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Der überforderte Staat. Eine Replik auf Brendan O’Neill.

Unfrei sind wir alle. Und zwar nicht wegen staatlichem Nudging.

Der überforderte Staat. Eine Replik auf Brendan O’Neill.
Benjamin von Wyl, fotografiert von Diana Pfammatter.

In seinem Artikel «Schauen Sie in den Spiegel!» forderte mich Brendan O’Neill dazu auf, in den Spiegel zu schauen. Nicht im Spiegel, sondern bei John Locke sollte ich lesen können, weshalb Staaten, die für frühkindliche Betreuung eintreten, meine Unfreiheit vergrössern.

Ich habe das bei John Locke nachgelesen. Trotzdem bin ich weiterhin der Meinung, dass sich O’Neill bloss über ein partikuläres Randphänomen unserer Unfreiheit enerviert. Ja, wir sind unfrei. Aber auf ganz anderer Ebene, als man es im Feudalismus war – auf den sich Locke de facto bezieht, denn für Locke gibt es ausserhalb des (kirchlich-)staatlichen Zugriffs gar keine machtausübende Instanz.

Der Staat reguliert Bedürfnisse. Auf vielen Ebenen bestraft er nicht mehr, sondern ist Controller, reguliert uns und unsere Bedürfnisse. Er handelt mit den heutigen Zugriffsmöglichkeiten so wie es Michel Foucault in seinen Vorlesungen zum «Gouvernementalismus» skizziert hat.

Vor zwei Wochen konnte ich auf einer Norwegenreise erleben, was es bedeutet, wenn ein Staat sich vehement gegen das Rauchen stellt. Als ob die Preise für Zigaretten nicht bereits grässlich hoch wären, vergraulen spätestens die «Openair-Fumoirs» jedem Raucher die Sucht bzw. den Genuss. Und auch in der Schweiz gibt es Politiker, die höhere und höhere Zigarettenpreise fordern – wie etwa Bea Heim vergangene Woche.

Natürlich gibt es politische Anliegen, bei welchen ich diese Form des Controllings unterstütze. So würde ich wohl schneller von der Öl- zur Holzschnitzelheizung wechseln, sollte die Initiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» überraschenderweise angenommen werden. Genauso richtig finde ich es, dass ich regelmässig Kehrichtsäcke für horrende Preise kaufen muss, anstatt via Steuern eine Abfallpauschale zu zahlen. Denn so zahle ich nur für den Abfall, den ich tatsächlich verursacht habe. Das ist Güsel-Kostenwahrheit. Für Brendan O’Neill scheinen das Recht auf Rauchen und die Polizeisperrstunde leider eher Marginalien zu sein. Sein Kernproblem ist: «Wir sehen uns heute im Westen mit Regierungen konfrontiert, die ihr Augenmerk von Infrastruktur- und Wirtschaftsfragen hin zu Verhalten, Gedanken und Beziehungen der einzelnen verlagert haben.»

Dem muss ich entgegnen: Wir sehen uns heute – nicht nur – im Westen vor allem mit Marketingmethoden konfrontiert, die ihr Augenmerk von Qualität und Rentabilität (des beworbenen Produkts) hin zur Regulierung von Verhalten, Gedanken und Beziehungen verlagert haben. Und da es nur Marketing geben kann, wo auch ein Produkt beworben wird, sehen wir uns heute folglich mit Konsumangeboten konfrontiert, die unser Verhalten, unsere Gedanken und Beziehungen regulieren, wofür Facebook ein gutes Beispiel ist.

Brendan O’Neill behauptet in seinem Text mehrfach, dass der Staat die Art und Weise bestimmt, wie man Sex haben soll. Ich weiss nicht, auf welches konkrete Beispiel eines Regierungseinfluss er da Bezug nimmt. (Und hoffe schwer, dass er nicht Sexualaufklärung als solche hinterfragt, denn jeder, der erzählt, Menschen seien freier, wenn sie nicht über Verhütung informiert sind, ist grausam zynisch.)

Vielleicht bezieht sich Brendan O’Neill ja darauf, dass Grossbritannien kurz davor steht, verschiedene Arten von Pornografie zu verbieten, unter anderem Urinspiele und Spanking. Natürlich sind Eingriffe in die Art, wie wir unsere Sexualität – digital oder real – ausleben, unerhört. Aber ich verstehe nicht, weshalb diese Verbotskultur eine Eigenart des 21. Jahrhunderts sein soll, denn früher wurde auf viel grundsätzlicher Ebene zensiert und staatliche Instanzen hätten Pornografie nicht nach verschiedenen «Genres» aufgegliedert. Heute ist ein Grossteil der Bevölkerung offen genug, dass jemand Teil der Gesellschaft sein und gleichzeitig sagen kann «Es erregt mich, wenn mich jemand schlägt.»

Der kollektive Tabubruch mit Pornografie erlebte eine erste Blütezeit in den 70er-Jahren, dem «Golden Age of Porn», als einzelne Sexfilme Publikumserfolge feierten. Wirklich an die breite Masse gelangte Pornografie aber erst als die Internetbandbreiten gross genug für Youtube – und damit auch für Youporn – wurden. Der Song «The Internet is for Porn» wurde in zig Variationen Millionen mal auf Youtube angeklickt. Es herrscht da ein gewisser, selbstironischer Konsens.

Pornografieplattformen wie Youporn erwirken aber nicht einfach die Demokratisierung von Voyeurismus und pornografischer Selbstverwirklichung. Damit wird vor allem Geld verdient. Um sich eine feste Konsumentengruppe zu schaffen, konzentrieren sich verschiedene «Filmstudios» auf verschiedene Nischen: Die einen spezialisieren sich auf SM, die anderen auf Sexparodien von Mainstreamfilmen. Eine Eigenheit, wie sich Pornoproduktionsfirmen USPs – Unique Selling Propositions – schaffen können, sind sexuelle Praktiken, zum Beispiel das «Squirting», der weibliche Orgasmus mit spritzendem Ejakulat. Die zur Konsumentenbindung immer weiter getriebene Kreativität in der Entwicklung sexueller Praktiken beeinflusst die sexuellen Präferenzen von hunderten Millionen Menschen weltweit. Und zwar nicht nur die sexuellen Präferenzen der Pornokonsumenten, denn es geht meist nicht lange bis solche Trends – manchmal in reisserischer, manchmal in bigotter Form – im Mainstreamdiskurs landen. Das schafft mitunter Bedürfnisse, wo vorher keine waren.

Die Art wie das Netz – unterstützt durch die allgegenwärtige Verfügbarkeit via Smartphone – unsere Bedürfnisse und unsere Sehnsüchte reguliert und homogenisiert, überflügelt jede Tabaksteuer, jeden  Pflicht-Hundehalterkurs und jede Form des staatlichen Nudgings. Facebook hat sich die Domain «internet.org» gesichert und bietet in Schwellen- und Entwicklungsländern kostenlosen Internetzugang über die gleichnamige App «internet.org». Frei zugänglich ist mit «internet.org» allerdings nicht das gesamte Internet, sondern lediglich Facebook, Wikipedia und die aktuellen Wetterinfos. Das führt mitunter zu komischen Wahrnehmungen: Laut der Süddeutschen Zeitung haben in Indonesien 11 und in Nigeria 9 Prozent der Menschen der Aussage zugestimmt, dass sie in letzter Zeit Facebook, aber nicht das Internet verwendet hätten. Das Internet veränderte unsere Sicht auf uns und die Welt; Facebook schluckt – zumindest in der Wahrnehmung dieser Menschen – das Internet.

Diese Beeinflussungsprozesse – ob im Schlafzimmer oder beim Blick auf das Smartphone – sind so schnell, dass keine Regierungsregulationen damit Schritt halten können. Der Staat betreibt womöglich Gouvernementalismus im Sinne Foucaults, aber die schiere Verfügbarkeit von Medien, Diensten und Produkten ist so dynamisch, dass man den Begriff «Nanny-Staat», der nach Brendan O’Neills Geschmack zu verniedlichend ist, eben doch anwenden kann: Der Staat ist in den von Brendan O’Neill kritisierten Bereichen leider eine überforderte Nanny, die den zucker- und unterhaltungsgeilen ADHS-Bürgern hinterherrennt.

Benjamin von Wyl ist Managing Editor Switzerland der internationalen Zeitschrift VICE.

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