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Das Paradies der Nichtleser

Das Künstlerduo Lutz & Guggisberg

Das Paradies der Nichtleser

Was gibt es Schöneres als Buchdeckel! Verheissungen aus festem Karton, die eine Welt umschliessen. Wie die Schale den süssen Mandelkern, das bedruckte Hochglanzpapier die Sprüngli-Pralinés, der rote Seidenüberwurf das neueste Ferrarimodell, die Kleidung den Körper des Geliebten. Zu langes Warten empfiehlt sich nicht, denn alles verdirbt, rostet oder verwelkt mit der Zeit. Besser ist, auszupacken und zu geniessen. Mit einer Ausnahme – der Inhalt zwischen den Buchdeckeln kann zugeklappt bleiben. Denn geschlossene Buchdeckel sind ein Wechsel auf die Ewigkeit. «Der Zauberberg», «Krieg und Frieden», «Der Mann ohne Eigenschaften», «Die Verwandlung», «Das Kapital» oder «Also sprach Zarathustra»: alles Titel, die sich einlegen lassen in die Zwille der Phantasie, um dann in die unendlichen Räume des Imaginären geschossen zu werden, die durchweht sind vom so oft schon gehörten Gerede und Geraune über das, was zwischen den Buchdeckeln verborgen sein soll.

«Vorsicht: nicht öffnen!», sollten wir, die Liebhaber des Unendlichen, uns ermahnen, wenn wir eines der Bücher aus dem Verkaufsregal nehmen, dem Impuls, es zu besitzen, nicht widerstehen, es mit nach Hause tragen und es dort, im Wohn- oder Arbeitszimmer, mit flinkem Griff in unsere Bücherwand einstellen. Täglich schauen wir nun auf seinen Rücken, nehmen es hin und wieder hervor und wiegen es liebevoll in der Hand. Und vermeiden eines ganz besonders: es aufzuschlagen. Oder, noch schlimmer: es gar zu lesen.

Denn was ist schöner, als ein Buch immer wieder von neuem nicht zu lesen? Was ist vielfältiger als das Mögliche? Das Faktische ist immer nur eins. Ist das, was ist und das, was war. Das Mögliche ist alles andere, ist grenzenlos.

Sie liebt mich, sie liebt mich nicht? So geht das Spiel mit den Blütenblättern. Bevor der Verliebte zupft, ist beides möglich. Bleibt schliesslich nur noch der leere Blütenboden zurück, dann ist es entschieden. Wieviel schöner ist es doch, der Geliebten die Blüte unversehrt zu überreichen, anstatt diese zusammen mit den Möglichkeiten zu zerstören.

Lesen ist Möglichkeitsvernichtung. Mord am Unendlichen. Das Buch – soeben noch die Arche, die uns in fremde Welten schaukelt – schon wird’s zum Sarg. Lesen ist Wissen ist Macht? Nein! Nichtlesen ist Freiheit ist Macht!

Eine Freiheit, die sich im Kelleratelier der beiden Zürcher Künstler Andres Lutz und Anders Guggisberg findet, in einem Regal, vollgestellt mit Taschenbüchern und gebundenen Ausgaben, Lexika, Folianten, Krimireihen, Kunstbänden, Fachbüchern, Ratgebern, Belletristik, Lyrik: «Die Akelei» von Aki Münder, «Leiden an der Schönheit» von Ulrich Leimgruber, «Das erste Kanu» von Roger Milla, «Im Zweistromland» von Abraham Abderhalden, «Der Gulu» von Emil Fant, die «Ritter Unbert»-Reihe, Band I bis XXV von Max Pfeffer, «Das Rottweilerlied» von Pippin von Windisch. Die Zeit vergeht, während wir die Titel überfliegen, da und dort mit den Augen länger hängen bleiben und die Zwille zu spannen beginnen…

Verfallen wir in unserer Versunkenheit dem alten Reflex, anerzogen durch emanzipierte Deutschlehrer oder das bürgerliche Elternhaus, und wollen das Buch aufschlagen, dann… Welch eine Erleichterung: es ist aus Holz, unmöglich, es zu öffnen.

Seit vielen Jahren sägen Lutz & Guggisberg Buch um Buch ihrer Bibliothek aus Sperrholz aus und bekleben eins ums andere mit Titel und Klappentext. Welch ein Paradies! Nie zuvor war es leichter, mit Genuss und Freude nicht zu lesen, als da, wo diese Bücher zu finden sind.

Andres Lutz und Anders Guggisberg arbeiten seit 1996 zusammen. Zur Zeit sind Lutz & Guggisberg auf der Biennale Sharja in den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit einem Schwarm halbverkohlter Holzvögel sowie einem Video, auf dem unter anderem ein Ingenieur in Schutzanzug an den Knöpfen grosser Schalttafeln dreht.

Abbildungen ihrer Werke finden sich auf den Seiten 7, 12, 34, 35, 41, 60, 61 sowie dem Titelblatt und der Innenklappe. (www.lutz-guggisberg.com)

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