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Sapere aude! Mehr Mut zum streitbaren Diskurs

Wir bewundern Menschen, die viel riskieren. Selber gehen wir Konflikten wenn immer möglich aus dem Weg.

Sapere aude! Mehr Mut zum streitbaren Diskurs
Illustration von Illustrateuse (Christina Baeriswyl), illustrateuse.ch.

In Immanuel Kants berühmter Schrift «Was ist Aufklärung?» spielt der Begriff des Mutes eine zentrale Rolle. Gleich zu Beginn fordert der Philosoph mit dem lateinischen Wahlspruch «Sapere aude!» dazu auf, den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Kant sieht die Ursache für die weit verbreitete Unmündigkeit, also das Unvermögen, selbstständig zu denken, nicht in einem Mangel an Verstand, sondern im fehlenden Mut, sich ohne Anleitung anderer seines Verstandes zu bedienen. Die Menschen sind in seinen Augen aus Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit unmündig.

Zweifellos haben Mut und Heldentaten schon immer Aufmerksamkeit und Anerkennung hervorgerufen, wie antike Epen und Mythen zeigen. Doch in unserer heutigen medien­gesättigten Welt hat sich die Dynamik verändert: Der Mut ist zu einer Währung geworden, mit der in einem nie dagewesenen Ausmass um Aufmerksamkeit und Anerkennung gehandelt wird. Der Mut wird zum Spektakel.

Was Kant einst als inneren Antrieb des Individuums zur ­Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit beschrieb, verkommt oft zu einer performativen Zurschaustellung für die Augen der Öffentlichkeit.

Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Aktivisten und Dissidenten, die unter hohem persönlichem Risiko gegen Unterdrückung und für ihre Überzeugungen eintreten. Sei es die Apostatin, die dem religiösen Fundamentalismus die Stirn ­bietet, oder die iranische Frau, die sich dem autoritären Regime widersetzt – ihr Mut wird in einer Flut von Bildern und Berichten konsumiert, geliket und geteilt. Ihr Kampf wird zu einer Story, einem Hashtag, einem Trend. Es liegt eine gewisse ­Perversion darin, wie wir als Zuschauer den Mut und das Leiden dieser Menschen aus sicherer Distanz konsumieren. Wie der Leser eines Romans von Marquis de Sade, der sich an den Qualen der Protagonisten ergötzt, zelebrieren wir das Spektakel des Mutes.

Flucht in die Konformität

Wir bewundern den Mut dieser Menschen, teilen und liken ihre Geschichten in den sozialen Medien. Doch was sagt das über uns selbst aus? In einer Gesellschaft, in der schon konträre Meinungen beim Weihnachtsessen als Bedrohung empfunden werden, in der sogar enge Freunde aus Angst vor Konflikten kontroversen Themen ausweichen, wirkt der Mut politischer Aktivisten und Dissidenten wie aus einer anderen Welt. Während sie bereit sind, für ihre Überzeugungen alles zu riskieren, scheuen wir schon den Disput im Privaten.

Unsere Bewunderung für ihren Mut ist auch ein Eingeständnis unserer eigenen Ängstlichkeit und Bequemlichkeit. Wir ­delegieren das Einstehen für Werte und Prinzipien an jene, die dafür ihre Existenz aufs Spiel setzen, während wir im Alltag vor dem Konflikt flüchten und uns der Konformität ergeben. Mut im Sinne Kants bedeutet jedoch, die eigene Meinung zu artikulieren, auch wenn sie unbequem ist und auf Widerspruch stösst.

Diese Fragilität unserer Gesellschaft zeigt sich besonders deutlich in der Debattenkultur, die zunehmend von der «Be Kind»-Fraktion, die überall nur noch «Mikroaggressionen» und böse Unterdrücker sieht, vergiftet wird. Diese angeblich für ­Unterdrückung und Rassismus hochsensibilisierte Truppe ist im Kern feige und regressiv. Sie erstickt jede authentische Auseinandersetzung im Keim, indem sie in Kontroversen sofort die Empörungskarte spielt und auf die Gefühle der vermeintlich Schwachen verweist.

Eine freie Gesellschaft braucht den Mut zu toxischen Autoren, Journalisten und Intellektuellen. Sie braucht Menschen, die bereit sind, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, heilige Kühe zu schlachten und etablierte Denkweisen herauszufordern. Stattdessen kultivieren wir eine Kultur der Empfindlichkeit, in der jedes Wort, jeder Gedanke auf die Goldwaage gelegt wird.

Der Mut der anderen – der Mut der unbequemen Geister – ist daher nicht nur ein Spiegel unserer eigenen Angst und Selbstzufriedenheit. Er ist auch ein Aufruf an uns selbst, mutiger zu werden. Mutiger im Denken, mutiger im Debattieren, mutiger im Einstehen für eine offene Gesellschaft. Ganz im Sinne Kants: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

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