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Der radikale King
Jonathan Eig: Martin Luther King: Ein Leben. München: DVA, 2024.

Der radikale King

Martin Luther Kings politisches Programm stand im Widerspruch zu seinem Ruf als Gemässigter, wie eine neue Biografie zeigt. In seinen Zielen war der amerikanische Bürgerrechtsheld stets Universalist.

Read the English version here.

George Orwell eröffnete seinen Essay «Reflexionen über Gandhi» aus dem Jahr 1949 mit einer typisch fesselnden Erklärung: «Heilige sollten immer für schuldig befunden werden, bis ihre Unschuld bewiesen ist.» Dieser Satz kam mir in den Sinn, als ich zum ersten Mal Jonathan Eigs grossartige neue Biografie «Martin Luther King: Ein Leben» in die Hand nahm.

Die Bilder, die wir am häufigsten mit King verbinden – wie das ikonische Foto von ihm auf den Stufen des Lincoln Memorials, nachdem er seine «I Have a Dream»-Rede gehalten hat –, lassen ihn eher als Symbol denn als Menschen erscheinen. Doch King lebte gewiss kein schuldloses Leben, und Eig warnt die Leser gleich zu Beginn, dass das Buch keine Hagiografie sei. Er schreibt über Kings Untreue, Frauenfeindlichkeit, seine ­Plagiate. Er berichtet von einigen der seltenen Momente, in ­denen er die Beherrschung verlor. Wir sehen, wie oft seine ­Familie hinter seiner Arbeit zurückstand.

Mit seiner Aussage wollte Orwell verdeutlichen, dass der Ruf von Heiligen oft beschönigt oder erfunden wird. Doch Kings einzigartige moralische Stärke, seine Geduld und Grosszügigkeit im Angesicht ungeheurer Grausamkeiten sowie sein aussergewöhnlicher Mut sind solide belegt – und werden in Eigs Buch ausführlich beschrieben. Im Gegensatz zu Befürwortern von Black Power und Separatismus wie Malcolm X strebte King immer die Einheit der «Rassen» und nicht deren Spaltung an. Selbst während der terroristischen Bombenangriffe auf die schwarzen Einwohner von Birmingham und Montgomery verkündete King eine Botschaft von Hoffnung und Liebe. Nach ­einem Bombenanschlag auf sein eigenes Haus rief King zu Ruhe und Solidarität anstelle von Rache auf.

Der «gefährlichste Neger»

Aber dies sind die bekannten Aspekte von Kings Leben, und Eig möchte, dass die Leser auch «den komplizierten King, den ­fehlerhaften King, den menschlichen King, den radikalen King» sehen. Weil King oft mit Figuren wie Malcolm X verglichen wird, ist die Annahme weit verbreitet, dass er ein Gemässigter gewesen sei. Das ist zum Teil der Grund, weshalb er überhaupt ein Kandidat für die weltliche Heiligkeit war. Die Ansicht, dass er eine unpolitische Figur gewesen sei, hat es vielen politischen Gruppierungen ermöglicht, sich sein Erbe anzueignen. Das ist jedoch eine Fehlinterpretation von Kings grundlegender Botschaft und eine Ungerechtigkeit gegenüber der Geschichte.

King war zu seiner Zeit äusserst umstritten, was durch seine heutige Heiligsprechung verdeckt wird. FBI-Direktor J. Edgar Hoover führte eine obsessive Kampagne, um Kings Ruf zu zerstören und seine Beziehung zu Präsident Lyndon B. Johnson zu sabotieren. Der stellvertretende FBI-Direktor William Sullivan bezeichnete King als den «gefährlichsten Neger» des Landes. Unzählige Gouverneure, Bürgermeister, Sheriffs und Leitartikler hielten King für einen rücksichtslosen Agitator und Aufmerksamkeitssucher.

Nach Erfolgen wie dem Montgomery-Busboykott (der die Weichen für die vollständige legale Integration in den Vereinigten Staaten stellte) ging Kings politisches Projekt weit über die Rassengerechtigkeit im Süden hinaus. In einem Interview forderte King 1967 einen «Umbau der gesamten Gesellschaft» und eine «Werte-Revolution». Seiner Meinung nach könnte dies ­einen «Multimilliarden-Dollar-Marshallplan» für die Wieder­belebung der Städte und ein bedingungsloses Grundein­kommen bedeuten. Dies waren, damals noch mehr als heute, radikale Ideen und Rezepte.

Als King versuchte, die Kampagne für Rassengerechtigkeit zu einer grösseren Bewegung für wirtschaftliche Gleichheit auszuweiten, dachten viele frühere Unterstützer, er sei zu weit gegangen. Selbst einige von Kings engsten Verbündeten waren mit seinen neuen Anliegen nicht einverstanden – insbesondere mit seiner Entscheidung, den Vietnamkrieg abzulehnen. King sprach sich zu einem Zeitpunkt gegen den Krieg aus, als nur 19 Prozent der Amerikaner den Kriegsaustritt befürworteten. So verlor er die Unterstützung von Redaktoren, Liberalen aus dem Norden und mächtigen politischen Verbündeten.

Während King sich bemühte, eine rassenübergreifende politische Koalition aufzubauen, wurde er zunehmend von einem Grossteil der weissen Amerikaner desillusioniert. Er betonte die faktische Segregation gegenüber der rechtlichen Segregation an Orten wie Chicago, wo Schwarze standardmässig in arme Viertel und schlechte Schulen abgeschoben wurden. Viele Liberale, die sich gegen eine ausdrückliche Rassentrennung aussprachen, waren mit dieser Teilung eher zufrieden.

Eine Reform der Demokratie

Nichts von alledem sollte den grundlegenden Universalismus von Kings Botschaft verschleiern. 1965 sagte King: «Ich fühle, dass ich die Aufgabe annehmen muss, dazu beizutragen, dass diese Nation und diese Welt ein besserer Ort zum Leben wird – für alle Menschen, egal ob schwarz oder weiss.» Seine Aufforderung, andere nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe zu beurteilen, bleibt ein zentrales Element seines Vermächtnisses.

King war kein Inkrementalist, wohl aber ein Institutionalist. Trotz seinem Radikalismus erinnert uns Eig daran, dass er immer danach strebte, «die amerikanische Demokratie zu reformieren, nicht sie zu stürzen». Wie King es ausdrückte: «Wir wissen, dass wir innerhalb des Rahmens unserer Demokratie arbeiten können, um ein besseres Morgen herbeizu­führen.» Obwohl King von vielen weissen Amerikanern desillusioniert war, gab er sich nie einem rassistischen Essentialismus hin. Er drückte seine Dankbarkeit dafür aus, dass «einige unserer weissen Brüder im Süden die Bedeutung dieser sozialen ­Revolution begriffen und sich ihr verpflichtet haben».

Was bedeutet es, den «radikalen King» heute wiederzuentdecken? Erstens bedeutet es, anzuerkennen, dass die Ungleichheit der Rassen immer noch allgegenwärtig und institutionell ist – insbesondere in einem Land wie den Vereinigten Staaten, in dem Jim Crow eine lebendige Erinnerung ist und die Sklaverei die sozialen und wirtschaftlichen Konturen dauerhaft ­geprägt hat. King würde zweifellos die bemerkenswerten Fortschritte begrüssen, die Amerika auf dem Weg zur Rassengleichheit gemacht hat, aber er wäre entsetzt über die massiven Ungleichheiten, die immer noch bestehen: das enorme Wohlstandsgefälle, die höhere Inhaftierungsrate und das niedrigere Bildungsniveau schwarzer Amerikaner, das Fortbestehen der faktischen Rassentrennung in vielen amerikanischen Städten.

Zweitens sollte Eigs Darstellung von Kings radikalem Leben uns dazu bringen, einige unserer liebsten Annahmen über ihn zu überdenken. Ich habe King immer als die überragende moralische Autorität für meine Ablehnung der Identitätspolitik angeführt, aber heute bin ich mir nicht mehr so sicher. War es «Identitätspolitik», wenn die Southern Christian Leadership Conference auf schwarzen Führungsfiguren beharrte? King befürwortete Programme, die heute oft als identitär und rassistisch abgetan werden, etwa Reparationszahlungen. Was würde er zu der jüngsten Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA sagen, mit der die Affirmative Action gekippt wurde?

Humanismus, nicht Tribalismus

Der entscheidende Unterschied besteht darin, auf welche Ziele wir letztlich hinarbeiten. Als King sagte, er wolle, dass seine Kinder in einer Welt lebten, in der ihre Hautfarbe keine Rolle mehr spiele, freute er sich auf den Tag, an dem der Humanismus alle Formen des rassischen Stammesdenkens ersetzt. Aber ­jeder, der dieses Ziel teilt, muss anerkennen, dass der Rassismus über Hunderte von Jahren in die Struktur der amerikanischen Gesellschaft eingewoben war und dass seine Hinterlassenschaften überall um uns herum zu finden sind.

King war der grosse Universalist der Bürgerrechtsbewegung. Er weitete seinen Aktivismus auf Krieg und Armut aus, weil ihm die mensch­liche Würde und Gleichheit am Herzen lag – von armen Amerikanern aller Rassen bis hin zu vietnamesischen Zivilisten unter amerikanischem Bombardement. In seiner letzten Rede vor seiner Ermordung rief King zu einer «Menschenrechtsrevolution» auf. Wie Eig schreibt, lag Kings Genialität in seiner «Fähigkeit, Botschaften zu vermitteln, die Schwarze und Weisse gleichermassen inspirierten, Botschaften, die die Gerechtigkeit bezüglich der Rassen als ein Gebot für alle erscheinen liessen». King wollte letztlich, dass die amerikanische Gesellschaft die Rassenfrage überwindet, aber er erkannte, dass noch viel Arbeit nötig sein würde, um seinen Traum zu verwirklichen. Das ist auch heute noch so.

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