und welche optional.
Die berufliche Vorsorge lebt vom Engagement erfahrener Menschen im Milizsystem – von Freiwilligen, die Verantwortung übernehmen. Doch je dichter das Netz staatlicher Vorschriften wird, desto mehr verschwindet ihre Freiheit in einem regulatorischen Labyrinth. Wer sich heute noch als Stiftungsrat engagieren möchte, muss nicht nur Motivation mitbringen, sondern auch eine Portion juristisches Fachwissen und Geduld für endlose Formularfluten.
Das Ergebnis: Die Attraktivität der beruflichen Vorsorge sinkt dort, wo sie einst am grössten war. Und während Vorschriften munter weiterwachsen, sitzt der engagierte Stiftungsrat oft kopfschüttelnd da und denkt: «Früher konnte man noch gestalten – heute muss man Bericht erstatten.»
Man könnte sagen: Der Staat hat in Sachen Regulierung keine Altersmilde entwickelt, sondern eher eine Midlifecrisis. Er versucht, Kontrolle durch Aktivität zu kompensieren – und merkt nicht, dass zu viel Fürsorge manchmal genauso schadet wie zu wenig.